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Titelgeschichte

Mitten im Stein gewordenen Tumult

Während einer Tour zu den Engelhörnern gibt es seltsame Geschichten zu hören: Wie ein riesiger Felsklotz neben ein Kopfkissen fiel, bis wohin sich Reiche in Sänften tragen liessen, und warum es ein Fenster mitten im Fels gibt.

Die Engelhörner sind Teil des Weltnaturerbes. Damit sind sie gleichwertig mit dem Yellowstone-Nationalpark (USA). Die Hörner sind hingegen ohne weite Reise zu sehen: Sie stehen im Berner Oberland. Bild: Raphael Schmid

Text: Lotti Teuscher
Bilder: Raphael Schmid

Es ist früher Morgen im Rosenlaui. Noch erreicht kein Sonnenstrahl den Talboden, die Tannenwälder wirken fast schwarz. Über der düsteren Bergflanke züngeln goldene Flammen gegen einen Himmel, der langsam sein Nachtblau verliert. Die Engelhörner! Dieses Bild habe ich nach vielen Jahren noch vor Augen. Ein Sehnsuchtsort aus Fels im Morgenlicht. Wild, wunderschön – und furchteinflössend in seiner Ruppigkeit.

Jahre später. Unsere Wanderung beginnt mit einem veritablen Donnerschlag. In der engen, dunklen Rosenlauischlucht tosen gewaltige Wassermassen. So laut, dass das Donnern jedes andere Geräusch dominiert. Während Jahrtausenden hat sich das Wasser des Rosenlauigletschers tief in den Fels eingegraben, Wände geschliffen, Grotten in den Stein gebohrt, dem Fels Kurve um Kurve abgetrotzt. Gischt stiebt weiss über Felsstufen, jadegrünes Wasser wirbelt in Gletschertöpfen, zwängt sich durch Engpässe, bis das Gletscherwasser im Rosenlaui vom Fels freigegeben wird und es zahm zu den Reichenbachfällen oberhalb von Meiringen fliesst.

Die bizarr geformte Schlucht fasziniert die Menschen seit vielen Jahren. Bis Ende des 19. Jahrhunderts führte eine rutschige Treppe in die Schlucht, von der aus waghalsige Reisende einen Blick auf das tobende Gletscherwasser erhaschten. 1901 kaufte ein Meiringer das Rosenlaui und erschloss einen Teil der Schlucht mit einem Steg. Zur Eröffnung im Jahr 1903 kamen 38 Gäste; heute gehen jedes Jahr Tausende über den 530 Meter langen Schluchtensteg.

Nach der Gletscherschlucht führt unser Pfad stetig bergauf. Der Wald wird lichter, gibt den Blick frei auf den Rosenlauigletscher – und auf die Engelhörner. Es geht über geschliffene Steine, die die ursprüngliche Grösse des Gletschers erahnen lassen, durch ausgetretene Geröllfelder – das Gelände wird alpiner, ausgesetzter, die Föhren kleiner, knorriger. Schliesslich erreichen wir einen alten Moränenkamm, der sich in einem Halbkreis zur Engelhornhütte schwingt, die sich dicht an den Fels schmiegt.

38 Jahre als Hüttenwart

So nah war ich den Engelhörnern noch nie; diesem Hufeisen aus gewaltigen Zacken, bedrohlich, faszinierend. Oder wie der Reiseschriftsteller Johann Georg Kohl die vier Kilometer lange Felsarena einst beschrieb: «Die Engelhörner sind ein zu Fels gewordener Tumult.»

Hans-Christian Leiggener, Geschäftsführer des Unesco-Weltnaturerbes Jungfrau-Aletsch befindet sich hier quasi an seinem Arbeitsort, dem Welterbe. Er bestellt in der Engelhornhütte Kaffee und Apfelkuchen. Heute wird er begleitet von seinem Vize Raphael Schmid. Zusammen bieten die beiden dem Unesco-Welterbe einen beachtlichen Bonus: Der Bürener Leiggener ist Bergführer, der Walliser Schmid passionierter Bergfotograf, der jetzt ein Buch veröffentlicht hat (siehe Zweittext). Die zwei sind das perfekte Team – nicht nur im Gebirge. Sondern auch bei ihrer Zusammenarbeit für ihre gemeinsame Leidenschaft, die auch während der Tour Thema ist: das Weltnaturerbe.

Hüttenwart Bruno Scheller bewirtete während des Coronasommers so viele Gäste wie noch nie, seit es die Gebirgsherberge des akademischen Alpenclubs Bern gibt. Scheller weiss dies aus Erfahrung, denn er betreut die Engelhornhütte seit ganzen 38 Jahren. Auch wenn sich Scheller diesbezüglich wortkarg gibt, an seinen Holztischen haben schon manche Prominente Rösti gegessen. Stammgast ist zum Beispiel Benedikt Weibel, ehemaliger Chef der SBB.

Um 6 Uhr kracht es

Noch zwei Jahre will Bruno Scheller die Hütte bewarten; dann wird er als 80-Jähriger Abschied nehmen. Was nicht einfach sei: «Die Hütte ist eine Heimat geworden.» Es sei schwierig, etwas zu verlassen, das einem gefalle.

Dass der fitte 78-Jährige noch lebt, ist wohl dem Schutz der Engel in den Hörnern zu verdanken: Es war im Jahr 2006, als es um 6 Uhr morgens krachte. Ein 200 Kilogramm schwerer Felsklotz hatte das Dach der Engelhornhütte durchschlagen und war direkt neben dem lindgrünen Kopfkissen des schlafenden Hüttenwarts gelandet. Was Bruno Scheller trocken kommentiert: «I bi scho grad e chli gschockt gsi.»

Apropos Engelhörner: Wie sind sie zu ihrem Namen gekommen? Hören wir noch einmal Schriftsteller Johann Georg Kohl zu: «Die Engelhörner sollen ihre Namen daher haben, dass man in der Gestalt ihrer höchsten Spitzen eine gewisse Ähnlichkeit mit Engelsflügeln entdeckt hat. Sie sehen nämlich ungefähr so aus, als wenn eine Menge Engel sich in den Boden verkrochen und dabei ihre Flügel abgestreift und draussen hätten versteinern lassen.» Item. Hans-Christian Leiggener drängt zum Aufbruch, denn er hat mir ein «Zückerchen» versprochen. Ich soll tatsächlich einen Engelsfügel berühren! Den Chly Simeli-stock; ein Engelchen, ein Hörnchen. Ein doppeltes Diminutiv, das zu meinen Kletterkünsten passt: Sie sind mit den Jahren genauso erodiert wie die Felsen um uns herum.

Wir wandern und – oha!

Getrennt von der Hütte durch einen kurzen, steilen Hang, liegt nun das Oval des Ochsentals vor uns, umrahmt von den Engelszacken, die immer imposanter wirken, je näher wir ihnen kommen. Das Ochsental ist eine abgeschiedene Welt aus Geröll, Felsen und kargen Wiesenflecken, auf denen ein paar Schafe gesömmert werden.

Dann verlassen wir das Hochtal, steigen auf in Richtung Engelhörner und – oha! Wir befinden uns in schorfigem Absturzgelände, das auf der Wanderskala mit der zweithöchsten Stufe T5 bewertet ist: Anspruchsvolles Alpinwandern; gute Alpinerfahrung im hochalpinen Gelände und absolute Trittsicherheit werden vorausgesetzt.

Eigenschaften, die mir samt und sonders abgehen. Deshalb werde ich vom Bergführer an die Leine – ähm, ans kurze Seil genommen. Hans-Christian Leiggener findet traumwandlerisch den idealen Weg durch das abschüssige Chaos aus Felsstufen, Geröll und kurzem Gras zum Sattel vor dem Chly Simelistock.

Herren und Untertanen

Angekommen blicken wir durch ein Fenster auf die andere Seite der Engelhörner; auf Geröll, gesäumt von steilen Wiesen, darunter Fichten. Ein Fenster? Die Engelhörner wurden wegen ihrer exemplarischen Schönheit ins Weltnaturerbe aufgenommen, oder wie Hans-Christian Leiggener sagt: «Dank ihrer aussergewöhnlichen Ästhetik bilden die Hörner einen universellen Wert, den es zu erhalten gibt.» Hier wird nie eine Seilbahn gebaut, egal wie spektakulär die Aussicht wäre – und auch kein Fenster.

Das Fenster hat die Erosion geschaffen. Es ist ein Karstloch von fast drei Metern Durchmesser. Wir befinden uns hier mitten in einem Karstgebiet. Wasser hat im Kalkstein Rillen, Rinnen, Löcher und Wannen geformt. Hitze, Kälte und Eis haben die Felsen aufgebrochen, zu Platten, Zacken und Spalten erodiert. Kreidekalk in Grau-, Ocker- und Gelbtönen, mal geordnet, mal ein Irrgarten.

Hans-Christian Leiggener erzählt, wie sich im 19. Jahrhundert reiche Leute mit Sänften von Meiringen ins Hotel Rosenlaui und danach zum Sattel vor dem Chly Simeli hochtragen liessen. Vor unseren inneren Augen entsteht ein hässliches Bild: Hier reiche Herrschaften, die sich, ohne einen Schweisstropfen zu vergiessen, durch unwegsames Gelände von zwei ächzenden Trägern hochschleppen liessen. Dort arme Bergbauern, zugleich Bergführer, die sich Rücken und Gelenke ruinierten. Den Herrschaften war das egal – sie hatten ja für die Sänfte bezahlt.

Vom Simeli zum Gragistein

Endlich kann ich meine Hände auf den Fels eines Engelhorns legen. Schuppen, Platten, Spalten; ein Tumult aus Fels zieht im Schneckentempo vorbei. Drücken, Ziehen, Stemmen; ursprüngliche Bewegungen, die Glücksgefühle wecken. Das Sichern und Suchen der Route im steinernen Chaos übernimmt der Bergführer, seine Gelassenheit überträgt sich auf die Nachsteiger.

120 Meter geht es hoch, dann setzen wir uns auf den Grat. Um uns herum der Halbkreis der Felsarena wie eine gezackte Krone, dahinter die weisse Blüemlisalp, die Grosse Scheidegg. Unten das Rosenlaui mit seinen Wäldern, Wiesen und dem Bergahorn; eine Rarität im Oberland. Zusammen mit dem Trompetenmoos bildet der Bergahorn eine Symbiose: Das seltene und streng geschützte Moos wächst ausschliesslich auf den Ästen alter Bergahorne. Der Blick fliegt weiter zum Hochmoor Chaltenbrunnen, 1870 Meter über Meer. Es ist das höchstgelegene Moor Europas. «Eine bemerkenswerte Biodiversität», bemerkt Hans-Christian Leiggener.

Erst als wir wieder unten sind bei der Engelhornhütte, melden Durst und Hunger, dass ich auf dem Chly Simeli vor Begeisterung vergessen habe, mein Picknick auszupacken.

Zeit, dem Gstellihorn, dem Urbachs-engelhorn, der Hohjegiburg und dem Chly Simelistock den Rücken zuzukehren. Und weitere Felsen mit urchigen Berner Namen beim Abwärtsgehen Tschau zu sagen: Dem Gemsistein mit Bänkli davor und dem grossen Gragi-stein, über dessen Namen wir rätseln bis wir in Kaltenbrunnen ankommen.

Johann Georg Kohl, Schriftsteller

Link: www.bergsteigerschule-
rosenlaui.ch 
www.hasliguides.ch

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 Buch zum Unesco-Welterbe

Ganze 824 Quadratkilometer umfasst das Unesco-Welterbe Jungfrau-Aletsch. Der höchste Punkt befindet sich mit 4273 Meter über Meer auf dem Finster-aarhorn, der tiefste mit 808 Meter im Lauterbrunnental. Davon sind 88 Prozent vegetationsfreie Fläche.

Mit der Aufnahme ins Weltnaturerbe befindet sich die Region in den Kantonen Bern und Wallis auf einer Stufe mit aussergewöhnlichen Naturstätten wie dem Yellowstone-Nationalpark (USA), den Galapagos-Inseln oder dem Great Barrier Reef (Australien).

Aufgenommen in das Unesco-Welterbe wurde die Region Jungfrau-Aletsch aus drei Gründen: Die eindrückliche Landschaft spielt eine wichtige Rolle in der europäischen Literatur, Kunst, im Alpinismus und im Tourismus. Zweitens ist die Region ein eindrückliches Beispiel für die alpine Gebirgsbildung sowie die vielfältigen geologischen Formen. Das am stärksten vergletscherte Gebiet der Alpen ist von grossem wissenschaftlichem Interesse. Drittens bietet die Region ein weites Spektrum an alpinen und subalpinen Habitaten für Flora und Fauna.

Fotograf und Vize-Geschäftsführer der Stiftung Unesco-Welterbe Swiss Alps Jungfrau-Aletsch, Raphael Schmid, zeigt im neu erschienen Bildband «Seele des Weltkulturerbes» die poetischsten und eindrücklichsten Orte des Welterbes. Er lädt mit 203 betörend schönen Bildern die Leserinnen und Leser zu einer Reise ein zu den Bergen, Gletschern, Felsformationen, den Menschen, Pflanzen und Tieren, aber auch zu kleinen Raritäten am Wegesrand. Bei allen Landschaftsbildern gibt Schmid den Standort des Fotografierens an. Wer die gleiche Aussicht geniessen möchte, kann diese Orte finden.

Ergänzt wird das Buch mit Texten des Journalisten Luzius Theiler, die die Region aus wissenschaftlicher und kultureller Sicht beleuchten, ergänzt mit Themen wie Fauna, Flora, Welterbe und Klimawandel. LT

Info: 49 Franken, ISBN 978-3-03818-284-9

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Tipps zur Tour

  • Rosenlauischlucht: Eintritt Erwachsene 8, Kinder 4 Franken.
  • Wanderung Schlucht, Engelhornhütte, Kaltenbrunnen:
  • Dauer: 4 Stunden.
  • Höhenmeter: rund 670 Meter hinauf und hinunter.
  • Schwierigkeit: T3 (Trittsicherheit!)
  • Abstecher ab Engelhornhütte ins Ochsental: 1 Stunde. Unbedingt unten im Kessel bleiben, die Hänge bilden anspruchsvolles Gelände.
  • Klettern Chly Simeli, Schwierigkeit: meist im dritten Schwierigkeitsgrad (einfach), kurze Strecken 4A.
  • Voraussetzungen: Sportliche, schwindelfreie Bergwanderer, Kletterkenntnisse sind von Vorteil. Da die Route schwierig zu finden ist (kaum Bohrhaken, Selbstsicherung notwendig), gilt auch für im Gelände ungeübte Kletterer: unbedingt mit Bergführer gehen. LT
Stichwörter: Engelhörnern, Berge, Natur

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