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Nagellack ist Autolack

Mine Tante ist eine Self-made-Woman. Früh geschieden, die Kinder noch klein.

Sabine Kronenberg

Sabine Kronen

Mit dem Stempel «die Geschiedene» musste sie sich damals einen eigenen Weg suchen, sich und die Kinder durchzubringen. Zumal der Verflossene es vorzog, eine Höhle in Griechenland zu bewohnen und Bärlauch-Müesli zu essen. Auch er war auf eigenen Wegen unterwegs.

Ich erinnere mich an eine Situation, als sie arbeitete und ich neben ihr war. Es ist eine neblige Erinnerung, sie tippte etwas auf einer (aus heutiger Perspektive vorsintflutlichen, damals aber sicher topmodernen) Schreibmaschine. Ich durfte etwas in den Schubladen in ihrem Pult nuschen und bewunderte ihre todschicken, rot lackierten Nägel.

Ich war von meiner Tante stets beeindruckt. Sie hat etwas Eigenständiges, das ich sonst von Frauen so nicht kannte. Manchmal kam sie deswegen nicht gut an, oft brachte aber genau das sie auf – eben – dem eigenen Weg voran. Sie ist bis heute eine Frau, die ihr Ding macht. Zum Schluss ihres zu Beginn harzigen Berufswegs war sie Teil der Geschäftsleitung eines Gefängnisses. Seit dem Ruhestand ist sie mit einem riesigen Camper europaweit allein unterwegs. Cool!

Jahrelang habe ich mich nie recht getraut, meine Nägel rot zu lackieren. Ich habe kleine Hände, könnte man nett sagen. Und un-nett könnte es auch heissen: Ich habe knorrlige Hobbit-Händchen. Eigentlich hab ich sie immer gemocht, meine Nicht-0815-Hände. Aber dann kommt einem halt lange (bei mir sogar jahrelang) das gängige Schönheitsideal in die Quere. Irgendwann habe ich dann damit angefangen, meine Nägel zu lackieren und diese nagelkleine Hommage an meine Tante richtig genossen, jedes Mal. Bis heute.

Dabei ist Nagellack im Grunde was Grusliges. Nagellack kam in den 20er-Jahren auf, man übernahm die Mischung von Pigmenten in Klarlack, wie sie auch in der Autoindustrie entwickelt worden war. Ja, Nagellack ist Autolack. Selbst der Primer vor den ersten Lackschichten ist dieselbe Grundlage, die man auch auf Metall gibt. Die Inhaltsstoffe sind aggressive, petrochemische Lösungsmittel und Methylacetate, Ethylacetate, Propyl- und Butylacetate sowie verschiedene Alkohole. Brrr. Die Kosmetikindustrie macht darum natürlich ein grosses Geheimnis. Nagellack wird marketingmässig mit Gesundheit und Schönheit verbunden. Er «stärkt» die Nägel, «vollendet» die sonst unvollständige Frau.

Oder im Jahr 2021, auf dem Stadtspaziergang, laufe ich durch eine Strasse, in der sich zwei Nagelstudios gegenüberliegen. Das eine heisst Americanstyle. Das andere Studio Paradise. Hui, bin ich froh, montiere ich mir den Autolack auf meine Nägel kostengünstig zuhause und muss mir nicht zwielichtige Theorien darüber anhören, dass es in Amerika chemischer zu und her geht als im Paradies (naturbelassen, total biologisch, da lachen ja die Hühner). Oder umgekehrt – je nachdem, bei welcher Madame man sich den Finger behandeln lässt.

Hm. Das Chemisch-Autoindustrielle will nicht so recht zur Feingeistigkeit einer Hommage passen. Etwas unromantisch für die Tante. Na, wenigstens passt es zu uns. Und wer’s gerne tatsächlich etwas naturbelassener haben möchte, kann sich inzwischen auch Nagellack auf Wasserbasis ohne Petrochemie im Reformhaus kaufen. Sophisticated!

Stichwörter: Neulich, Self-made-Woman

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