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Kafipause

Nicht irre, dafür ein Asi

Es war im letzten April, da schrieb ich in meiner Kolumne, dass ich nun auch so ein Irrer sein wolle.

Parzival Meister
  • Dossier

Gemeint waren die Menschen, die mit diesen kleinen Stöpseln im Ohr telefonieren und dabei aussehen, als würden sie Selbstgespräche führen. Ich habe mich an meine Verwandten gerichtet und gesagt, sie sollen mir doch bitte solche Airpods zu Weihnachten schenken. Nun, liebe Verwandtschaft: Ihr müsst euch ein anderes Weihnachtsgeschenk für mich überlegen. Denn, und das ist echt passiert: Apple hat sich bei mir gemeldet. Die meinten, sie hätten meine Kolumne gelesen und ich müsse nicht bis Weihnachten warten, sondern, wenn ich wolle, würden sie mir die Airpods ein Jahr lang zum Testen zur Verfügung stellen.

Und, bin ich nun zu einem solchen
Irren geworden? Nein, ich kann mich auch nach sechs Monaten mit diesen
kabellosen Kopfhörerchen nicht dazu durchringen, unter Leuten damit zu telefonieren, ohne das Smartphone in die Hand zu nehmen. Ich nehme immer extra das Telefon aus der Hosentasche und halte es gut sichtbar in die Nähe meines Mundes, einfach nur, damit die Menschen um mich herum sehen, dass ich telefoniere und nicht mit irgend einer imaginären Gestalt ein Gespräch führe.

Diese Airpods haben mich also nicht zu einem Irren gemacht. Mein Umfeld würde wohl sagen: Er ist derselbe geblieben, trotz diesen Dingern. Nun, liebe Mitmenschen, dieser Eindruck täuscht. Denn in Tat und Wahrheit hat mich dieser Fortschritt der Technik zu einem Asi gemacht. Ich bewege mich zwar nach wie vor mitten in der Gesellschaft. 
Meine physische Präsenz bedeutet aber nicht, dass ich wirklich da bin. Dieser kleine Knopf in meinem Ohr ermöglicht es mir nämlich, meine Gedanken von der Aussenwelt abzuschotten. Ein Knopfdruck reicht, und ich klinke mich in einen Podcast ein und folge einem Gespräch, das gar nicht um mich herum passiert.

So laufe ich dann der Strasse entlang, lächle, weil in meinem Ohr gerade etwas Lustiges gesagt wurde. Die Menschen, die mich kreuzen, denken, ich würde
ihnen ein Lächeln schenken, dabei nehme ich sie nicht einmal richtig wahr. Hinzu kommt, dass die Menschen um mich herum gar nicht wissen können,
ob sie es gerade mit mir als komplettes Wesen zu tun haben, oder nur meiner Hülle gegenüber stehen. Denn ich habe diesen Knopf auch im Ohr, wenn gerade nichts läuft. Das heisst, ich kann mit diesem Ohrstöpsel meinem Gegenüber zuhören oder nur so tun, als ob. Ich kann einer Podcast-Diskussion lauschen und meinem Gegenüber durch den konzentrierten Gesichtsausdruck glaubhaft das Gefühl vermitteln, dass mich seine Erzählungen wirklich interessieren.

Ob mir die Aussenwelt das wirklich abnimmt, ist zumindest fraglich. Wahrscheinlich wirke ich auf die Menschen um mich herum eher wie meine Grossmutter an früheren Familienfeiern. Die gute Frau hörte im Alter nicht mehr richtig, behauptete aber steif und fest, sie brauche sicher kein Hörgerät. Wenn man mit ihr sprach, sah sie einen an,
lächelte und nickte … wie ich also, aber mit Gerät im Ohr.

Stichwörter: Kafipause, AirPods

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