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Arbeitsrecht

Oft müssen Eltern sich krankschreiben lassen

Wenn Kinder oder andere Familienangehörige schwer erkranken, stehen Arbeitnehmende vor einem Problem. Laut Gesetz dürfen sie zeitweise der Arbeit fernbleiben und haben auch Anspruch auf Lohn. In der Praxis sieht es aber meist anders aus.

Die Präsenz der Eltern ist für die Genesung zentral. Bild: Getty Images

Andrea Fischer

Microsoft und Google machen es vor. Die beiden US-Konzerne gewähren ihren Angestellten in der Schweiz einen Pflegeurlaub. Mitarbeitende, die schwer kranke Angehörige betreuen, können bis zu vier Wochen freinehmen und bekommen in dieser Zeit ihren Lohn.

Damit sind die beiden Unternehmen Pioniere in der Schweizer Wirtschaft. Ihr Angebot ist freiwillig, denn Betriebe sind nur unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet, ihren Mitarbeitenden einen bezahlten Betreuungsurlaub zu gewähren. Was heisst das für Arbeitnehmende, die sich neben ihrem Job um pflegebedürftige Angehörige kümmern?

Eine klare gesetzliche Bestimmung gibt es einzig für Arbeitnehmende mit kranken Kindern. Sie dürfen kurzfristig bis zu drei Tage freinehmen, um ihren Nachwuchs zu pflegen. Ist das Kind länger krank, müssen die Eltern eine Ersatzbetreuung organisieren. Ziel ist, dass sie als Arbeitnehmende möglichst schnell wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.

Solange es sich um übliche Krankheiten handelt, mögen drei Tage genügen. Sobald ein Kind schwer erkrankt oder gar hospitalisiert werden muss, reichen sie nicht. Auch lässt sich die Betreuung in solchen Fällen nicht einfach delegieren. Was dann?

Vor dieser Frage stand Claudia Meier*, als vor gut einem Jahr ihre damals fünfjährige Tochter an Krebs erkrankte. Mehrere Male musste das Mädchen für längere Zeit ins Spital und danach zu Hause intensiv betreut werden. Für Meier war klar, dass sie möglichst oft bei ihrem Kind sein wollte, auch weil erwiesen ist, dass die Präsenz eines Elternteils für die Genesung zentral ist. Als Personalverantwortliche eines mittelgrossen Unternehmens wusste sie, dass ihre Ansprüche begrenzt sind. Schliesslich einigte sich Claudia Meier mit ihrem Chef, sich selber für längere Zeit krankschreiben zu lassen.

 

Betreuung als Rechtspflicht
Sich selber krankschreiben lassen, um ein schwer krankes Kind zu betreuen, ist eine mögliche Variante. Es ist gleichzeitig die einfachste und die sicherste: Sie garantiert, dass man in dieser Zeit weiterhin den Lohn bekommt.

Was viele nicht wissen: Einen Anspruch auf Lohnfortzahlung haben Ar-beitnehmende nicht nur, wenn sie wegen eigener Erkrankung oder Unfall ausfallen, sondern auch, wenn sie aus anderen Gründen nicht arbeiten können. Etwa weil sie gesetzliche Pflichten erfüllen müssen. Zu den gesetzlichen Pflichten zähle etwa, dass Väter und Mütter ihre kranken Kinder betreuten, sagt die St. Galler Rechtsanwältin Angela Hensch. «Können Eltern diese Aufgabe nicht delegieren, müssen sie sie selber übernehmen.» Während dieser Zeit sei dem betreuenden Elternteil die Arbeit nicht zumutbar. Anders gesagt: Die Eltern dürfen freinehmen.

Anspruch auf den Lohn hätten Arbeitnehmende allerdings nur, «wenn sie nachweisen können, dass sie unverschuldet an der Arbeit verhindert sind», betont Juristin Hensch. Eine Möglichkeit wäre, wenn sich Eltern vom Spital bescheinigen liessen, dass ihre Präsenz für die Genesung des Kindes nötig sei.

Erschwerend kommt nun hinzu, dass für den Lohnausfall nicht die Taggeldversicherung des Betriebs aufkommt. Diese zahlt nur, wenn Angestellte krankgeschrieben sind, nicht aber, wenn sie aus anderen Gründen am Arbeitsplatz fehlen.

Somit müssen Arbeitgebende selber in die Tasche greifen. Wie lange sie den Lohn zahlen müssen, hängt vom Dienstalter des betreffenden Mitarbeitenden ab. Auch ist rechtlich nicht geklärt, wie lange Eltern wegen kranker Kinder an der Arbeit fehlen dürfen.

Das Regionalgericht Bern-Mittelland hat 2013 einer Mutter recht gegeben, die insgesamt elf Tage im Spital verbracht hatte, um ihr Kind zu betreuen, und dafür von ihrem Arbeitgeber den Lohn verlangte. Das Urteil gibt einen Hinweis, was Eltern erwarten können, lässt sich aber nicht eins zu eins auf andere Fälle übertragen. Es kommt auf die konkreten Umstände an. «Die Arbeitgebenden können verlangen, dass Mitarbeitende ihre Absenz so kurz wie möglich halten», sagt Angela Hensch. Denn trotz Betreuungsaufgaben seien Angestellte verpflichtet, alles Zumutbare zu unternehmen, um die vertraglich vereinbarte Arbeitsleistung zu erbringen.

 

Eine Lotterie
Nicht nur die Betreuung von schwer kranken Kindern berechtigt Arbeitnehmende, der Arbeit fernzubleiben. Auch wenn man sich um pflegebedürftige nahe Angehörige kümmern muss, kann dies aus rechtlicher Sicht eine unverschuldete persönliche Arbeitsverhinderung sein.

Das zeigt ein Urteil des Arbeitsgerichts Zürich von 1981. Dabei ging es um einen italienischen Arbeitnehmer. Er stammte aus einem süditalienischen Dorf, das durch ein Erdbeben verschüttet worden war. Mehrere Tage versuchte er vergeblich, seine Angehörigen zu erreichen. Schliesslich reiste er kurzerhand heim und fand Geschwister und Eltern wohlauf vor. Das Gericht befand, die Ungewissheit über das Schicksal der Angehörigen sei ein berechtigter Grund für die Arbeitsverhinderung gewesen. Es verpflichtete deshalb den Arbeitgeber, seinem Mitarbeiter für die Abwesenheit den Lohn zu zahlen.

Offen ist, wer zum Kreis der nahen Angehörigen zählt. Dies lasse sich auch kaum festlegen, sondern sei anhand der individuellen Lebenssituation zu entscheiden, sagt Rechtsanwältin Hensch.

Die rechtlich unklare Situation erschwert es den Arbeitnehmenden, ihre Ansprüche auf freie Tage durchzusetzen. Besser dran sind jene, die einem Gesamtarbeitsvertrag angeschlossen sind. Denn verschiedene GAVs gewähren einzelne bezahlte Urlaubstage für die Pflege von Angehörigen. Die übrigen Angestellten seien vom Goodwill ihrer Arbeitgeber abhängig, sagt Francine Zufferey von der Gewerkschaft Unia. Die Einforderung ihrer Rechte werde damit für die Arbeitnehmenden zur Lotterie.

So bleibt vielen am Ende nichts anderes übrig, als sich selber krankschreiben zu lassen. So erging es auch Elsbeth Keller*. Sie wäre gerne im Arbeitsprozess verblieben, als ihr Sohn vergangenes Jahr schwer erkrankte und intensive Pflege benötigte. Die Arbeitgeberin war nicht bereit, ihr die nötigen Tage freizugeben und zu bezahlen. «Ich finde es nicht richtig, dass man gezwungen ist, zum Trick der Krankschreibung zu greifen», sagt Keller. Es brauche eine Lösung für solche Fälle, die auch den Arbeitgebenden entgegenkomme.

Das sieht der Bundesrat ebenfalls so. Er hat das Bundesamt für Gesundheit beauftragt, gesetzliche Anpassungen zu erarbeiten, um die Situation von Arbeitnehmenden mit pflegebedürftigen Angehörigen zu verbessern. Erste Vorschläge sollen noch vor dem Sommer präsentiert werden.

*Namen von der Redaktion geändert

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Sozialberatung im Spital

Müssen Kinder wegen einer schweren Krankheit länger hospitalisiert werden, finden die Eltern Rat und Unterstützung bei den Sozialberatungen der Kliniken. «Wir sind sehr häufig mit Fragen von erwerbstätigen Vätern und Müttern konfrontiert, die wissen wollen, was sie tun müssen, um möglichst oft bei ihren Kindern sein zu können», sagt Irene Weber-Hallauer von der Sozialberatung des Kinderspitals Zürich. Nach einer schweren Diagnose stünden viele Eltern unter Schock. Wenn sie dadurch arbeitsunfähig sind, rate man ihnen, sich vorübergehend krankschreiben zu lassen. «Auf Wunsch stellen wir den Eltern danach eine Bestätigung zuhanden des Arbeitgebers aus.» Darin steht, ab wann das Kind hospitalisiert ist und inwiefern die Präsenz eines Elternteils für die Genesung nötig ist.

Diese Bescheinigung würde die Eltern dazu berechtigen, der Arbeit zeitweise fernzubleiben, sagt Weber-Hallauer.

Man rate den Eltern auch, frühzeitig das Gespräch mit dem Arbeitgeber zu suchen, sagt Janine Keel von der Sozialberatung des Inselspitals in Bern. «Sind sie damit überfordert, bieten wir an, selber Kontakt mit dem Arbeitgeber aufzuneh men.» Diese reagierten sehr verschieden auf die Bedürfnisse der Eltern. «Das geht von viel Verständnis bis zur Kündigungsandrohung», weiss Keel. So komme zum Stress mit einem kranken Kind auch noch der Druck einer drohenden Einkommenslücke hinzu. Um dem Arbeitsplatz fernzubleiben, würden viele Eltern Überstunden kompensieren, Ferien oder unbezahlten Urlaub beziehen.

Beide Fachfrauen halten die heutige rechtliche Situation für unbefriedigend. Klarere Regeln zu den Ansprüchen der Eltern wären hilfreich. afi

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