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Fernweh

Ohne Spikes 
geht gar nichts

Der Golfstrom beschert Stefan Leimers neuer Heimat ein verhältnismässig «mildes» Klima. Ohne Spikes an Schuhen 
oder an allen möglichen Fahrzeugen wird die Fortbewegung trotzdem schwierig.

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  • Dossier

Text und Bild: Stefan Leimer

Was in der Schweiz nur engeschränkt erlaubt wird, ist bei un sin Nord-Norwegen überlebenswichtig. Nach dem ersten Schneefall ist an eine sichere Fortbewegung ohne Spikes nicht mehr zu denken. Dabei spielt es keine Rolle, ob man zu Fuss, mit dem Fahrrad oder mit dem Auto unterwegs ist. Für den kurzen Gang zum Supermarkt oder die Überlandfahrt in die 100 Kilometer entfernt gelegene Stadt - ohne Spikes geht gar nichts. Um auf glattem Untergrund besseren Halt zu verleihen, wurden die kleinen Stahlstifte auch in Schuhsohlen und Fahrradreifen eingearbeitet.

Mitverantwortlich für das Klima im Norden Europas ist eine der mächtigsten Strömungen der Welt. Vom Atlantik her kommend, fliesst Wasser zum Golf von Mexiko, wo es Wärme aufnimmt und sich mit dem Florida- beziehungsweise dem Bahamasstrom vereint. Gemeinsam bilden sie nun den bekannten Golfstrom, der Europa mit gewaltigen Mengen an Wärmeenergie versorgt. Ohne den Golfstrom wäre das Klima entlang der Küste in Nord-Norwegen deutlich frostiger.

So aber frieren die Buchten bis zum im äussersten Nord-Osten gelegenen Varangerfjord an der russischen Grenze selbst im Winter nicht zu. Das gibt den Walen die Möglichkeit, die riesigen Fischschwärmen bis tief in die Fjorde hinein zu verfolgen, um sich so richtig satt zu fressen. An manchen Tagen kommen die Orcas der Küste dabei so nahe, dass man glaubt, sie mit Händen greifen zu können.

 

Stromausfälle gehören dazu

Der Winter in Andenes gilt als vergleichsweise mild. Die Bewohner sprechen gar von einem kalten Sommer und einem warmen Winter. Der Sommer lässt sich mit Herbstferien im Berner Oberland vergleichen. Es kann durchaus warm werden, aber einen Pullover muss man immer dabei haben. Typisch für das Wetter ist, dass es sich innerhalb weniger Minuten ändert. Wo eben noch die Sonne schien, kann es im nächsten Moment sintflutartig regnen. Entschädigt wird man dafür mit prachtvollen Regenbögen.

Noch während ich diese Zeilen schreibe, braut sich im Norden der Insel ein heftiger Sturm zusammen. An Schlaf ist in dieser Nacht nicht zu denken. Die orkanartigen Böen zerren an jedem Stück Holz unseres Hauses, das sie zu fassen bekommen. Als ich am nächsten Morgen aufstehe, merke ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Das ganze Haus fühlt sich unangenehm klamm an!

Ein Griff zum Lichtschalter bestätigt, was ich bereits vermutet habe. Stromausfall. Der Blizzard muss irgendwo die Überlandleitung beschädigt haben. Wieder einmal, denn Stromausfälle sind keine Seltenheit. Zum Glück haben wir einen Schwedenofen, der zumindest im Wohnzimmer schon bald für angenehme Wärme sorgt. Und kochen können wir im Wohnmobil. Erst nach 22 Uhr kommt der Strom wieder zurück.

 

Møke snø gehört zum Alltag

Aber zurück zum «warmen» Winter. Während es im Landesinneren bei zu -40° C kalt werden kann, sinkt das Thermometer in Andenes selten unter -10°. Die statistische Schnee-Zeit eines Jahres dauert vom 21. Oktober bis zum 30. April. Aber selbst im Mai sind 30 Zentimeter Neuschnee über Nacht keine Überraschung. Die kleinste Schneemenge fällt gemäss Statistik um den 19. Juli herum.

Schneeschaufeln (norwegisch: møke snø) gehört hier also während sechs Monaten zum Alltag. Von der kleinen Schaufel bis zum Lastwagen mit Schneepflug, so gross wie ein Walschlund kommt dabei alles zum Einsatz. Während wir uns noch traditionell mit einer Schneeschaufel behelfen, vertrauen die naturgemäss erfahrenen Nachbarn einer motorisierte Schneeschneutze. Der Winterdienst beschränkt sich jedoch darauf, die gröbsten Schneemengen von der Strasse, dem Trottoir und den Einfahrten zu entfernen. Zurück bleibt ein gefrorener, äusserst rutschiger Untergrund, der ohne Spikes nicht gefahrlos zu bewältigen ist.

 

Auch die Velos haben Spikes

Für Fussgänger gibt es eine Art Steigeisen aus Gummi, die satt über den Winterschuh gezogen werden und auf der Unterseite Metallstifte haben. Die wenigen wagemutigen Radfahrer, die auch bei diesen widrigen Umständen nicht auf ihr Velo verzichten möchten, haben Spikereifen aufgezogen. Auch wenn wir das Fahrrad als Verkehrsmittel schätzen, auf solche Experimente lassen wir uns nicht mehr ein. Zudem das nächste Spital ja zwei Stunden Autofahrt entfernt ist.

Winterreifen mit Spikes erlauben auch bei rutschigen Strassenverhältnissen ein weitgehend unbeschwertes vorwärtskommen. Selbst mit unserem Camper, der kaum als ideales Winterfahrzeug durchgeht, kamen wir bisher gut durch den Winter. Schneeketten haben wir für alle Fälle dabei. Die reibungslose Fahrt auf der glatten Unterfläche ist jedoch trügerisch. Denn man sollte beim Aussteigen nicht vergessen, dass sich unter der dünnen Schneedecke blankes Eis befindet.

Das nahezu ideale Fortbewegungs- beziehungsweise Transportmittel auf Schnee und Eis wurde vor etwa 150 Jahren in Schweden erfunden und ist heute fester Bestandteil der nordischen Kultur. Der sogenannte Spark. Dieser Tretschlitten besteht aus zwei langen Stahlkufen und einem kleinen Sitz mit Haltegriffen. Vor allem ältere Generationen vertrauen bei glatten Strassen auf den Spark. Wer den Tretschlitten deswegen aber als Rollator für den Winter abtut, der irrt. Mit etwas Übung lassen sich Geschwindigkeiten von bis zu 20 km/h erreichen. Der Antrieb erfolgt durch abstossen mit einem Fuss zwischen den Kufen. Im Schnee empfehlen sich Schuhe mit profilierten Sohlen. Für Eis – wer hätte es gedacht – die Verwendung von Spikes.

 

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