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Ort des Triumphs und der Schmach

Die Meldung, die letzte Woche auch in dieser Zeitung gestanden ist, erfüllt mich mit grosser Wehmut: Die Kletterstange stirbt aus.

Bild: Niklaus Baschung

Sie war der Ort meines grössten sportlichen Triumphes. 2,5 Sekunden, handgestoppt! Nicht vergleichbar mit dem ersten Platz im Schlittenrennen der Dorfjugend. Denn dort hatte ich einfach die beste Taktik angewendet, indem ich die Hälfte der Strecke im ebenen Gelände gelaufen bin, während die Konkurrenz noch bei beinahe Stillstand auf dem Schlitten erwartungsvoll bäuchlings liegen geblieben ist. Selber blöd.

Der Kletterstangensport spielt sich im Vergleich in einer ganz anderen Hemisphäre ab. Das ist der animalische Kampf von Mann gegen die Schwerkraft. Die Auslese an der Stange ist pickelhart, aber gerecht. Das machte sich unser damaliger Turnlehrer auf der Mittelstufe in der nicht gerade sportbegeisterten Turnklasse, deren Schüler aus zwei unterschiedlichen Jahrgängen bestand, zunutze. Denn die beiden Jahrgänge verband eine innige gegenseitige Abneigung.

Wir mussten also in einer Art Meisterschaft gegeneinander klettern, was uns zu unserer eigenen Überraschung zu grösstem Ehrgeiz anspornte. Im Final besiegte ich dann mit aufgeschürften Unterschenkeln den um ein Jahr
älteren Gegner in dieser sagenhaften Fabelzeit von 2,5 Sekunden. Wie ein Wiesel bin ich da hinauf gehechtet.
Damit hatte ich den Zenit in meinem Sportlerleben allerdings bereits erreicht – sowohl unter Wieseln wie unter Menschen ist mir nichts Vergleichbares mehr gelungen.

Deshalb erklärte ich meiner Partnerin: «Es ist schon schade, dass diese Kletterstangen jetzt überall auf den Pausenplätzen abgebaut werden. Da geht doch etwas von unserem kulturellen Erbe verloren. Was bleibt uns denn sonst noch?» Selten hat sie mich so verständnislos angesehen. Offenbar verbindet sie mit der Kletterstange die grössten Schmacherlebnisse ihrer Primarschulzeit. Nicht einmal bis zur Mitte der fünf Meter langen Eisenstangen hat sie es jeweils geschafft. Doch die Leistung der Mädchen habe die Turnlehrer damals gar nicht gross interessiert. Die konzentrierten sich auf die Buben und jagten diese im militärischen Ton die Stangen hinauf.

Die Kletterstangen standen in schönem, gelbem Sand, der am Meer abgebaut und auf die Schweizer Pausenplätze verteilt wurde. Während die Buben sich mit dem Turngerät abmühen mussten, suchten ihre Schulkolleginnen im Sand mit grossem Interesse und ohne pädagogische Anleitung nach kleinen Muscheln und Fischzähnen. Seit diesen Kletterstangenerlebnissen ist meine Partnerin für den geschlechtergetrennten Unterricht im Turnen und bei naturwissenschaftlichen Fächern.

Ihr Kletterstangentrauma konnte sie Jahrzehnte später doch noch verarbeiten, sagt sie heute. Eine erfahrene Turnlehrerin habe ihr nämlich erklärt, dass Frauen rein anatomisch gar nicht für die Stange geboren sind. Weil Frauen ihre Ellbogen oft nicht ganz strecken können, wirke die Kraftübertragung beim senkrechten Hinaufklettern ganz anders als beim Mann. Frauen können ihre Kraft nicht optimal einsetzen.

Gut, vielleicht stimmt dies ja auch mit diesem weiblichen Ellbogen. Erstaunlicherweise wurden aber auch die jungen Männer gegen Ende des letzten Jahrhunderts bei der Sportprüfung während der Aushebung der Rekruten immer langsamer an der Kletterstange. Zahlreiche Rekruten kamen gar nicht mehr rauf. Daraufhin beschlossen die Verantwortlichen, das Klettern an der Eisenstange ganz abzuschaffen. Begründung: Diese Sportdisziplin ist nicht mehr zeitgemäss.

Das tut schon weh, wenn einem Rekordhalter wie mir damit erklärt wird, dass er definitiv zum alten Eisen gehört.

Info: Von Niklaus Baschung sind alle 
drei bisher erschienen Kolumnenbücher wieder erhältlich. Mehr zum Autor und seinem Schaffen finden Sie unter 
www.niklaus-baschung.ch

 

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