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«S tuet mi gruuse; Ade zäme, i muess use»

Heute Freitagabend bin ich in ein Konzert eingeladen. An der Untergasse in Biel im «Le Singe». Ein Geburtstagsgeschenk. Der Künstler hat denselben Jahrgang. Auch sonst fühle ich mich ihm verbunden.

Bild: Niklaus Baschung

Ursprünglich sollte das Konzert am 2. Mai 2020 stattfinden. Doch vorher hat der Bundesrat den Notstand ausgerufen wegen des Coronavirus. Truppen wurden mobilisiert, die Grenzen geschlossen, Veranstaltungen verboten. Und der Auftritt des Künstlers, der mit einer neuen Besetzung der Band seine Abschiedstournee durchführen wollte, wurde auf den 10. Dezember 2020 verschoben. In die Adventszeit.

Doch vorher hat der Bundesrat in einer ausserordentlichen Sitzung schweizweit gültige verschärfte Massnahmen ergriffen und kulturelle Veranstaltungen mit mehr als 50 Personen verboten. Die Veranstalter im «Le Singe» liessen zum Glück nicht locker und terminierten das Konzert neu auf den 5. Juni 2021.

In der Zwischenzeit hatte ich Interviews mit dem Künstler gesehen und gelesen. Er wirkte müde und etwas verloren in diesem Emmental, wo er wohnt. Auf einem Foto sah er körperlich angeschlagen aus, sein Körperumfang wie halbiert. «Wenn der so weiter macht, wird er den Juni 2021 nicht erleben», witzelte ich noch.

Tatsächlich wurde das Konzert noch einmal verschoben, auf heute Freitag. Letzte Woche dann die Nachricht, dass Endo Anaconda gestorben ist. Ohne in der Stadt Biel Abschied zu nehmen, wo er als Andreas Flückiger in der Kindheit ein paar Jahre gelebt hat. Selten hat mich der Tod eines Menschen, dem ich – ausser in sieben oder acht Konzerten vor allem in den 90er-Jahren – gar nie begegnet bin und dessen Lebensweise mir fremd geblieben ist, so traurig gestimmt.

An seiner fantastischen Sprachgewalt allein liegt dies nicht. Obwohl, die Ehrenrettung des Berndeutschen im Musikgeschäft war und ist fast 50 Jahre nach Mani Matter bitter notwendig. Immer wieder quälen uns Musiker und Musikerinnen in ihren Songs mit berndeutschen Banalitäten, dass wir uns mitunter gezwungen fühlen, nach Zürich auszuwandern. Man stelle sich das einmal vor.

Ich habe diesen Anaconda ins Herz geschlossen, weil er mit einer Eindringlichkeit sondergleichen die menschlichen Widersprüche und 
Abgründe, politischen Intrigen, die Lebenslust, den Lebenshunger, die Liebesbedürftigkeit darstellen konnte. Und so viel Sinn für Sinnloses hatte.

Vor ein paar Monaten hat mich meine Tochter gefragt, ob ich etwa noch alte CDs zum Verschenken hätte, ihr kürzlich erworbenes Occasionsauto verfüge nur über einen CD-Player. 
Am Abend, als Endo Anacondas Tod auf allen Kanälen verkündet wurde, mailte sie, sie habe heute den ganzen Tag die «Stiller Has»-CDs «Landjäger» und «Moudi» gehört. Rauf und runter. Zufälle gibts.

«Stiller Has»-Lieder gehörten für unsere Kinder zu ihren ersten Musikerfahrungen. Wahrscheinlich nicht ganz kindergerecht. Einem kleinen Mädchen ist schwierig, zu erklären, wie dieser Liedvers gemeint ist: «I hane Moudi, I hane scho mängisch wölle töte mit em Mässer, mit em Bieli, mit em Chare.» Dass nämlich mit dem «Moudi» kein Kater gemeint ist, sondern der erfolglose Kampf gegen die eigene Drogensucht. Offenbar sind auch viele erwachsene Zuhörer und Zuhörerinnen von einer richtigen Katze ausgegangen.

Das absolute Lieblingslied (oder 
eher ein Sprechgesang) der Kinder war allerdings «Gruusig», von dem die harmloseste Strophe lautet: «Chotzbrockemässig isch das gruusig; Himutruurig, mies – potztuusig; Gagugälb und steihässlech; Obermäd und gruebegrässlech; S tuet mer ekle, s tuet mi gruuse; Ade zäme, i muess use.» Ein gräuslicher Text, den sie voller Begeisterung auswendig mitredeten. Kinder nehmen manchmal nicht die geringste Rücksicht auf die Gefühle von Erwachsenen.

Info: Von Niklaus Baschung sind alle 
drei bisher erschienen Kolumnenbücher wieder erhältlich. Mehr zum Autor und seinem Schaffen finden Sie unter 
www.niklaus-baschung.ch

 

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