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Titelgeschichte

Seit 15 Jahren geistern Wölfe 
durch den Berner Jura

Im Jura richten Wölfe kaum Schaden an und werden deshalb weniger wahrgenommen als in den Alpen. 
Sie finden genügend Wild und sind in Schluchten und dichten Wäldern ungestörter als in den belebten Voralpen. Wolfgegner möchten die Raubtiere trotzdem überall bekämpfen.

Wölfe wurden vor 150 Jahren im Jura ausgerottet. Jetzt kehren sie zurück. Man bemerkt und sieht die Jura-Wölfe selten. Bild: Wildnispark Zürich/zvg

Lotti Teuscher

Es ist finster, kurz nach Mitternacht, auf der Strasse liegt ein Hauch Neuschnee. Der Landwirt ist nach einem langen Arbeitstag auf dem Heimweg, er ist müde und zwingt sich zur Aufmerksamkeit. Jederzeit kann ein Reh, ein Fuchs, ein Wildschwein oder ein Hase auf die Strasse springen. Und tatsächlich, im Scheinwerferlicht taucht ein Tier auf. Erst denkt der Bauer, es sei ein Husky. Diese Hunde kennt er gut, er selber ist Besitzer einiger Schlittenhunde.

Doch der Hund auf der Strasse ist grösser, kräftiger. Das Tier läuft in die Gegenrichtung, der Bauer wendet sein Auto und folgt ihm. Aufgeregt holt er sein Handy heraus, es gelingt ihm allerdings nicht, ein gutes Foto zu machen. Auf dem Bild ist nur ein dunkler Schemen zu erkennen. Dennoch ist für den Landwirt klar, was er sieht: Ein Wolf schnürt über die Strasse.

Ein Wolf im Berner Jura? Wenn der Landwirt von seiner mitternächtlichen Begegnung erzählt, lachen die meisten Zuhörer, deshalb will er nicht, dass sein Name im BT erwähnt wird. Allerdings glauben ihm etliche Jäger, die Isegrim bereits selber begegnet sind.

Die erste Sichtung
Es ist 15 Jahre her, dass dem BT zum ersten Mal von einer Wolfsichtung im Berner Jura erzählt wird: Ein Mann reitet im St. Immer-Tal aus. Sein Pferd ist an Hunde gewöhnt, noch nie habe es wegen eines Hundes gescheut, sagt dessen Besitzer. An diesem Abend scheut das Pferd plötzlich so heftig, dass der Reiter es nur mit Mühe halten kann. Dann sieht er ein Tier über das Waldsträsschen schnüren – ein Wolf! Davon ist der Reiter bis heute überzeugt. Gab es zu dieser Zeit tatsächlich Wölfe im Berner Jura?

Die Jura-Wölfe wurden im späten 19. Jahrhundert ausgerottet. Erste Beobachtungen, dass das Grossraubtier in den Schweizer Jura zurückgekehrt sein könnte, gab es bereits im Jahr 2004. Allerdings fehlte die letzte Bestätigung: der DNA-Beweis.

Diesen braucht es, denn Wölfe werden häufig mit tschechoslowakischen Wolfhunden verwechselt. Dem BT wurde zum Beispiel vor einigen Jahren mehrmals gemeldet, in Magglingen treibe sich ein Wolf herum – bis sich herausstellte, dass der Kanide ein streuender Wolfhund war. Diese Hunde unterscheiden sich kaum von ihren wilden Verwandten. Wölfe haben beispielsweise einen kürzeren und buschigeren Schwanz; Wolfhunde einen hellen Streifen im Pelz, der von den Schultern zu den Vorderbeinen verläuft.

Katzensprung für den Wolf
Dass der Wolf in den Jura zurückgekehrt war, wurde ein Jahr später bestätigt; 2005 wurden erstmals genetische Beweise gefunden. Nochmals vier Jahre darauf war belegt, dass sich ein weiterer Wolf von Frankreich herkommend im Waadtländer Jura aufgehalten hatte. Zwischen dem Berner und dem Waadtländer liegt der Neuenburger Jura. Ein Wolf hätte somit eine weite Distanz bis ins St.-Immer-Tal zurücklegen müssen.

Dennoch hält es Florin Kunz vom Monitoring Grossraubtiere Schweiz (Kora) nicht für unmöglich, dass vor 15 Jahren tatsächlich ein Wolf den Weg des Reiters gekreuzt hat. Denn für Isegrim ist es ein Katzensprung vom Waadtland ins St.-Immer-Tal: Ein Wolf legt bis 70 Kilometer pro Tag zurück. 2013 hatte ein Wolf in Motiers im Val de Travers einen Damhirsch gerissen. «Danach war wieder Ruhe», sagt Florin Kunz.

Ab dem Jahr 2016 häuften sich Meldungen aus der der Region Vallée de Joux und Col de Marchairuz. Um den Meldungen auf den Grund zu gehen, wurden im Jahr 2017 Fotofallen aufgestellt. Und tatsächlich – dort hielten sich ein Rüde und zwei Wölfinnen auf.

«Möglicherweise ist das eine Tier nur durchgewandert», sagt Florin Kunz. Dennoch sei es möglich, dass die beiden anderen Wölfe bald das erste Rudel seit mehr als 150 Jahren bilden werden. «Damit rechnen wir schon länger», so der Spezialist für Grossraubtiere. Im kommenden Sommer werden deshalb erneut Fotofallen im Vallée de Joux installiert. In eine Fotofalle im Jura ist Ende Februar dieses Jahres ein weiterer Wolf getappt: Im Kanton Aargau bei Erlinsbach. Am gleichen Tag werden zwei gerissene Ziegen gemeldet. «Anhand der DNA-Proben konnte der Artnachweis erbracht werden», sagt Florin Kunz.

«Es braucht den Feind»
Einer, der die Rückkehr der Wölfe begrüsst, ist Kuno Moser, Forstbetriebsleiter der Burgergemeinde Biel. Allerdings nicht aus persönlichen Gründen, sondern aus der Perspektive der Holzproduktion, wie Kuno Moser betont. Denn nicht nur der Wolf oder der Steinadler kehren zurück in den Berner Jura, sondern auch ein Pflanzenfresser: der Rothirsch.

«Hirsche richten grosse Verbissschäden an. Deshalb ist es gut, wenn auch sein natürlicher Feind, der Wolf, zurückkehrt», sagt Kuno Moser. Auch zahlreiche Rehe und Gämsen setzen dem Wald im Berner Jura zu oder, wie es der Forstbetriebsleiter sagt: «Aus Sicht der der Forstwirtschaft werden in unserem Revier zu wenige Rehe und Gämsen gejagt.»

Hirsche, Rehe und Gämsen fressen mit Vorliebe die Triebe von Weisstannen und Eichen; ein Problem für die natürliche Verjüngung der Wälder, wie Kuno Moser erklärt: «Wenn diese Jungbäume dauernd abgefressen werden, verschwinden sie nach wenigen Generationen aus unseren Wäldern.» Dies sei auch angesichts der Klimaerwärmung ein Problem. Denn Eichen ertragen Hitze und Trockenheit besser als Buchen, die vom Wild weitgehend verschmäht werden.

Ein Indiz weist bereits heute darauf hin, dass die natürlichen Feinde der Paarhufer zahlreicher geworden sind: Gämsen bilden im Berner Jura seit einigen Jahren kleinere Rudel. Denn in kleineren Gruppen sind sie für Luchs und Wolf schwieriger zu jagen.

Dass die Wölfe in den Berner Jura zurückgekehrt sind, glaubt auch ein Senn auf dem Chasseral: Letzten Sommer habe er einen Wolf fotografiert, davon ist der Bauer überzeugt.

Ein Hund? Ein Wolf ?
Doch ist dem Mann tatsächlich ein waschechter Wolf vor die Kamera gelaufen?

Eine Begegnung auf dem Chasseral im Februar spricht dagegen. Das BT trifft einen Tourenskifahrer, am Gürtel zwei Leinen eingehängt. Vor ihm laufen – Wölfe? Hunde? Die Kaniden sind hochbeinig, graubraun mit dichtem Pelz, sie bewegen sich in energiesparendem Trab; sie schnüren. Menschen schauen sie nicht in die Augen, ihr Blick wandert nie weiter als bis auf Brusthöhe. Sie geben keinen Laut von sich, sie weichen Händen aus, sie wirken sehr scheu. Merkmale, die auf Wölfe hinweisen.

Tatsächlich? Nach längerem Gespräch erklärt der Besitzer, dass seine Tiere Hybriden sind – 75 Prozent ihres Erbguts stammt vom Wolfhund, 25 Prozent vom Wolf. Grossmutter oder Grossvater war ein Wolf.

Der Mann ist jeden Tag viele Kilometer weit unterwegs, seine Tiere haben einen starken Bewegungsdrang. Im Wildschutzgebiet auf der Nordseite des Chasserals führt er die Mischlinge an der Leine, ausserhalb lässt er sie manchmal frei. Hat der Senn einen der beiden Hybriden fotografiert?

Gibt es noch echte Wölfe?
Dass der Wolf von Schafzüchtern und einem Teil der Bevölkerung vehement abgelehnt wird, ist eine Binsenwahrheit. Auch Wolfshybriden sind deshalb ein Thema, das in der Schweiz an Bedeutung gewinnt. Denn der Wolf ist geschützt, um die Mischlinge hingegen herrscht rechtliche Ungenauigkeit. Die nationale Gesetzgebung empfiehlt, Hybriden zu töten, um die genetische Integrität der Wolfspopulation zu erhalten. Dies wird als Argument für den Abschuss von Isegrim in der Schweiz verwendet.

So auch in einem Artikel im «Walliser Boten». Der Journalist stellt die Frage: «Sind die in der Schweiz lebenden Wölfe artenrein oder eine Mischlingsform zwischen Wolf und Hund?» Laut der Tageszeitung sprechen Untersuchungen in Deutschland eine deutliche Sprache: Unter 16 analysierten Grossraubtieren sei kein einziger artenreiner Wolf identifiziert worden. Da stelle sich die Frage, so die Tageszeitung, ob sich auch in der Schweiz mehrheitlich Wolf-Hund-Hybriden herumtreiben würden?

Der Angriff auf eine Hirtenhündin auf der Alp Chroneberg im Gantrischgebiet scheint diese These zu stützen – zumindest auf den ersten Blick. Die Besitzerin der Hündin sieht, wie sich zwei Wölfe in ihren Hund verbeissen und ihn töten. Der Angriff macht schweizweit Schlagzeilen.

Wildhut und Veterinäre entnahmen der toten Hündin DNA-Proben. Eine Probe war nicht identifizierbar, fünf weitere wiesen auf Hunde als Angreifer hin. Der Fall wurde nie ganz geklärt, doch mit grosser Wahrscheinlichkeit wurde die Hirtenhündin von wolfsähnlich aussehenden Hunden getötet.

Oder waren die Angreifer etwa Wolfshybriden?

Tatsache ist, dass sich Wölfe und Hunde genetisch nur sehr wenig voneinander unterscheiden. Nicht nur ein Schäferhund oder ein Husky, selbst ein Chihuahua oder ein Mops sind enge Verwandte des Wolfes.

Vor 40 000 bis 20 000 Jahren begannen Menschen, Wölfe zu zähmen, mit ihnen zu leben und zu jagen. Die Domestikation erfolgte indes nicht linear, erklärt Florin Kunz von Kora: «Während Jahrtausenden haben sich Wölfe und ihre domestizierten Verwandten immer wieder gekreuzt, ein genetischer Austausch, der bis heute stattfindet.» Kurz: In jedem Hund steckt ein Anteil Wolf.

Doch steckt umgekehrt in Schweizer Wölfen zu viel Hund?

Antwort der Forscher
Eine Frage, die Forscher um Luca Fumagalli von der Universität Lausanne geklärt haben. Sie untersuchten die DNA von 115 Wölfen, die zwischen 1998 und 2017 in der Schweiz registriert wurden anhand von Speichelproben, Kot oder Haaren. Das Erbgut dieser Wölfe verglichen sie mit einer Referenzgruppe von 70 Hunden. Mithilfe mathematischer Simulationen und statistischer Modelle legten sie eine Schwelle fest, ab der ein Wolf nicht mehr als «reiner» Wolf gilt.

Die Antwort fällt eindeutig aus: Nur zwei der untersuchten Raubtiere sind Hybriden – 113 sind eindeutig Wölfe.

Die beiden Mischlinge, ein Männchen und ein Weibchen, waren wohl Nachkommen einer Kreuzung zwischen einer Wölfin und einem Hund, die zwei bis drei Generationen zuvor stattgefunden haben müsse, so die Forscher aus Lausanne. Zudem scheinen die beiden Hybriden bereits Ende 2017 die Schweiz wieder verlassen zu haben.

Doch wie ist es möglich, dass weniger als zwei Prozent der Schweizer Wölfe Mischlinge sind, aber hundert Prozent der in Deutschland untersuchten Wölfe? Die Antwort ist simpel: In Deutschland wurde nicht die DNA untersucht; Wolfsgegner beurteilten die Kaniden anhand von Fotos und Schädeln toter Wölfe.

Viehzüchter gefährdet
In den Alpen werden tausende Schafe gesömmert. Grosse, freilaufende Schafherden gibt es im Jura nicht – ist der Wolf dort somit willkommen?

Tatsache ist, dass die Wölfe im Jura wenig Schaden anrichten. Zwar reissen sie einzelne Nutztiere wie Schafe oder Ziegen, in aller Regel jagen sie jedoch Wild. Tatsache ist allerdings auch, dass sich im Jura weniger Wölfe aufhalten als in den Alpen. Dies könnte sich ändern, wenn ein Wolf und eine Wölfin im Waadtländer Jura zusammen ein Rudel bilden.

Der Wolf ist somit auch im Jura im Vormarsch. Was sagen die Halter von Mutterkuhherden dazu? Eine Frage, die sich stellt, weil Mutterkuhherden im Jura weit verbreitet sind.

«Dass ein Wolf ein Kalb reisst, kommt in der Schweiz nur alle paar Jahre vor», sagt Daniel Flückiger, Mediensprecher von Mutterkuh Schweiz. Denn Rinder sind wehrhafte Tiere, die die Instinkte ihrer Vorfahren, der Auerochsen, bewahrt haben. Wird eine Kuhherde von Wölfen angegriffen, verteidigen sich die Rinder. Falls dennoch ein Kalb gerissen werde, erwarte der Verband, dass die Behörden kulant reagieren und den Besitzer korrekt entschädigen würden, fordert Daniel Flückiger.

Dennoch sind die Wölfe im Jura eine Gefahr – und zwar für die Viehzüchter selber. Wenn auch indirekt: «Internationale Untersuchen zeigen klar, dass Herden stark auf Wölfe reagieren», erklärt der Sprecher von Mutterkuh Schweiz. Wölfe wecken den Verteidigungsinstinkt der Mutterkühe.

Selbst Herden, die zahm sind, können am Morgen nach einem Wolfsangriff – für den Bauer völlig unerwartet – diesen angreifen.

Die Viehzüchter sind deshalb darauf angewiesen, dass ihnen gemeldet wird, in welchen Regionen sich Wölfe aufhalten. In den Kantonen Waadt, St. Gallen oder Graubünden klappe der Informationsfluss zu den Bauern am besten, sagt Daniel Flückiger. Weniger weit sei man in den anderen Kantonen, darunter auch im Kanton Bern.

Differenzierte Sicht
Die Rückkehr der Wölfe polarisiert. Die einen hassen ihn, die anderen lieben ihn. Nicht so der Bauer, der im Februar um Mitternacht einem Wolf begegnet ist – seine Meinung ist differenziert. Zum einen hat es ihn gefreut, einem Wolf zu sehen. Zum anderen erklärt er: «Die Rückkehr der Wölfe in den Jura ist heikel.» Denn auch im Jura gibt es Ziegen und Schafe. Der Landwirt besitzt selber eine mittelgrosse Schafherde.

Allerdings würden die Nutztierhalter im Jura bereits seit Jahrzehnten mit einem anderen Grossraubtier leben: Dem Luchs, der ebenfalls ab und zu ein Schaf oder eine Ziege reisst. Oder, wie der Bauer sagt: «Wir sind geübt, unsere Tiere zu schützen.»

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«Der Mensch passt nicht ins Beuteschema des Wolfs»
Sara Wehrli, Projektleiterin grosse Beutegreifer und Jagdpolitik bei Pro Natura, wehrt sich gegen den präventiven Abschuss von Wölfen. Für den Wolf habe es genügend Platz.

Sara Wehrli, der Wolf breitet sich seit etwa 15 Jahren im Jura aus. Passt der Wolf dorthin?
Sara Wehrli: Der Wolf ist eine sehr anpassungsfähige Tierart. Er benötigt nur genügend Beutetiere und einige ruhige Rückzugsgebiete für die Welpenaufzucht. Der Jurabogen bietet – im Vergleich mit den stärker besiedelten, grossen Alpentälern – sehr gute Voraussetzungen für Wölfe. Hier finden Wölfe Beutetiere wie Rehe, Gämsen oder Wildschweine und bald auch Rothirsche. Weiter hat es genügend Rückzugsgebiete wie Wälder und Schluchten. Zudem dürfte das Konfliktpotenzial geringer sein als in den Alpen, wo viele Schafe gesömmert werden.

Der Nationalrat hat entschieden, dass der Schutz des Wolfes im eidgenössischen Jagdgesetz gelockert werden soll. Wie stellt sich Pro Natura dazu?
Wir lehnen das ab. Eine Regulierung von Wölfen ist nur dann akzeptabel, wenn trotz Herdenschutzmassnahmen eine bestimmte Anzahl Schafe oder Ziegen gerissen wird. In der vorgesehenen Revision des Jagdgesetzes sollen Wölfe hingegen einfach abgeschossen werden können, «weil es sie gibt». Das heisst, Abschüsse «auf Vorrat» sind möglich, ohne dass die Wölfe je Schäden angerichtet hätten. Dies sogar dann, wenn die Tierhalter keine Präventionsmassnahmen ergreifen. Das ist ein krasser Paradigmenwechsel – von einer bisher auf Prävention, Schutz und Abschüssen nur als «ultima ratio» beruhenden Gesetzgebung – hin zu einer Legiferierung für laute Minderheiten. Nutzerinteressen haben Vorrang!

Laut BDP-Nationalrat Lorenz Hess ist der Wolf, so wie der Fuchs, ein Kulturfolger, der sich künftig immer mehr den Siedlungen nähern wird.
Es stimmt, dass Wölfe anpassungsfähig sind. Sie werden aber kaum wie Füchse in die Städte kommen, denn sie halten sich dort auf, wo ihre Beutetiere sind – und die sind nicht in den Siedlungen. Solange es genügend natürliche Beutetiere hat, hat der Wolf keinen Anlass, sich wie der Fuchs von Siedlungsabfällen zu ernähren. Es ist jedoch nicht auszuschliessen, dass einzelne Wölfe auf Wanderschaft auch in die Nähe von Dörfern und Städten kommen und deren Randgebiete erkunden.

Können Wölfe vertrieben werden, wenn einzelne Tiere geschossen werden?
Das ist unter Experten sehr umstritten und muss zurzeit einfach als Hypothese betrachtet werden. Wenn ein Wolf in Anwesenheit seiner Rudelgefährten erschossen wird, könnte das eventuell einen Abschreckungseffekt auf die übrigen Tiere haben – erwiesen ist es nicht.

Die Burgergemeinde Biel begrüsst den Wolf, weil das Schalenwild in ihren Wäldern grosse Verbissschäden anrichtet. Braucht es den Wolf tatsächlich um den Bestand von Rehen, Gämsen und Hirschen zu regulieren?
Das ist ein gutes Argument. Die Anwesenheit des Wolfes kann zu einer besseren Verteilung des Wildes führen. Hirsche zum Beispiel werden weniger lang in einem bestimmten Waldgebiet bleiben: Sie müssen wegen der Wölfe häufiger ihren Standort wechseln. Im Gebiet des Calanda-Rudels haben Untersuchungen bereits gezeigt, dass seit der Anwesenheit der Wölfe wieder mehr Weisstannen gewachsen sind. Es wird wie in anderen europäischen Ländern ein Nebeneinander von Jägern und Grossraubieren wie Wolf und Luchs geben.

Der böse Wolf aus Grimms Märchen, der die Grossmutter verschlungen hat, prägt bis heute das Bild von Isegrim. Wie gross ist das Risiko tatsächlich, dass ein Wolf einen Menschen angreift?
Im Verhältnis zu ihrer Körpergrösse und Wehrhaftigkeit sind Wölfe für den Menschen erstaunlich harmlose Raubtiere: Statistisch gesehen sind etwa Braun- und Schwarzbären, Pumas, Leoparden oder sogar Hunde sehr viel gefährlicher: Das norwegische Institut für Naturforschung hat 2002 eine umfassende Literatur- und Fallstudie zu Wolfsangriffen auf Menschen für die letzten 400 Jahre gemacht. Erfasst wurden alle auffindbaren, plausiblen Berichte über sämtliche Angriffe in ganz Europa, dem europäischen Teil Russlands und Nordamerika. Demnach hat es in den Jahren 1950 bis 2000 in Europa inklusive Westrussland ganze neun tödliche Angriffe von Wölfen auf Menschen gegeben.

Weshalb greifen Wölfe Menschen an?
Fünf Angriffe waren durch Tollwut bedingt. Somit bleiben innerhalb von 50 Jahren vier Fälle von gezielten Angriffen auf Menschen. Von diesen gingen wiederum zwei Fälle auf das Konto des gleichen Tiers in Spanien. Während der Jahre von 1970 bis 2000 gab es in Europa keine Todesfälle mehr durch Wölfe. Dies trotz zunehmender Anzahl.

Weshalb sind Menschen trotz passender Grösse keine Beutetiere für Wölfe?
Sie passen nicht ins Beuteschema. Wölfe fallen nicht einfach alles an, was sich bewegt, sondern sind auf ihre Beutetiere spezialisiert. Der Mensch wird eher als Bedrohung wahrgenommen oder schlichtweg ignoriert. Wenn Wölfe Menschen angreifen, dann unter extrem aussergewöhnlichen Umständen. Dazu gehören Tollwut, eskalierende Unfälle mit angefütterten Wölfen, oder wenn Wölfe extremen Hunger haben, weil die natürliche Beute fehlt. All diese Ursachen können in der Schweiz fast ganz ausgeschlossen werden. Wichtig ist einzig, dass Wölfe weder gezielt noch unbeabsichtigt gefüttert werden. Interview: LT

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«Die Lebens-Räume sind zu verschachtelt für den Wolf»
BDP-Nationalrat Lorenz Hess setzt sich als Politiker und Präsident des bernischen Jagdverbandes für den präventiven Abschuss von Wölfen ein. Dies sei notwendig.

Lorenz Hess, die Wölfe kehren in den Berner Jura zurück. Sind sie aus der Sicht der Jäger willkommen?
Lorenz Hess: Ich kann nicht die Meinung der 3000 Mitglieder des Berner Jagdverbandes vertreten. Als Präsident bin ich der Rückkehr der Wölfe gegenüber sehr kritisch eingestellt. Denn der Wolf wird wie der Fuchs ein Kulturfolger werden, er wird die Distanz zu den bewohnten Gebieten nicht wahren. Dies wird zu Konflikten führen.

Es ist wahrscheinlicher, im Wald von einem Wildschwein angegriffen zu werden als von einem Wolf. Einverstanden?
Weltweit sterben tatsächlich mehr Menschen an Wespenstichen als durch einen Wolfsangriff. Aber die Lebensräume in der Schweiz sind verschachtelt. Auch wenn es im Jura und im Mittelland keine grossen Schafsherden gibt, werden doch überall Schafe uns Ziegen gehalten, die potenzielle Beute des Wolfes sind. Und die Ausbreitung des Wolfes in landwirtschaftliche und bewohnte Gebiete ist programmiert. Er kann überall auftauchen, auch im Mittelland.

Als BDP-Nationalrat stimmten Sie für die Regulierung der Grossraubtiere. Weshalb?
Ziel ist, den absoluten Schutz der Wölfe zu lockern. Dies bedeutet, dass nicht nur der Bund das Recht hat einzugreifen, sondern auch die Kantone. Und zwar überall dort, wo das Konfliktpotenzial zu gross wird. Werden einzelne Wölfe geschossen, werden andere Wölfe dieses Gebiet meiden, denn Wölfe sind sehr lernfähig.

Sie wollen somit keine Rudel tolerieren, weil sich die Wölfe vermehren?
Im neuen Jagdgesetz werden klare gesetzliche Vorgaben gemacht. An einigen Orten soll teilweise eingegriffen werden, an anderen nicht.

Die Förster der Burgergemeinde Biel begrüssen die Rückkehr der Wölfe, weil der Wald unter dem Verbiss von Rehen, Gämsen und bald auch Hirschen leidet. Argument der Förster ist, dass es in ihrer Region trotz der Jagd zu viel Schalenwild gibt.
Grosse, unberührte Landstriche gibt es in der Schweiz keine. Weitgehend unberührte Regionen wie die Lüneburger Heide in Deutschland, wo der natürliche Kreislauf spielen kann. Die Schweiz ist geografisch total verschachtelt. Eine natürliche Regulierung durch Grossraubtiere ist deshalb aus meiner Sicht nicht möglich.

Sind Sie einverstanden mit dem Argument der Burgergemeinde Biel, dass es in diesem Forst zu viel Schalenwild gibt?
Im Kanton Bern gibt es gewisse Zonen mit viel Wild. Dort wird es stärker bejagt. In anderen Regionen nimmt der Wildbestand ab. Wölfe sind nicht sesshaft, sie bleiben nicht in Gebieten mit viel Wild, sondern gehen auf Wanderschaft. Zudem gehen die Meinungen bezüglich des Bestandes von Schalenwild auseinander. Interview: Lotti Teuscher

Info: Der Nationalrat hat gestern beschlossen, den Schutz des Wolfes zu lockern. Das letzte Wort wird wahrscheinlich das Stimmvolk haben.

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