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Alt und Jung

Spätes Schwimmen im See

Vor wenigen Tagen gingen meine Frau und ich wie jedes Jahr nochmals im See schwimmen. Die Temperatur des Wassers lag nur unwesentlich unter derjenigen der Luft.

Markus Waldvogel

Der See wirkte wärmend und erfrischend zugleich: Wer in einem Gewässer wenige Tage nach den letzten heissen Sommertagen in kühleren Verhältnissen und unter bedecktem Himmel schwimmt, spürt das Wasser auf eine besondere Weise, als wäre es eine Decke im frischen Herbst. Seine erst noch zögerlichen, dann kräftigeren Schwimmbewegungen scheinen den Sommer noch einmal aufleben lassen zu wollen.

Das Wasser aber, als noch wärmende Erinnerung, hat schon die Zukunft aufgenommen, verweist vorwärts auf die kalten Wintertage. Wenn die Schwimmerinnen und Schwimmer den See verlassen, werden sie sich der nunmehr nasskalt wirkenden Tropfen am Ufer schleunigst erwehren. Sie gehen zurück in wärmende Gemäuer, freuen sich aber über das genossene Bad mit seinen elementaren Momenten, mit den im Wasser gebundenen Sommerstunden.

Diese erlebte Zeit ist allgegenwärtig. Für meine Frau und mich wurde die kühle und doch noch angenehme Wassererfahrung zu einer grundlegenden Erfahrung von Flüchtigkeit und Präsenz. Die flüchtig-präsente Zeit skizziert den Widerspruch zwischen dem Hier-und-Jetzt und dem gleichzeitigen Vorüber-Sein. Deshalb zerrann sie uns buchstäblich zwischen den Händen. Wir haben oft darüber gesprochen, wie in der wechselseitigen Erfahrung zwischen dem eigenen Körper im Wasser, an dem der Zahn der Zeit immer schon nagte und dem in diesem hausenden Bewusstsein ein Gefühl für den Moment, für die Gegenwart entsteht.

Dieses «Jetzt» gleicht fallenden Dominosteinen, es kommt zum Erliegen und wird dann einfach zu einer Erinnerung. Doch aus dieser schöpft das Bewusstsein die Vorstellung des Wiederkommenden unter wechselnden Bedingungen. Diese können sehr ähnlich, völlig anders, erfreulich und natürlich auch schmerzhafter sein. Ein «Es-ist-wieder-so» gibt es nicht. «Gäng wie gäng» ist eine uns lieb gewordene Illusion. Selbst wenn seit dem letzten Jahr wenig Offensichtliches passiert ist, gibt es Veränderungen. Vielleicht wurde am Ufer ein Baum gepflanzt, eine Steinplatte ersetzt oder ein Strauch massiv zurückgestutzt. «Es» geht weiter und dieses Zeiterlebnis ist existenziell; meine Frau und ich lieben es, immer wieder am selben Strand ein letztes Mal im Jahr zu schwimmen. Wir schätzen unsere kleine Tradition. Und ja, wir wissen, der nächste Sommer kommt bestimmt und der übernächste wohl auch. Was aber dann? Was bleibt? Allein die Hoffnung? Worauf?

Der amerikanische Philosoph und Wolfskenner Mark Rowland schrieb im Jahre 2000: «Hoffnung ist die Gebrauchtwarenverkäuferin der menschlichen Existenz: sehr freundlich, sehr überzeugend. Aber man kann sich nicht auf sie verlassen. Das Wichtigste in unserem Leben ist das Ich, das zurückbleibt, wenn die Hoffnung versiegt. Am Ende wird die Zeit uns alles rauben. Alles, was wir durch Begabung, Fleiss und Glück erworben haben, wird uns weggenommen werden. Die Zeit reisst unsere Kraft, unsere Sehnsüchte, unsere Ziele, unsere Projekte, unsere Zukunft, unser Glück und sogar unsere Hoffnung an sich. Alles, was wir haben, alles, was wir besitzen können, wird die Zeit uns wegnehmen. Aber was die Zeit uns nie rauben kann, ist die Person, die wir in unseren besten Momenten waren.»

Man kann es auch anders sehen: Die Person, die wir einmal waren, steckt in den Erinnerungen. Sie hat Fotoalben-Potenzial. Als Schwimmende im Herbst dagegen sind wir da. Wir erleben, wie solche Momente zählen und uns guttun können. Wir möchten deshalb nie aufhören mit dem späten Schwimmen im See. Wir wünschen, dass es bis zuletzt so bleibt. Ob das Wünschen hilft, weiss allerdings keiner.

Kurt Marti schreibt in seinen nachgelassenen Gedichten «Hannis Äpfel»:

 

bin nicht in der lage

bin fast nie in der lage

bin überhaupt

in keiner lage mehr

mein los

heisst: lagelos

wie werd ich

diese lage los?

 

Eine mir sehr wichtige Person ass an ihrem letzten Abend Spaghetti Bolognese. Ihr Lieblingsmenu. Dann drehte sie sich um und schlief für immer ein. Sie wurde ihre Lage los. Gottseidank. Und ich erinnere mich an sie, an gute und an schlechtere Zeiten. – Im nächsten Herbst werden wir erst recht wieder im See schwimmen. Sei’s drum.

Mein Lieblingsmenu? Chili con Carne.

 

Info: Markus Waldvogel ist 69 Jahre alt und schreibt Essays, Kolumnen, Sachbücher und Poesie. Er befasst sich mit Fragen der Einzigartigkeit, der Wahrnehmung und der Ästhetik. Seine Publikationen sind unter anderem im Verlag Die Brotsuppe und im PassagenVerlag erschienen.

kontext@bielertagblatt.ch

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