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Titelgeschichte

«Speichelleckerei bringt im Umgang mit China nichts»

Europa – und damit auch die Schweiz – müsse seine Interessen gegenüber China mit mehr Selbstbewusstsein vertreten, sagt 
der Asienexperte Urs Schoettli. Er fordert gleich lange Spiesse 
im Welthandelssystem und sagt: «Das chinesische System ist keineswegs so stabil, wie man sich das vorstellt.»

29. April 2019: Bundestrat Ueli Maurer und Chinas Präsident Xi Jinping bei der Willkommenszeremonie in Peking. Bild: Keystone

Interview: Tobias Graden

Urs Schoettli, waren Sie schon mal auf einem chinesischen Wildtiermarkt?

Urs Schoettli: Ja, das war ich.

Was war Ihr Eindruck?

Nun, wenn man mit unserem Verständnis von Hygiene und Tierschutz hingeht, dann ist ein solcher Ort inakzeptabel. Es ist ein riesiges Durcheinander, und wie die Tiere behandelt werden … es braucht starke Nerven. Viele jüngere Chinesen gehen selber nicht mehr auf solche Märkte, das ist eher ein Überbleibsel der älteren Generation. Die Vorliebe für exotische Tiere ist auch nicht im ganzen Land gleich gross. Aber eben: China ist gross. Man hatte ein ähnliches Problem schon 2003 mit Sars, als eine Wildkatzenart als Überträger bekannt war. Die Märkte wurden gesäubert, aber nach einigen Wochen sah alles wieder gleich aus.

Und waren Sie schon mal in einem chinesischen Virenlabor?

(lacht) Nein. Aber es reicht auch, Gesundheitsinstitutionen wie Spitäler von innen zu sehen – in den Städten haben diese hohe Standards, doch auf dem Land sieht das auch wieder anders aus. Das provinzielle China ist in weiter Hinsicht nach wie vor ein Entwicklungsland, und entsprechend sind die Hygienevorstellungen.

Ich frage, weil sich die Frage nach dem Ursprung des Coronavirus auch daran entzündet, ob es quasi auf «natürlichem» Wege vom Tier zum Menschen fand oder ob es aus einem Labor in Wuhan entwich.

Angesichts des saloppen Umgangs mit Vorschriften könnte ich mir schon vorstellen, dass die Labortheorie möglich ist. Ich bin aber weder befugt noch befähigt, darüber Spekulationen anzustellen. Jedenfalls hatte ich als Europäer oft den Eindruck, der lasche Umgang mit der Hygiene in China sei eine Zeitbombe.

Das ist eine ziemlich eurozentrische Sichtweise.

Klar. Ich bin auch viel in Indien, und dort habe ich denselben Eindruck. Es ist nun mal auch eine Kulturfrage. Und in einer armen Gegend, in der die Winter hart sind, isst man eben eher mal alle Tiere, die einem gerade über den Weg laufen, das kann auch eine Überlebensfrage sein. Solche Verhaltensweisen haben sich über lange Zeit entwickelt.

Jedenfalls wurde China für den Umgang mit dem Coronavirus anfänglich gelobt, dann aber umso heftiger kritisiert. Wie haben Sie die Debatte wahrgenommen?

Man muss berücksichtigen, wie der chinesische Staat, der kommunistische Autoritarismus, funktioniert. Dieser war mit Sicherheit verantwortlich dafür, dass der Ausbruch der Epidemie zu Beginn vertuscht wurde. Aber es gibt da ein Element, das weit in die chinesische Geschichte zurückweist: Auch die Mandarine haben die Probleme vor Ort – Katastrophen oder den Ausbruch einer Epidemie – nicht sofort dem Kaiser gemeldet, sondern man hat alles unternommen, um das Problem unter Kontrolle zu kriegen. Und wenn es unter Kontrolle war, dann ging man zum Kaiser, erzählte davon und sagte, es sei nun gelöst. Die gleiche Vertuschung konnte man beim Ausbruch von Sars beobachten. Diese Epidemie brach in Südchina aus, schwappte nach Hongkong über, und dort gab es die freien Medien, die darüber berichteten. Das Hauptproblem beim Coronavirus war wohl, dass sich die Behörden vor Ort nicht zur Meldung getrauten, weil das chinesische Neujahr unmittelbar bevorstand. Dieses ist eine der grössten Reiseveranstaltungen der Welt, hunderte Millionen reisen herum. Also geriet das Problem ausser Kontrolle. Es kommt aber noch etwas Zweites dazu.

Was denn?

Man kann den chinesischen Statistiken nicht trauen. Seien es Wirtschaftsdaten, Todesraten oder eben die Zahlen zum Coronavirus – ich traue diesen Zahlen überhaupt nicht. Sie werden von der Partei vorgegeben. Es sind nur Zahlen verlässlich, die von internationalen Organen überprüft werden können.

China hat das Virus im Inland mit drastischen Mitteln bekämpft, es aber mit der Erlaubnis von Auslandsflügen «exportiert». Was steckt dahinter?

Das ist Fahrlässigkeit. Man kann natürlich spekulieren, das sei Absicht gewesen, um die Weltwirtschaft zu schwächen – doch ob das wirklich der Plan war, bezweifle ich. Und problematisch war natürlich, dass die WHO völlig unzuverlässig war. Politisch habe ich das Heu überhaupt nicht auf der gleichen Bühne wie Donald Trump, aber in seiner Kritik an der WHO hat er recht. Man muss sich vor Augen halten: Wie jede UNO-Organisation muss auch die WHO das sagen, was ihre Zahlmeister vorgeben. Es gibt keine Unabhängigkeit gegenüber den Regierungen. Nehmen Sie die Menschenrechtskommission: Es ist völlig irrwitzig, dass China dort Einsitz hat. Genauso hat der WHO-Generaldirektor China für seine Transparenz gelobt – völliger Humbug.

Ist es angesichts dessen, was Sie nun geschildert haben, nicht erstaunlich, dass nicht mehr Länder von China Schadenersatz fordern?

Das ist eine hochinteressante Sache. Wir haben einen Ausnahmezustand, ich wüsste nicht, wie man vorgehen müsste, um Schadenersatz zu fordern. Der Schaden, der angerichtet wurde, ist schlichtweg gigantisch. Eine bleibende Auswirkung wird sicher sein, dass die ohnehin schon angeschlagenen amerikanisch-chinesischen Beziehungen den Bach runter gehen.

Wenn es einen Sieger in der ganzen Krise gibt, dann dürfte es jedenfalls China sein. Es hat die Epidemie zuerst überwunden und konnte die Wirtschaft als erstes wieder hochfahren.

Hinzu kommt noch, dass es von Anfang an einen Wettbewerb um den Zugang zum Virus gab, für Forschungszwecke, für Therapien und zur Entwicklung eines Impfstoffs. Bis heute arbeiten die chinesischen Behörden nicht auf eine Weise mit den internationalen Organisationen zusammen, wie dies zu erwarten wäre. Interessant ist ja, dass eine Delegation der amerikanischen Botschaft im Labor in Wuhan war und schon Anfang 2018 vor den dortigen Zuständen warnte. Aber passiert ist nichts. Der Umgang mit der Pandemie hat gezeigt, dass die Kooperationsfähigkeit und der Kooperationswille von China nicht sehr gross sind.

China hat auch bewusst die Geschichte von Corona umzudeuten versucht, indem behauptet wurde, das Virus sei vom Ausland eingeschleppt worden. Ist diese Erzählung dazu gedacht, das eigene Volk ruhig zu halten?

Obwohl der Machtapparat der Kommunistischen Partei KPC ein monolithischer ist, gibt es durchaus unterschiedliche Meinungen. Es gibt Menschen, die sehr chauvinistisch und nationalistisch sind, andere sind weltoffen. Als China in der internationalen Meinung unter Druck gekommen ist, sind die chauvinistischen Kräfte in den Vordergrund getreten. Sie haben die Idee lanciert, dass das Virus von den Amerikanern eingeschleppt worden sei. Doch nun betrachten wir mal die chinesischen Medien. Diese haben zwar nicht den Pluralismus, den wir im Westen gewohnt sind, doch es gibt gewichtige und interessante Unterschiede. Die Zeitung «Global Times» etwa ist sehr nationalistisch und vermutet hinter allem, was der Westen tut, eine böse Absicht. Sie spielt auf die Geschichte an und rührt an nationale Traumata, etwa der Besetzung Pekings. Doch dann gibt es das Magazin «Caixin», eine chinesische Version von «The Economist», oder die «South China Morning Post», die wichtigste Zeitung in Hongkong. Ich war beeindruckt, wie dort die Journalisten mutig Fragen stellen und schreiben, dass die Pandemie auch auf das Versagen der chinesischen Behörden zurückzuführen ist. Sie üben auch grosse Kritik an der Unzuverlässigkeit der chinesischen Zahlen.

Macht man sich also ein falsches Bild, wenn man davon ausgeht, in China herrsche eine gleichgeschaltete Realität und es gelte ohnehin nur das, was die Partei sagt? Es gibt doch genug Beispiele von kritischen Journalisten, die zum Schweigen gebracht wurden.

Es gibt No-Gos, bei denen unmittelbar die Zensur einschreitet. Man könnte etwa nicht schreiben, dass die Partei abgeschafft gehöre, man dürfte auch nicht für die Unabhängigkeit Hongkongs eintreten. Doch es gibt Graubereiche, in denen interessant berichtet und kommentiert wird. So gab es in der Coronakrise durchaus Kritik am Verhalten der Behörden oder der Spitäler. Und: Die Menschen in China sind nicht dumm. Sie vertrauen den offiziellen Zahlen und Stellungnahmen hinten und vorne nicht. In einem solchen System hat jemand, der einigermassen gut durchs Leben kommen will, Abwehrmechanismen entwickelt, die ihm eine private Meinung ermöglichen.

Begriffe wie «Wahrheit» oder «wissenschaftliche Tatsache» haben also auch im heutigen China ihren Wert?

Davon gehe ich aus. Nehmen Sie das Beispiel von Li Wenliang, dem Arzt in Wuhan, der als erster vor den Gefahren des Virus warnte. Er wurde von den Behörden kaltgestellt und abgestraft. Das gab einen grossen Aufruhr in der Bevölkerung. Zensoren sind ja oft nicht die intelligentesten Typen, oft finden sie erst mit Verspätung heraus, was sie zensieren sollten. Zu Li Wenliang erschienen in den Medien Stimmen, die ihn als Whistleblower verteidigten. Er sagte den berühmten Satz: «Das Problem ist, wenn es nur eine Wahrheit gibt.» Die Behörden merkten, wie wichtig der Arzt für die Bevölkerung ist, und erklärten ihn dann zum Märtyrer. Ähnliche Vorgänge gab es auch beim Ausbruch von Sars.

Hat denn die Coronakrise das Potenzial, in China selber eine Veränderung hervorzubringen?

Nun, ich war ja selber vor zehn Jahren recht optimistisch, was die politische Erneuerung Chinas betrifft. Allerdings konnte niemand voraussehen, wie Xi Jinping als Nachfolger von Hu Jintao regieren würde. Nun muss man feststellen: Xi Jinping ist ein hochintelligenter Mann und nicht bloss ein Technokrat. Er weiss, dass es die Köpfe zu kontrollieren gilt. Einerseits also herrscht in China ein totalitäres Regime, anderseits ist in den letzten 30 Jahren enorm viel Wissen und Intelligenz akkumuliert worden. Das China von heute ist ein komplett anderes als jenes von vor 10 oder 20 Jahren. Und: Derzeit ist ein hochinteressanter Generationenwechsel im Gang. Jene Chinesen, die heute jünger als 40 oder 50 Jahre alt sind, sind die ersten seit 200 Jahren, die keine tiefgreifende Krise, einen Krieg, eine ausländische Besetzung oder eine Hungersnot mehr miterlebt haben. Es sind Wirtschaftswunderkinder. Diese Generation hat viele Ideen, Präferenzen und Elemente des Lebensstils aus dem Westen übernommen. Das betrifft vor allem die Bevölkerung der grossen Städte, diese reist viel und geht mit offenen Augen durch die Welt.

Ob sie wirklich politisiert ist, ist eine andere Frage.

In der Tat, ich erlebe viele junge Chinesen, die sich komplett von der Politik abgewendet haben, weil sie die Politiker ohnehin für korrupt halten. Sie wollen lieber persönlich im Leben vorankommen. Gleichwohl: Diese grosse Gruppe von Menschen gab es in China vor 30 Jahren schlicht noch nicht. Das grosse Problem in Diktaturen ist ja die Machtübergabe. Die Übergabe an Xi Jinping 2012 war keine gelungene, es gab keinen sauberen Transfer. So gibt es heute auch im engsten Kreis keinen Kronprinzen für eine allfällige Nachfolge Xi Jinpings.

Das Problem ist insofern gelöst, als dass Xi Jinping für sich die Amtszeitbeschränkung aufgehoben hat.

Exakt. Es gibt in Peking zwei sehr renommierte Universitäten, die Beijing University und die Tsinghua University. Beide haben eine vife Polit-Abteilung. Ein Soziologe von dort hat mir mal erzählt: Eine der ganz wenigen politischen Reformen, die eingeführt wurden, war die Amtszeitbeschränkung. Genau diese ist nun wieder aufgehoben, ein gewaltiger Rückschritt. Es herrscht nun offiziell die fünfte Regierungsgeneration. Die Übergabe von der dritten zur vierten Generation, von Jiang Zemin zu Hu Jintao, stand noch unter dem Einfluss des grossen Staatsmannes Deng Xiaoping. Heute aber ist Xi Jinping zwar Chef von allen relevanten Gremien, doch auch für ihn hat der Tag nur 24 Stunden. Was passiert, wenn er morgen tot umfallen sollte? Das System ist keineswegs so stabil, wie man sich das vorstellt.

Gleichwohl: Man ist davon ausgegangen, dass mit dem steigenden Wohlstand und wirtschaftlichen Freiheiten auch der Ruf nach politischen Freiheiten lauter werde. Dies jedoch ist nicht eingetroffen – die KPC kann die kommunistische Parteidiktatur aufrechterhalten und sie mit kapitalistischem Gewinnstreben bestens vereinigen. Das zeigt doch, dass das System durchaus stabil ist.

Es gibt kein Gen, das die Chinesen gegen die Demokratie immun macht. Die Entwicklung in Taiwan ist in dieser Hinsicht bemerkenswert. Taiwan ist mittlerweile eine funktionierende Demokratie und hat – bei allem Machismo der Chinesen! – derzeit eine Frau als Staatspräsidentin. Man muss stets auch das grosse Verhängnis der Vergangenheit berücksichtigen: Es war keineswegs prädestiniert, dass die Kommunisten um Mao Zedong an die Macht kommen würden. Es gab vorher durchaus starke liberale Kräfte, es hätte alles auch anders ausgehen können. Und: Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Dynastie der KPC, die am 1. Oktober 1949 an die Macht gekommen ist, zu Ende gehen wird. Alle Dynastien in China sind irgendwann an ihr Ende gekommen. Die chinesische Geschichte hatte immer auch ein revolutionäres Element.

Wann könnte dies denn der Fall sein?

Das kann derzeit niemand voraussagen. Es gab Dynastien, die hielten 70 Jahre, so alt ist jetzt die kommunistische Dynastie. Andere dagegen dauerten 240 Jahre. 2021 ist der 100. Gründungstag der KPC, Xi Jinping blickt schon ins Jahr 2049, wenn die Dynastie der KPC 100 wird.

Er beruft sich auf das «Mandat des Himmels».

In der Tat. Doch im konfuzianischen Staatsverständnis ist dieses etwas anderes als die Herrschaft von Gottes Gnaden, die wir aus der europäischen Geschichte kennen: Das Mandat des Himmels kann man auch verwirken. Der Herrscher muss seine Pflichten erfüllen. Er muss das Land gut verwalten, für Sicherheit und Prosperität sorgen und das Ansehen im Ausland mehren. Das ist eine grosse Herausforderung. Die KPC konzentriert sich vor allem auf das Wirtschaftswachstum und das Ansehen in der Welt – es ist China wichtig, wieder als eine Macht zu gelten.

China bietet mittlerweile das eigene Modell als erfolgreiche Alternative der ganzen Welt an. Manche Länder sind dafür empfänglich, doch es gibt auch Gegendruck. Stehen wir in der Frühphase eines neuen Kalten Kriegs?

Ich bin dieser Meinung. Für einen politischen Beobachter ist die Lage faszinierend. Wir leben in einer Zeit, in der gar kein Verlass im alten Sinn mehr ist. Nehmen wir den amerikanischen Präsidenten: Er führt in manchen Bereichen so, wie es noch niemand gewagt hat, wenn er etwa Russland, Australien, Indien und Südkorea an den G7-Gipfel einlädt. Das ist brillant und wird der veränderten Welt gerecht.

Aber im Hinblick auf China …

Auch die Chinesen kochen nur mit Wasser. Sie haben im Moment mit fast allen Probleme: Mit Südkorea, Russland traut ihnen nicht über den Weg, sie haben Grenzstreitigkeiten mit Indien, es gibt die Auseinandersetzungen im südchinesischen Meer … Auch die grossen Würfe wie die «Neue Seidenstrasse» können scheitern.

Warum?

Die Chinesen sind wackere Rassisten. Man muss nur etwas abwarten und sieht vor Ort dann schon, was passiert, etwa in Pakistan. Für die Chinesen sind die Pakistani Untermenschen. Das löst entsprechende Reaktionen aus. In Afrika gibt es ebenfalls vielerorts Spannungen. In Südostasien gibt es grosse Skepsis gegenüber China, gerade gibt es Probleme mit Sri Lanka, weil dieses die chinesischen Kredite nicht bedienen kann. China war also in den letzten Jahren auch gemessen an den eigenen Ansprüchen nicht nur erfolgreich. Denn der materielle Fortschritt – etwa ein Aufbau von Infrastruktur –, das ist bloss der einfache Teil des Ganzen.

Die Herzen zu gewinnen aber ist schwieriger.

Ja, und vor allem die Gehirne. China will auch in der Forschung an die Weltspitze gelangen. Innovation gelingt aber nicht mit Parteiapparatschiks, sondern dazu braucht es Menschen, die eigenständig denken. Xi Jinping versucht, den Problemen an der Innenfront mit der Konstruktion eines Feindbilds von aussen zu begegnen. Der derzeitige Nationalismus und Chauvinismus ist ein Instrument, das zum Einsatz kommt. China ist eben auch ein Land mit einer verletzten Seele, das sich 200 Jahre lang von den barbarischen Weissen erniedrigt sah.

Sie haben kürzlich geschrieben, dass sich China übernommen habe und sein System eine immanente Wachstumsgrenze aufweise.

In mancher Hinsicht hat sich China zu weit aus dem Fenster gelehnt. Nun ist in Asien aber die Gesichtswahrung enorm wichtig. Also steht man vor der Herausforderung, vom hohen Ross hinunterzukommen und gleichzeitig das Gesicht zu wahren. China hat so viele Achillesfersen! Das lässt sich eine gewisse Zeit lang überspielen, doch plötzlich kommen sie eben zum Vorschein, wie man jetzt in der Pandemie gesehen hat. Diese brachte einen grossen Einbruch des Wirtschaftswachstums. Und trotz der militärischen Aufrüstung sind die USA nach wie vor das einzige Land, das weltweit Einsätze durchführen kann. Wer hält denn die Strasse von Malakka offen oder die Strasse von Hormus? Nicht die Chinesen. Wenn man von Peking aus in die Welt schaut, kann man sich schon von amerikanischen Verbündeten umzingelt fühlen. Also versucht man mit Soft Power, sich aus dieser Umzingelung zu lösen. Dazu dient etwa die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank, eine chinesische Version der Weltbank.

Sie haben geschrieben, dass die härtere Linie der USA gegenüber China auch nach einem allfälligen Präsidentenwechsel anhalten dürfte. Wie bewerten Sie die US-Politik?

China hat sich über lange Zeit ins gemachte Bett legen können und hat vom Weltwirtschaftssystem profitiert, das der Westen geschaffen hat. Ohne internationalen Handel, ohne internationale Finanzströme wäre China nicht aus der Armut gekommen. Ich bin ein grosser Bewunderer von Deng Xiaoping, dem Vater der wirtschaftlichen Erneuerung. Er hat die Probleme pragmatisch angepackt, er stand auch hinter dem Prinzip «Ein Land, zwei Systeme» mit Hongkong. Er fehlt heute. Deng Xiaoping hat bewusst die Exportindustrie gefördert, davon hat China profitiert. Heute aber gilt es festzustellen: China trägt auch eine Verantwortung in diesem System. Es kann nicht nur dauernd profitieren, ohne etwas beizutragen.

In welcher Hinsicht?

Es ist zum Beispiel völliger Nonsens, China als «Marktwirtschaft» zu bezeichnen. China ist keine Marktwirtschaft, denn es gibt keine Rechtsstaatlichkeit. Die USA haben das lange akzeptiert – und sie haben natürlich auch selber davon profitiert. Man konnte in Amerika auf Pump leben, ohne dass es grossen Inflationsdruck gegeben hätte. Aber Trump hat richtig erkannt, dass es so nicht weitergehen kann, wenn China die Regeln verletzt. Die China-Begeisterung ist weg.

Derzeit werden wieder Regulierungen zum Schutz hiesiger Unternehmen vor Übernahmen aus China diskutiert. War Europa bislang zu naiv im Umgang mit China?

Es ist höchste Zeit, dass auch wir unsere Spiesse verlängern. Im chinesischen System herrscht das absolute Primat der Politik. Alle wichtigen Wirtschaftsentscheide werden von der politischen Führung beschlossen. Diese Beschlüsse beruhen nur auf einer Absicht: Die KPC an der Macht zu halten. Es war noch Hu Jintao vor über zehn Jahren, der die berühmte Aussage getätigt hat, wonach China nicht dauernd nur Billiggüter produzieren werde, sondern die Spitze der Weltwirtschaft avisiere. Er sagte: Wir wollen dies mit friedlichen Mitteln tun, aber wenn das nicht möglich ist, können wir auch zu anderen greifen. Damit ist etwa der Aufkauf von Unternehmen gemeint. Ich bin ein Verteidiger der Marktwirtschaft, aber solche Aufkäufe dürfen nicht zugelassen werden.

Warum nicht?

Aus einem ganz einfachen Grund: Kaufinteressenten aus China haben einen Koffer mit unbegrenztem Geldinhalt. Das ist systemwidrig, der Markt wird ausgehebelt. Hinzu kommt, dass das Finanzsystem in China total intransparent ist. Auch dieses muss schliesslich der Partei zum Machterhalt dienen.

In der Schweiz sind es aber gerade die liberalen Stimmen, die sich gegen einen Übernahmeschutz aussprechen.

Wir leben in einem Zeitalter, in dem grosse Umschichtungen von Macht in der Welt stattfinden. Ich bin nicht grundsätzlich gegen Firmenverkäufe, aber die Chinesen müssen ihre Finanzen transparent darstellen. So, wie es heute läuft, kann man nicht davon ausgehen, dass China mit offenen Karten spielt.

Was heisst das für die offizielle Position der Schweiz gegenüber China?

Generell bin ich der Meinung, dass die Schweiz, dass Europa bei der Wahrnehmung der eigenen Interessen gegenüber China resoluter auftreten sollten. Vor allem muss auf der rechtlichen Gleichbehandlung der ausländischen Unternehmen und Investoren in China insistiert werden. Speichelleckerei bringt im Umgang mit den Chinesen nichts. Im Gegenteil: Ausländer, die um kurzfristiger Vorteile willen den voreiligen Kotau üben, werden zu Recht gering geschätzt.

Sprechen wir über Hongkong. Das einstige Versprechen «Ein Land, zwei Systeme» wird offenbar gebrochen. Wie geht es weiter mit Hongkong?

Das ist eine grosse Tragödie. Wenn man auf die jüngste Geschichte Chinas und Hongkongs zurückschaut, erblickt man eine Blütezeit zwischen 1990 und etwa 2010. Das hat viel mit dem Pragmatismus von Deng Xiaoping zu tun. Die Formel war eine ideale Lösung, sie hat berücksichtigt, was Hongkong ausmacht: das von den Engländern etablierte Rechtssystem und die Meinungsfreiheit. Man muss aber berücksichtigen, dass es auch keine Demokratie gab, als die Engländer Hongkong führten – erst am Schluss baute der letzte Gouverneur Chris Patten einige demokratische Elemente ein. Die Idee war: In Hongkong macht man Geschäfte, nicht Politik. Nun zeigt sich auf drastische Weise, dass politische Führung andere Qualitäten benötigt als jene, die Manager haben. Hongkong leidet darunter, dass es keine fähige politische Führung gibt. Chris Patten war in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Der folgende chinesische Gouverneur war eine politische Null. Auch die jetzige Regierungschefin Carrie Lam ist bloss eine Bürokratin. Die Hongkonger haben allerdings noch nicht internalisiert, dass sie heute ein Teil von China sind – das ist ein wichtiger mentaler Schritt. Aus der Sicht vieler Chinesen sind die Hongkonger ohnehin verdorben. In Festlandchina dürfte kaum jemand Partei für Hongkong ergreifen. Es hat also ein Abschied von jener Zeit stattgefunden, als Hongkong noch ein Aussenposten von Rechtsstaatlichkeit war.

Westlich orientierten, liberal gesinnten Bürgern von Hongkong bleibt also nur die Auswanderung?

Schon in den 80er-Jahren haben sich wohlhabende Hongkonger kanadische oder australische Pässe verschafft und sich so abgesichert. Heute dürfte Grossbritannien spezielle Visa-Regelungen für Hongkong beschliessen. Vertrauen, Transparenz und Sicherheit sind sehr delikate Güter. Wer die Chance hat zu gehen, wird Hongkong verlassen – mit den entsprechenden Folgen für den Finanz- und Handelsplatz. Shanghai beispielsweise wird das noch so recht sein.

Wird sich China nach Hongkong noch Taiwan vorknöpfen?

Das ist komplizierter. 1996, als Taiwan die ersten freien demokratischen Wahlen ums Staatspräsidium abhielt, hat China mit der Marine in die Hoheitsgewässer von Taiwan Salven geschossen. Der damalige US-Präsident Bill Clinton liess zwei Flugzeugträger ins südchinesische Meer verlegen. Diese Machtdemonstration gab den Chinesen die Möglichkeit zurückzufahren, eine Konfrontation konnte vermieden werden. Die heutige Sprunghaftigkeit des US-Präsidenten aber wird natürlich von den Chinesen intensiv verfolgt. Sie fragen sich, ob die USA denn Taiwan tatsächlich beistehen würde, sollte es tatsächlich zum Schlagabtausch kommen. Solche Fragen stellt man sich auch in Japan oder Südkorea – würden die USA den Bündnisfall einhalten? Nun ist es Staatsideologie, dass alle Chinesen unter einem Dach vereint sein müssen. Niemand, der in Peking an der Macht sitzt, kann den Anspruch auf Taiwan aufgeben – genau so wenig, wie er den Uiguren Autonomie zugestehen könnte. Rein logisch macht es angesichts der wirtschaftlichen Vernetzung für China zwar keinen Sinn, einen Krieg zu suchen. Doch es gibt zwei Faktoren, die Unsicherheit schaffen.

Welche sind das?

Ein Faktor kann sein, wenn jemand etwas Irreparables macht. Die Regierung in Taipeh vertritt offiziell nach wie vor Gesamt-China. Die Partei Kuomintang vertritt weiterhin den Anspruch auf das gesamte China wie die kommunistische Partei, es gab immer wieder auch Treffen zwischen den Parteispitzen. Die Demokratische Fortschrittspartei DPP, die derzeit an der Macht ist in Taiwan, hat aber eine andere Sicht. Auch hier lohnt ein Blick in die Geschichte: Nach dem chinesischen Bürgerkrieg 1949 kamen etwa eine Million Festlandchinesen zusammen mit Chiang Kai-shek nach Taiwan. Sie besetzten die lukrativen Jobs in Armee und Verwaltung. Es gab eine starke Oppositionsbewegung unter den eingesessenen Taiwanesen, die heute von der DPP vertreten wird. Sie will eine Republik Taiwan und nichts mehr mit China zu tun haben. Weitergehende Sezession könnte ein Kriegsauslöser sein. Allerdings hat Taiwan mittlerweile eine starke Verteidigung, eine gewaltsame Eroberung wäre wohl keine allzu leichte Angelegenheit.

Sie haben von zwei Faktoren gesprochen …

Der zweite könnte sein, wenn Peking sich tatsächlich Taiwan schnappen will, wenn Xi Jinping tatsächlich als der grosse Einiger Chinas in die Geschichte eingehen will. Die Geschichte der Weltkriege lehrt uns, dass sich Menschen nicht davon abhalten lassen, in den Krieg zu ziehen, auch wenn dies eine wirtschaftliche Vollidiotie ist.

Hat sich Ihre persönliche Haltung zu China in den letzten Jahren verändert?

Ich habe mich sehr stark mit der neueren Geschichte Chinas befasst. Ich habe eine grosse Sympathie für das chinesische Volk. Völker und Menschen können Glück und Pech haben in der Geschichte. Wir Schweizer hatten im 20. Jahrhundert enorm viel Glück, China hatte enorm viel Pech. Es ist eine grosse Tragödie, dass die Menschen unter dieses Regime gefallen sind. Ich bin absolut gegen dieses Regime, ich sehe nichts, womit man es verteidigen könnte. Und ich sehe nicht, warum China nicht auch fähig zur Demokratie sein sollte, auch wenn es sicher eine Übergangsphase brauchen würde und eine gewisse Gefahr bestünde, dass ein Multiparteiensystem zu einem Bürgerkrieg führen könnte. Ich sehe aber bei der jungen Generation gewisse Chancen, dass der Aufbau zu einer Bürgergesellschaft gelingen könnte. Das Bewusstsein für Umweltprobleme etwa ist stark gestiegen. Wichtig ist mir, dass in Europa die Unterwürfigkeit gegenüber China aufhört – und dass man sich hierzulande viel stärker mit China befasst, gerade mit seiner Geschichte. Dass es zu einer kommunistischen Diktatur wurde, war nämlich keineswegs unausweichlich.

Stichwörter: China, Wirtschaft, Schweiz, Politik

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