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Titelgeschichte

«Street-Art ist viel politischer als etablierte Kunst»

Bald ist der Dokfilm «Der Sprayer von Zürich» im Seeland zu sehen. Er ist dem legendären Graffitikünstler Harald Naegeli gewidmet. Im Interview spricht der 81-Jährige über seine Anfänge als Zeichner, seinen Hund, der ihn beim Sprayen begleitete und über seinen Freund Joseph Beuys.

Harald Naegeli begann im Zuge der 68er-Jahre mit dem Sprayen. Filmstill: zvg/Nathalie David: «Der Sprayer von Zürich»

Interview: Reinhold Hönle

Harald Naegeli, weshalb haben Sie zuerst abgelehnt, als Nathalie David einen Dokumentarfilm über Sie drehen wollte?
Harald Naegeli: Wenn alles auf mich fokussiert ist, fühle ich mich unbehaglich. Mir ist es am wohlsten, wenn ich ganz allein bin, im Dialog mit der Natur oder mit mir selbst. Die filmische Vermarktung ist mir fremd, aber vielleicht nicht nur nachteilig, da sie das Publikum dazu bringen wird, sich mit Kunst und philosophischen Gedanken auseinanderzusetzen. In einer Zeit, in der das Kollektiv auf der Suche nach Identität seine Stars imitiert, gerate ich selbst in diese Rolle und bekomme viele Briefe, in denen mythologisiert wird. Ich werde darin mit Attributen versehen, die ich gar nicht besitzen kann. Ich merke dabei immer wieder, dass mich diese eigentlich nicht beeindrucken.

Wie kamen Sie auf die Idee, Spraydosen zu verwenden?
In den 68ern sprayte man politische Slogans, Schlagworte und Symbole. Ein mir unbekannter Philosoph hatte diese Aktionen in folgende Worte gefasst, die ein Student auf eine Mauer sprayte: «Wer begriffen hat und nicht handelt, hat nicht begriffen.» Darauf sagte ich mir: «Dann habe ich bis jetzt auch nichts begriffen!» (Lacht) So begann ich mit meinen ersten Zeichnungen. Street-Art, wie man sie heute nennt, ist viel politischer als etablierte Kunst, denn sie ist zugänglich und wendet sich an die gesamte Bevölkerung, nicht nur an einen elitären Kreis von Kunstexpertinnen und Geschäftsleuten.

Weshalb haben Sie gesprayt –  aus Rebellentum, das Sie von Ihrer Mutter geerbt haben, oder um ein grösseres Publikum zu erreichen?
Ich habe geprayt, um mich selbst zu erfahren. Ich bin kein Maler. Ich mache Collagen und arbeite mit Klebstreifen oder anderen Dingen, die man montieren kann. Es muss etwas Körperhaftes involviert sein. Malerei ist etwas, bei dem man es mit Flächen zu tun hat und mit dem Pinsel Farbe aufträgt, um eine sinnliche Struktur herzustellen. Meine Mutter war Malerin. Ich habe ihr immer sehr fasziniert zugeschaut, aber der Geruch von Öl und Terpentin hat mich abgestossen. Ich hatte auch nie die nötige Geduld. Man muss warten, bis die erste Schicht trocken ist, bevor man weitermalen kann. Ich bin ein geborener Zeichner!

Wie hat sich das gezeigt?
Wie viele Kinder habe ich schon sehr früh zu zeichnen und kritzeln begonnen. Mein Vater war Arzt und bekam laufend Medikamenten-Prospekte. Auf der Rückseite war meist eine leere Fläche, auf der mein jüngerer Bruder und ich zeichneten. Ein lustiger Gedanke: Vielleicht waren das die wirkungsvolleren Heilmittel? Unsere Mutter hat immer meinen Bruder gelobt – bis sie eines Tages sagte: «Jetzt hat Harald die schönere Zeichnung gemacht.» Da war Hans so beleidigt, dass er aufgehört hat zu zeichnen ...

… und Ihr Stern aufgegangen ist?
Mir war es egal, dass meine Mutter vorher nur ihn gelobt hatte. Ich habe immer gezeichnet, weil es mir Freude macht. Es ist entscheidend, dass man nicht abhängig ist vom Urteil anderer, sondern selbst davon überzeugt ist, was man tut. Nicht nur in der Kunst ist das der Fall.

Wer hat Ihre Werke zuerst geschätzt: Die Bevölkerung oder die Kunstwelt?
Ich habe die Reaktionen nicht so sehr verfolgt und mich bedeckt gehalten. Selbst meine Brüder wussten nicht, dass ich spraye. Später meinten sie, ich wäre ein sehr missmutiger Mensch gewesen, bevor ich diese Befreiung fand, die mich zufrieden und liebenswürdig machte. (Lacht) Tatsächlich war es für mich ungeheuer befreiend, meine Revolte ausleben zu können.

Wie lief die Therapie ab?
Die erste Figur habe ich ganz schüchtern in einem Hinterhof angebracht. Mit der Zeit bin immer mutiger geworden. Als ich mal im Kantonsspital lag, hat ein anderer Patient zu mir gesagt: «Da ist einer ausgebrochen. Der ist nicht bei klarem Verstand, der bemalt die ganzen Häuser!»

Haben Sie Ihre Figuren auch fotografisch dokumentiert oder haben Sie das der Polizei überlassen?
Ich habe manchmal nachgeschaut, wie sie aussehen, ob sie noch da sind und sie gelegentlich auch verändert. Wenn ich sinnierend vor einer Figur stand, bekam ich manchmal auch Tipps wie «Schau, dort hinten hat es auch noch eine!». (Lacht)

Haben Sie sich für Ihre nächtlichen Sprayzüge getarnt?
Nein, ich war normal gekleidet, wie jeder Bürger. Mein Hund, der mich begleitete, hat immer ein Freudengebelllosgelassen, wenn es losging. Als man mir das erste Mal eine Falle gestellt hat, war er auch dabei. Es kam zu einem Handgemenge zwischen mir und dem Securitas, seinem und meinem Hund.

Wer hat gewonnen?
Ich bin geflohen, habe aber leider meine Brille verloren. Als ich sie am nächsten Tag suchte, eine Dummheit, bin ich von der Polizei verhaftet worden.

Wie wichtig ist der Humor, um mit all den Herausforderungen in Ihrem Leben umzugehen?
Der Humor ist das Wichtigste überhaupt! Der ist die Voraussetzung, um einigermassen vernünftig zu leben.

Weshalb haben Sie so lange in Düsseldorf gelebt? Wegen der dortigen Kunstszene?
Ich bin eine glückliche Natur. Ich nehme die Verhältnisse an, wie sie sind. Als ich nach meiner Verurteilung nach Deutschland geflüchtet bin, fühlte ich mich bei den dortigen Künstlerinnen und Künstlern sehr willkommen. Obwohl ich die Nähe zur Kunstszene nie suchte, habe ich unter ihnen einige Freunde gefunden. Dank der Unterstützung meiner Familie war ich ökonomisch unabhängig genug, um mich nie dem Diktat des heutigen Kunstmarktes unterordnen zu müssen.

Was meinen Sie damit?
Ich habe nie mit Galerien zusammengearbeitet. Der mächtige Trieb zu gestalten, war immer meine Motivation, nie der kommerzielle Erfolg. Heute geht es fast nur noch ums Business. Die spirituelle Komponente, die im letzten Jahrhundert noch eine wichtige Komponente in der Kunst war, ist verloren gegangen.

Sie haben viele Ihrer Werke an Museen verschenkt. Besteht auch die Möglichkeit, sich einen echten Naegeli zu kaufen?
Ja. Meine Stiftung hat den Zweck, Natur-, Tier- und Umweltschutz auch nach meinem Tod zu unterstützen. Dazu stelle ich einen Teil meiner Werke für Benefiz-Auktionen zur Verfügung.

Die Natur scheinen Sie zu lieben, zum Menschen aber ein zwiespältiges Verhältnis zu haben?
Durchaus. Joseph Beuys, ein naher Freund, hatte Charisma und ein positives Verhältnis zum Menschen. Seinen Optimismus teile ich in keinster Weise.

Haben Sie nur für die Kunst gelebt? Waren die sozialen Kontakte nicht wichtig?
Nicht relevant. Nur die Kunst-Utopie hat mich beschäftigt. Den Dialog mit der Natur vermisse ich sehr, weil meine Mobilität stark eingeschränkt ist. Früher ging ich oft in den Zoo und skizzierte Flamingos, Bären und Elefanten. Das ist anspruchsvoll, da Tiere nicht Modell stehen. Oft kann man nur ein Fragment einfangen, eine Pfote, den Rücken oder Kopf, bevor sie ihre Haltung ändern. Deshalb braucht es ein erfahrenes Auge und eine geübte Hand, um alles zu einem harmonischen Ganzen zusammenzufügen.

Gab es Persönlichkeiten, die Sie inspiriert haben?
Anfänglich war Kurt Schwitters meine Gallionsfigur. Er war einer der Ersten, der Collagen gemacht hat. Als ich an der Kunstgewerbeschule damit vertraut wurde, war ich sofort begeistert, während ich das Zeichnen ablehnte, das mir dort zu wissenschaftlich und akademisch war. Stattdessen habe ich mit der Collage gearbeitet. Auch Hans Arp war wichtig. Er hat den Dadaismus mitbegründet, in dessen Tradition ich auch meine Sprayaktionen sehe.

Wer hat Sie am meisten beeindruckt?
Mich haben Personen, die sich selbst sind, sehr beeindruckt. Darunter eine Frau, die Köchin in einer Pfarrersfamilie war. Nach ihrem Eintritt ins Altersheim hat sie mir gesagt, das Einzige, was sie vermissen würde, sei das Kochen. Mit anderen Worten: Glück ist, seine Bestimmung zu finden, bei welcher Beschäftigung auch immer. Enorm faszinierend war für mich auch Joseph Beuys. Er hatte zwei Seiten: Er war eloquent und hatte Logorrhö bis zum Gehtnichtmehr. (Lacht) Aber er war auch ein sehr spiritueller Mensch. Als ich ihn das erste Mal traf, habe ich sofort begriffen, dass er jemand ist, der sehr tief in sich reinschauen, aber auch sehr extrovertiert sein kann. Nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis fragte er mich, was ich jetzt machen würde. Ich antwortete: Handzeichnungen. Darauf Beuys, sehr typisch für ihn: «Handzeichnungen! Fusszeichnungen! Sag doch einfach Zeichnungen.» Er sagte es liebenswürdig, väterlich. Er war eine messianische Figur.

Wie stufen Sie die Graffiti-Pioniere aus den amerikanischen Ghettos ein?
Die ersten Graffiti stammen gar nicht von einem Amerikaner, sondern von einem Franzosen, Gérard Zlotykamien, der im Grunde kein Vokabular besass, weshalb er in Vergessenheit geraten ist. Die Amerikaner haben vor allem ihren Selbstdarstellungszwang ausgelebt. «Kilroy was here». Er war einer der Ersten, der sich damit vergnügt hat, seinen Namen überall zu hinterlassen. Er hatte viele Nachfolger, aber in einem gestalterischen Sinn sind mir sehr wenige Leute aufgefallen. Diese Graffitis waren eigentlich Vorläufer der Selfies, mit denen man sich heute selbst feiert.

Hat sich eigentlich die mangelnde Lebensqualität in Zürich, gegen die Sie mit dem Sprayen protestiert hatten, zum Positiven verändert?
Leider nicht.

Seit den Kontroversen um Ihre Ausführung des Totentanzes im Grossmünster 2018 sind Sie in Zürich wieder ein Gesprächsthema. Sind Sie darüber erfreut oder schockiert, dass Ihre Kunst noch immer so wenig geschätzt wird?
Die stumpfsinnige Reaktion der Obrigkeit irritiert schon. Andererseits ist es die Aufgabe jedes Künstlers, dass er provozieren muss. Es kommt darauf an, welche Fähigkeiten er besitzt. Der wahre Künstler ist eine spirituelle Person mit handwerklichen Fähigkeiten, doch es gibt natürlich auch unzählige Schmierfinken. Trotzdem ist es in keinem Fall eine Sachbeschädigung, wie sie rechtsgültig definiert wird. Was ist beschädigt oder in seiner Funktion verhindert? Nichts, es ist etwas hinzugefügt worden.

Sollte kein Unterschied gemacht werden, welche Qualität die Graffitis haben?
Der juristische Sachverhalt ist immer gleich, egal ob es sich um Selbstinszenierung, künstlerische Gestaltung, Schmierfinkerei oder politische Manifestation handelt. Aber man kann die verschiedenen Formen künstlerisch bewerten.

Der Totentanz ist in Ihrem Werk kein neues Motiv. Den ersten haben Sie bereits vor 40 Jahren in Köln gesprayt. Wie kam es dazu?
Er entstand aus einer persönlichen Erfahrung heraus. Auf einer Wanderung im Bündnerland war ich einmal gezwungen, eine steile Felswand hinaufzusteigen. An einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab, konnte ich mich mit dem Griff meines Wanderstocks mit letzter Kraft hinaufziehen. Mein Tod war damals sehr nahe. Als ich in Sicherheit war, habe ich so tief wie noch nie durchgeatmet. Der Tod ist sowieso ein Menschheitsthema, aber die Idee der Unsterblichkeit grassiert. Traurig, dass sogar Kirchen und das Kunsthaus den Tod verleugnen und sich verpflichtet fühlen, meinen Totentanz zu ignorieren oder sogar auszulöschen.

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