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Alt und Jung

Tagträumen für Fortgeschrittene

Wer würde nicht gerne den nächsten Bestseller schreiben oder eine brillante Geschäftsidee haben? Aber mit den Ideen ist es wie in der Liebe – die Muse küsst einen nicht immer.

Luca Brawand alias Landro

Wer würde nicht gerne den nächsten Bestseller schreiben oder eine brillante Geschäftsidee haben? Aber mit den Ideen ist es wie in der Liebe – die Muse küsst einen nicht immer. Nach längeren Phasen, in denen ich keine Musik gemacht habe, bin ich manchmal regelrecht erstaunt, dass ich 
immer noch Songs schreiben kann. Und ungefähr ähnlich verhält es sich mit meinen monatlichen 
Kolumnen an dieser Stelle. Aber irgendwie geht es dann doch immer wieder. Heisst das, man kann Inspiration und Ideen erzwingen? So einfach ist es wahrscheinlich doch nicht. Aber wenn man will, dass einem eine Idee zufliegt, muss man sie auch zulassen.


Heutzutage gibt es so viele Ablenkungsmöglichkeiten, dass ich mich manchmal bewusst dagegen entscheiden muss, um meine eigenen Gedanken zu ordnen. Wenn der Kopf in jeder freien Sekunde einen Podcast, eine Netflix-Serie, eine Whatsapp-Nachricht oder eine Newsmeldung konsumieren und verarbeiten muss, bleibt irgendwann gar keine Zeit mehr übrig, um über das eigene Leben nachzudenken. Wenn es nur noch Input gibt, bleibt auch kein Platz mehr für Output. Mittlerweile gibt es diverse Studien zum Thema «mind-wandering» – was übersetzt so viel bedeutet wie Gedankenwandern – die besagen, dass dies bei gutem Gemütszustand zu Kreativität und Produktivität führen soll. Im ersten Moment denkt man bei dem Begriff vielleicht an Tagträumen. Obwohl es zwar in die gleiche Richtung geht, ist es jedoch nicht ganz dasselbe: Es beschreibt weniger ein fiktives Träumen und mehr, dass man den eigenen Gedanken nachhängt und dabei unter Umständen schnell von Thema zu Thema springt. Also sozusagen Tagträumen für Fortgeschrittene.


Es ist kein Zufall, dass viele Leute behaupten, 
ihnen kämen die besten Ideen unter der Dusche. Sobald der Duschhahn aufgedreht ist, lässt man seinen Gedanken freien Lauf. Es geht also darum, irgendetwas, das wenig oder gar keine Aufmerksamkeit erfordert, passiv zu erleben und dabei in Gedanken zu versinken. Dieses divergente Denken hilft uns, spielerisch und unsystematisch an Probleme heranzugehen und somit sowohl kreativer als auch produktiver zu werden. Sei es nun auf dem Fenstersitz während der Zugfahrt oder beim Sinnieren über das Leben beim Staubsaugen. Und wenn man immer zuhause ist, muss man diese 
Momente manchmal aktiv erzwingen. In der Langeweile steckt aber auch enorm viel Potenzial für Ideen. Man muss ihnen aber die Chance geben, überhaupt erst zu entstehen, bevor man die Leere der Monotonie mit dem nächsten sieben Sekunden Video füllt. Das Lesen finde ich eine spannende Zwischenform aus «mind-wandering» und Unterhaltung. Ich fühle mich zwar unterhalten, kann aber jederzeit in meine eigenen Gedanken abdriften, wenn ein Satz oder ein Wort etwas auslöst. So entstehen wieder neue Ideen oder man denkt möglicherweise anders über ein Thema nach. Wie auch immer man es macht, ein wenig den Kopf lüften und aufräumen kann sicherlich nicht schaden. Und vielleicht kommt man dabei sogar auf die Idee des Lebens. Erzwingen kann man zwar nichts – aber immerhin die Möglichkeit dazu schaffen.


In meiner Kindheit hatte ich zuhause das Buch «Struwwelpeter», ein aus heutiger Sicht pädagogisch höchst fragwürdiges und im Nachhinein gesehen leicht traumatisierendes Werk. Auf jeden Fall gab es in diesem Buch auch die vergleichsweise harmlose Geschichte vom «Hans Guck-in-die-Luft». Dieser ist auf dem Schulweg in seinen Gedanken verloren und stolpert deshalb über einen Hund und fällt schliesslich ins Wasser. Das Buch sollte natürlich zeigen, was man nicht tun sollte. Heute deute ich die Geschichte jedoch einfach auf meine Weise und ziehe daraus, dass die Welt ein bisschen mehr Hans gebrauchen könnte und dass man auf dem Weg zu einer guten Idee vielleicht auch einige Male ins Wasser fallen muss.

Stichwörter: Alt, Jung, Erziehung, Muse, Kreativ, Meinung, Fokus

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