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Wochenkommentar

Theresa May musste scheitern. Das sollte die Schweiz interessieren.

Am Freitag hat Theresa May tatsächlich das Handtuch geworfen. Ihr Versprechen, den Brexit zu liefern, für den die Briten 2016 stimmten, hat sie nicht halten können. Das räumte die Premierministerin selbst ein, unter Tränen.

Matthias Knecht, Blattmacher

Matthias Knecht


Offiziell am 7. Juni endet damit eine für britische Verhältnisse rekordverdächtig kurze Amtszeit, und das mit einer Rekordzahl von Abgängen. In weniger als drei Jahren gingen May 51 Minister und Staatssekretäre von der Fahne. Der berühmteste unter ihnen ist ihr früherer Aussenminister, Boris Johnson. Er gilt jetzt als heisser Anwärter auf Mays Nachfolge. Bis die konservative Partei diese geklärt hat, werden noch einige Wochen vergehen. In dieser Zeit amtet May kommissarisch weiter.

May ist grandios gescheitert. Dafür gibt es zwei Erklärungen. Verbunden damit sind zwei unterschiedliche Sichtweisen auf die Politik und die EU, die sich auch in der Schweiz finden. Denn die Probleme zwischen London und Brüssel ähneln denjenigen zwischen Bern und Brüssel. Dazu später.

Erklärung Nummer eins: May scheiterte, weil sie unfähig war. Dafür spricht eine Reihe von schweren politischen Fehlern: Schon bei ihrem Amtsantritt im Juli 2016 übernahm die bisherige Brexit-Gegnerin blauäugig das Versprechen der Brexiteers, die Verhandlungen mit der EU würden ein Spaziergang sein. Nichts mit Brüssel war einfach, wie May bald merkte, und die EU ungewöhnlich einig gegenüber London.

Dann kamen die unnötigen Neuwahlen 2017. May verspielte ohne Anlass die Mehrheit im Parlament und war fortan auf eine nordirische, protestantische Splitterpartei angewiesen. Dies rächte sich beim dritten grossen Fehler, als May viel zu spät zur drängenden Frage der inner-irischen Grenze Stellung bezog. May verhandelte mit der EU den so genannten irischen Backstop, der Nordirland bis auf weiteres zu einer Art EU-Protektorat auf britischem Boden gemacht hätte. Mays Brexit-Abkommen mit der EU war schliesslich chancenlos: Im Unterhaus unterlag sie im Januar mit 230 Stimmen Differenz, auch das ein Negativrekord.

Zu ihrem Scheitern beigetragen hat auch Mays mangelndes Verhandlungsgeschick daheim. So unterlag sie zwei weitere Male mit dem EU-Abkommen im Parlament, nachdem sie ihren vierten grossen Fehler gemacht hat: Viel zu spät suchte May einen Kompromiss mit der Labour-Opposition, die sie letztlich auflaufen liess. Das Ergebnis dieser desaströsen Regierungspolitik wird sich morgen in Zahlen messen lassen, wenn das Resultat der EU-Wahlen bekannt wird – und an denen absurderweise auch die Briten teilnahmen. Für die Konservativen wird ein einstelliges Ergebnis erwartet, während die Brexit-Partei des Rechtspopulisten Nigel Farage um die 40 Prozent erzielen dürfte.

All diese Fehler beantworten nicht die wichtigste Frage: Hatte Theresa May überhaupt eine Chance? Das führt zur Erklärung Nummer zwei, und die lautet: Der Brexit selbst ist ein Ding der Unmöglichkeit. Jedenfalls in der Form, wie ihn Boris Johnson, Nigel Farage und andere Brexiteers 2016 versprachen. Denn er liefe darauf hinaus, dass Grossbritannien weiterhin die Vorzüge des freien Handels mit der EU geniesst, ohne dabei finanzielle Verpflichtungen einzugehen, ohne sich dem EU-Gerichtshof in Luxemburg zu unterstellen und ohne die Personenfreizügigkeit zu gewähren. Doch die verbleibenden 27 Staaten haben keinen Anlass, Aussenstehenden und damit potentiellen Trittbrettfahrern mehr Rechte zu gewähren als den eigenen Mitgliedern. Indirekt machte dies die EU-Kommission auch gestern klar: Sie teilte mit, dass es zu dem mit May ausgehandelten und bisher nicht ratifizierten Abkommen keine Alternative geben werde. Und auch keine Neuverhandlungen.

Vor diesem Hintergrund war Theresa May nicht die unfähige Politikerin, die sich 2016 in die Macht drängte. Sie war vielmehr die Patriotin, die sich opferte, das Land aus dem Brexit-Schlamassel zu retten. In dieser Rolle sah sich die Pfarrerstochter May selbst bis zuletzt, darum auch die Tränen gestern.

Zufälligerweise sprach gestern Boris Johnson am Swiss Economic Forum in Interlaken. Er betonte, Grossbritannien und die Schweiz müssten jetzt eben hart gegenüber Brüssel auftreten. Dann würde der Brexit zum Erfolg. Und auch die Schweiz werde sich in Brüssel durchsetzen, versicherte der potentielle Nachfolger Mays, ganz auf der Linie mit Erklärung eins. Das alles stimmt aber nur, wenn alle Probleme mit der EU dank geschickter nationaler Politik gelöst werden könnten. Das behaupten ja nicht nur die Kritiker Mays. Das sagen in der Schweiz auch viele SVP-nahe Kritiker des Bundesrats.

Was aber, wenn die EU kein Interesse hat, nationale Alleingänge zu unterstützen – ganz gleich, ob sie Brexit heissen oder bilateraler Weg? Dann gibt es auch für die geschicktesten Verhandler sehr enge Grenzen. Genau das bekommt derzeit die Schweiz zu spüren. Das Dossier heisst Rahmenabkommen mit der EU. Und auch London wird sich weiterhin dem gleichen Problem gegenübersehen. Daran wird auch ein möglicher Regierungschef Boris Johnson nichts ändern.

Mit Mays Rücktritt endet ein tragisches Kapitel in der britischen Geschichte. Aber der Brexit ist nicht gelöst.

mknecht@bielertagblatt.ch

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