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Titelgeschichte

«Trauer hat kein Ablaufdatum»

Bernadette Kaufmann von der Opferhilfe Bern hilft Angehörigen von Mordopfern. Wird der Täter nie gefasst, können die offenen Fragen ein Leben lang quälen.

Bernadette Kaufmann arbeitet seit elf Jahren bei der Opferhilfe Bern. Bild: Franziska Rothenbühler

Interview: Sandra Rutschi
Bilder: Franziska Rothenbühler

Bernadette Kaufmann, was geht in einem Menschen vor, wenn sein Vater, seine Schwester oder der Ehemann umgebracht wird?

Bernadette Kaufmann: Das ist für die Betroffenen sehr schwierig und belastend. Schnell taucht die Frage auf: Weshalb trifft das unsere Familie? Wenn der Täter oder die Täterin aus dem Umfeld kommt, stellen sie sich auch oft die Frage, ob sie das nicht hätten merken sollen. Ob sie anders hätten reagieren sollen, ob sie schuld sind. Kennen sie den Täter oder die Täterin nicht, fragen sie sich: War das ein Zufall, weil die Person zur falschen Zeit am falschen Ort war?

Ist es einfacher für Angehörige, wenn sie wissen, wer das getan hat?

Das ist sehr individuell. Grundsätzlich denke ich, dass es einfacher ist, wenn man es weiss. Angehörige erhoffen sich Antworten darauf, wieso diese Person ein Familienmitglied getötet hat. Diese Hoffnung auf mehr Klarheit geht nicht immer in Erfüllung. Vielleicht sagt der Täter oder die Täterin nichts dazu. Oder gibt keine Antworten, mit denen man etwas anfangen kann. Und Angehörige, die nie erfahren, wer der Täter war, können all diese Fragen nicht stellen.

Wenn die Polizei über Jahre oder Jahrzehnte hinweg ermittelt, immer wieder Spuren auftauchen und sich wieder verlieren – was löst das bei Angehörigen aus?

Dann werden sie immer wieder zu diesem Vorfall und diesem Leid zurückgeführt und erneut traumatisiert. Was das auslöst, hängt auch davon ab, wie lange die Ermittlungen dauern, ob Monate oder Jahre. Denn das Leben geht für Angehörige nach einem solchen Schicksalsschlag zwar weiter – aber anders.

Wie gehen die Betroffenen, die bei Ihnen Unterstützung suchen, mit solchen Situationen um?

Sehr unterschiedlich. Einige sagen sich: Ich muss funktionieren, für meine Kinder, für meine Familie. Es gibt aber auch Leute, die zerbrechen daran, dass alles immer wieder aufgerissen wird, dass sie mit diesem Vorfall stets auf ein Neues konfrontiert werden. Gerade wenn der Täter dann aus dem Familienkreis stammt, ändert das nochmals alles. Und auch, wenn Angehörige einem Täter oder einer Täterin im Gerichtssaal begegnen, wühlt das alles nochmals auf. Wir versuchen, die Leute gut auf diese Begegnungen vorzubereiten.

Gibt es Strategien, die Sie Angehörigen empfehlen, um mit solchen Situationen umzugehen?

Jede Person geht anders damit um. Wichtig ist es, den Leuten Zeit zu lassen. Trauer hat kein Ablaufdatum. Sie dauert so lange, wie sie dauert. Es gibt Leute, denen tut es gut, wenn sie viel über das Geschehene sprechen können. Andere möchten nicht darüber sprechen. Es ist wichtig, das gegenseitig zu respektieren. Und doch kann erfahrungsgemäss genau dieser unterschiedliche Umgang mit Trauer eine grosse Belastung für ein Paar oder eine Familie werden. Wenn zum Beispiel die Mutter viel über den Tod ihres Kindes reden möchte, der Vater aber nicht.

Was kann helfen?

Spezialisierte Trauerbegleiter oder Selbsthilfegruppen. Wir vermitteln oft auch Therapeutinnen oder Therapeuten. Unmittelbar nachdem eine solche Tat geschehen ist, läuft ganz viel. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft führen Befragungen durch, man muss eine Beerdigung organisieren. Man hat vielleicht gar keine Zeit, in jenem Ausmass zu trauern, wie man es möchte. Wenn das alles vorbei ist, fallen die Betroffenen oftmals in ein Loch. Das sind Situationen, die auch für Aussenstehende schwierig sind: Soll ich meine Freundin nun auf den Tod ihres Mannes ansprechen oder nicht? Wichtig ist, dass die Betroffenen sagen, was sie wollen und was sie brauchen. Und dass das akzeptiert wird.

Sie haben von der Trauer 
gesprochen. Können, gerade weil es um Gewaltdelikte geht, auch Ängste auftauchen?

Sicher, ja – vor allem, wenn man nicht weiss, wer das getan hat. Dann weiss man auch nicht, ob es ein Zufallstötungsdelikt war oder ob zum Beispiel ein Familienstreit dahintersteckt. Wenn es Zweiteres sein könnte, kann das auch Ängste auslösen im Sinn von: Bin ich die Nächste? Aber es kommen auch ganz andere Ängste auf. Zum Beispiel Existenzängste. Woher kommt das Geld, wenn ein alleinverdienender Familienvater umgebracht wird? Was wird aus den Kindern? Können wir das Haus behalten? Plötzlich steht man allein da und muss allein entscheiden. Schon nur all das versicherungstechnisch abzuklären, braucht Zeit und Energie.

Und dennoch muss man weiterhin funktionieren.

Wenn eine Straftat nach Opferhilfegesetz vorliegt, können wir die Betroffenen in diesem Prozess begleiten. Sie bestimmen, ob und wie lange sie das wollen. Das kann sich über Jahre hinziehen, auch bis es zu einem Strafverfahren kommt. Wir können Juristen und Therapeutinnen beiziehen. Doch manchmal brauchen die Leute nicht sofort eine Therapie. Oft dauert es eine Weile, bis sie von diesem Angebot Gebrauch machen. Wir können den Leuten den Schmerz nicht abnehmen. Aber wir können für sie da sein und sie unterstützen.

Eine solche Begleitung braucht viel Einfühlungsvermögen.

Natürlich nehme ich Anteil, denn eine solche Straftat berührt auch mich. Aber es ist immer eine Gratwanderung zwischen Empathie und Fachlichkeit. Meine Aufgabe ist es, die Leute in einer ausserordentlichen Lebenssituation zu unterstützen. Etwa indem ich sie an die Gerichtsverhandlung begleite, eine Fachperson organisiere oder helfe, ein Formular auszufüllen. Deshalb kommen sie letztlich ja zu mir, manchmal über Jahre hinweg: um von meinem Wissen und meiner Erfahrung im Umgang mit solchen Situationen zu profitieren.

Was passiert nach Ihrer Erfahrung, wenn Angehörige plötzlich selbst als verdächtig gelten, wie etwa im Fall Z. in Kehrsatz (siehe BT vom 25. Juli, «Wie der Fall Z. zu einem dramatischen Lehrstück wurde»)?

Das gibt noch mal eine ganz andere Dynamik ins Familiensystem, die zusätzlich belastet. Grundsätzlich gilt die Devise «Im Zweifel für den Angeklagten». Aber wenn jemand aus der Familie verdächtigt wird, führt das meist zu noch mehr Spannungen. Die einen haben es vielleicht immer kommen sehen, andere können es nicht fassen. Nebst der Trauer kommt vielleicht noch Wut hinzu – sei es gegenüber dem Verdächtigen oder gegenüber jenen, die nicht derselben Ansicht sind wie man selbst.

Was ist für Angehörige einfacher zu verarbeiten: wenn klar ist, dass es ein Gewaltdelikt war, oder wenn ein Suizid 
dahintersteckt?

Suizid ist aus Sicht der Opferhilfe keine Straftat, sondern der freie Entscheid einer Person, aus dem Leben zu gehen. Natürlich ist das auch schwierig für die Hinterbliebenen, aber immerhin hat diese Person das selbst entschieden. Erschwerend ist es, wenn die Person geht, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Dann können die Fragen nach dem Wieso und Warum nie geklärt werden. Die Klärung dieser Fragen kann sehr wichtig sein, um die Trauer verarbeiten zu können.

Und wenn eine Person einfach verschwindet, wie etwa ein Lehrer 2002 in Schangnau oder ein Pilzsammler 1999 
im Oberemmental?

Ich persönlich habe das Gefühl, das ist die Situation, die Angehörige am schwersten aushalten können. Denn man weiss nicht: Ging diese Person freiwillig, wollte sie einfach aussteigen? War es ein Unfall? Oder steckt ein Verbrechen dahinter? Lebt die Person noch, oder ist sie tot? Wird sie irgendwo gefangen gehalten? Man kann nur spekulieren und klammert sich an jeden Strohhalm, um Klarheit zu bekommen. Kurz gesagt: Besser, man weiss, dass eine Person tot ist, als man weiss gar nicht, was mit ihr geschehen ist. So kann man zum Beispiel ein Ritual machen, um Abschied zu nehmen, und hat einen Ort zum Trauern.

Weil man ohne diese Gewissheit nie loslassen kann.

Genau. Natürlich kann man trotzdem Rituale machen, aber man kann sich nicht innerlich verabschieden. Denn die Hoffnung, dass irgendwann ein Zeichen kommen wird, dass man irgendwann die Person finden wird, sei es lebendig oder tot – diese Hoffnung begleitet einen wahrscheinlich ein Leben lang.

Bei den ungeklärten Fällen 
haben sich Angehörige oft eine Erklärung dafür zurechtgelegt, was passiert war. So ist zum Beispiel Manuel Ramseiers Mutter aus Lyss überzeugt, den Mörder ihres Sohnes zu kennen (siehe BT vom 12. März, «Der Tote im Becken»).

Das kann eine Strategie sein, um eine solche Situation überhaupt aushalten zu können.

Machen das alle Angehörigen, oder gibt es auch Leute, die sich gar nichts vorstellen?

Auch das ist sehr individuell.

Mord verjährt nach 30 Jahren, andere Tötungsdelikte schon früher. Kann eine solche Verjährung auch für Angehörige ein Abschluss sein?

Eine Verurteilung kann Teil eines Verarbeitungsprozesses sein, aber kaum ein Abschluss. 30 Jahre sind eine lange Zeit. Man lernt, mit der Situation umzugehen und dies als Teil seines Lebens zu akzeptieren. Aber damit abschliessen – ich weiss nicht, ob man das beim abrupten Verlust eines Angehörigen überhaupt jemals kann. Bei einem Tötungsdelikt stecken oft Ohnmacht und Wut dahinter: Der läuft jetzt einfach frei rum und kann sein Leben weiterführen. Mein Bruder oder meine Tochter aber musste sterben, und unser Leben ist nicht mehr wie früher.

Das Leben eines Täters geht ja auch nicht zwingend so weiter wie zuvor.

Ich denke, es geht nie so weiter wie zuvor. Aber keine Gefängnisstrafe kann den Verlust einer geliebten Person wiedergutmachen. Manchmal empfinden Angehörige die Strafen auch als zu milde. Dennoch ist es wichtig, dass der Täter oder die Täterin zur Rechenschaft gezogen wird. Das entspricht auch unserem Rechtssystem.

Wie ist es für Hinterbliebene, wenn ein Täter nach seiner Strafe wieder freikommt?

Auch hier kommt Wut auf, dass er jetzt einfach weiterleben darf wie früher. Oder Wut auf unser Strafrechtssystem. Ich kann verstehen, wenn Angehörige möchten, dass eine solche Person nie mehr aus dem Gefängnis rauskommt, damit sie nie mehr jemandem so etwas antun kann. Doch auch ein Täter oder eine Täterin hat Rechte, so schlimm die Tat auch war.

Sind die Rechte von Angehörigen und die Rechte von Tätern im Gleichgewicht?

Es gibt sicher gewisse Diskrepanzen. Ein Täter oder eine Täterin erhält von der ersten Stunde an seitens der Justiz einen Anwalt. Betroffene müssen sich selbst jemanden organisieren – wir können Anwälte vermitteln. Und: Nach dem Ablauf eines Verfahrens haben die Angehörigen Anrecht auf Genugtuung in Form von Schmerzensgeld. Das ist in der Schweiz verhältnismässig tief angesetzt, vor allem wenn man es damit vergleicht, was ein Täter im Strafvollzug kostet. Da besteht Handlungsbedarf.

Sie finden das ungerecht.

Dieses ungute Gefühl kommt manchmal auf, ja. Kommt hinzu: Wenn ein Täter oder eine Täterin die Genugtuung nicht bezahlen kann, besteht die Möglichkeit, ein Gesuch an die kantonale Opferhilfestelle der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion zu stellen. Da sie aber andere Berechnungsvorgaben hat, fallen die Beträge meistens tiefer aus. Dies den Angehörigen zu erklären, ist manchmal schwierig. Auch dies müsste man zu ihren Gunsten anpassen.

Stichwörter: Opferhilfe, Mord, Täter

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