Sie sind hier

Abo

Fernweh

Trotz allem wärmt die Sonne

Nach einem Aufenthalt in der Schweiz sind Camilla Landbø und ihr Sohn Amaru wieder in der spanischen Küstenstadt daheim. Noch sind die Cafés offen.

Der Baum des 
Lebens gehört allein den Kindern: Hier erzählen sie sich ihre Geheimnisse. Bild: Camilla Landbo

Camilla Landbø

Ich bin eine unverbesserliche Optimistin. Kennen Sie die Geschichte von Candid? Von jenem jungen Mann, der um die Welt reiste und dem nichts erspart blieb? Er überlegte Lriege, Erdbeben, Schiffbruch, er wurde zu Unrecht verdchtigt und bestraft, getreten, ausgepeitscht und versklavt. Falsche Freunde verrieten ihn, und nur knapp entkam er den Kannibalen. Aber eines verlor er nie: seinen Optimismus. Jenen Optimismus, dass alles gut kommt und dass diese Welt die beste aller Welten ist. Wie es auch der Titel des herrlichen Buches verspricht, geschrieben von Voltaire.

So schlimm verhält es sich mit mir nicht. Bei Weitem nicht. Ich sitze in Málaga an der Küste, nach vielen vielen Wochen, in denen ich dieses Sitzen vor dem Meer vermisst habe. Und obwohl ich nicht dieser unverbesserliche Candid bin, versuche ich, die Sonnenseite nicht aus den Augen zu verlieren. Am Ende jedoch schaffe ich es jeweils festzustellen, dass sich die beste Welt aller Welten gerade suboptimal entwickelt.

Da sitze ich nun also, schaue aufs Meer hinaus, lasse mich von einem leichten Wind umgeben und fahre komplett herunter. 
Diese Ruhe am Wasser, obwohl die Wellen rauschen und die Möwen kreischen, diese besondere Ruhe kehrt gerade eben bei mir ein. Die einen erleben diesen erholenden Realitätsschub am Meer, die anderen in 
den Bergen, wiederum andere unter einem Baum auf einem Feld. Trotz Optimismus: Es sind anstrengende Zeiten, diese Corona-Monate.

 

Versicherungen statt Theater

Málaga hat uns wieder, und wir haben Málaga wieder. Vieles ist wie vorher, manches hat sich gewandelt. Wie überall. Je nach staatlicher Unterstützung jedoch – dies zeigt die Krise sehr gut – haben sich Menschen, Dörfer, Städte oder Länder weniger oder mehr verändert. In Spanien warten die Menschen nach fast einem Jahr zum Teil immer noch auf Unterstützung, sei es in
finanzieller Form oder in Naturalien. Wohl auch deswegen schlossen in Málaga bislang mehr Lokale für immer und rutschten mehr Menschen unters Existenzminimum als in der Schweiz. Wer seine Arbeit verloren hat und nicht auf ein solides Familiennetz oder einen tragenden Freundeskreis zurückgreifen kann, dem erging es und ergeht es schlecht.

Wer sich nicht neu erfindet, hat noch schlechtere Karten. Meine spanische Freundin Wendy, die vor der Ankunft des Virus täglich Schauspielunterricht erteilte und in der Welt der Kreativität zahlreichen Projekten nachging, arbeitet mittlerweile in einer Versicherung. «O, dios mío!», sagt sie, wenn sie davon erzählt, und muss gleichzeitig über die neuen Lebensumstände lachen. Weil sie den Humor nie verliert. Und weil sie den Blick auf sich von aussen realistisch zu erfassen vermag: Sie, die Künstlerin, die nun Lebensversicherungen verkauft. Sie konkretisiert: «Alles Mögliche versichere ich zurzeit, auch Autos, Wohnungen oder Eigenheime. Ich habe für dich als Mieterin sogar eine Versicherung, die dir garantiert, dass einmal im Jahr ein Handwerker bei dir vorbeikommt und professionell deine Bilder an die Wand nagelt.» Madre mía!

Wendy gehört zu jenen Menschen in 
Málaga, die ohne die finanzielle Unterstützung ihrer Schwester seit Monaten weder das Dach über dem Kopf noch das Essen hätte bezahlen können. Die Stadtregierung sollte der 49-Jährigen schon lange Geld für die Miete überweisen. Nichts. Erst eben diese Woche mal ein Lichtblick: Ein anderes Amt hat sich telefonisch bei ihr gemeldet, nun darf sie jede Woche Lebensmittel abholen gehen, die die Stadt an Härtefälle vergibt.

Ja, Hunger ist ein Thema in Andalusien. Er wird sichtbarer. Auch Kirchen verteilen Lebensmittel. Täglich. An einer dieser religiösen Institutionen fährt Wendy auf dem Weg zur Arbeit vorbei. «Die Schlange wächst von Tag zu Tag, mittlerweile erstreckt sie sich über mehrere Häuserblocks.»

 

Der Baum der Kinder

Unsere Reise in den Süden von Spanien war merkwürdig, begleitet von der Ungewissheit, was uns unterwegs begegnet. Wider Erwarten wurden wir nirgendwo kontrolliert. Mit dem Zug durchfuhren wir erst Frankreich, dann ganz Spanien. In Andalusien kann nur einreisen, wer einen triftigen Grund hat. Etwa eine Arbeitsbescheinigung, wie bei mir.

In diesen ersten Tagen zurück in Málaga haben wir Orte und Menschen besucht, die wir kennen und mögen. Ein bisschen kam es mir vor, wie wenn man eine alte Liebe wieder trifft. Weil es gefühlt so lange her ist, seit wir das letzte Mal am Strand flanierten und Amaru im «Baum der Kinder» spielte. Nach dem Aufenthalt in der Schweiz mutet es komisch an, dass die Menschen in Cafés und Restaurants sitzen, Geplauder und Geschwätze die Umgebung füllt.

Vor einem dieser Strandcafés steht dieser alte, dicke Baum mit seiner grossen Krone. Für die Kinder ist er wie eine Zauberwelt, die wir Eltern nicht betreten. Sie dagegen spielen und klettern da, reden miteinander, stellen sich gegenseitig vor, verraten sich Geheimnisse. Für Amaru ist er zudem der «Baum der Wünsche». Jedes Mal, wenn Amaru zwischen seinen Ästen verweilt, weiss er, dass er einen Wunsch aussprechen darf. Der dann hoffentlich in Erfüllung geht.

Wie lange die Cafés noch offen sind, ist unklar. Die Zahl der Infizierten steigt. Ab 500 Infizierten auf 100 000 Bewohner darf man eine Gemeinde nicht mehr verlassen. Das gilt bereits für Málaga, ebenso eine Ausgangssperre ab 22 Uhr, die streng kontrolliert wird. Ab 1000 Infizierten werden alle nicht-lebensnotwendigen Geschäfte zugemacht und alle nicht-lebensnotwendigen Aktivitäten verboten. Málaga hat aktuell die 900er-Grenze überschritten ... Es wird schon gemunkelt, dass die hiesige Regierung die Menschen wieder unter Totalquarantäne stellt – wie vor rund einem Jahr. Sie versucht es allerdings zu vermeiden.

Es ist Morgen. Das Thermometer zeigt 17 Grad an. Die Sonne scheint, wärmt die Seelen und Häuser auf. Obwohl Málaga im Vergleich zu früher sehr leer ist, lebt die Stadt. Nicht nur wegen der alltäglichen Verrichtungen, denen die Menschen nachgehen. Sondern auch der Art und Weise wegen, wie die Menschen hier mit dem Leben umgehen. Trotz der schwierigen Zeiten lassen sich die Malagueños die Momente nicht nehmen, in denen sie innehalten, sich hinsetzen, das Gesicht in die Sonne strecken und einfach mal geniessen.

So hatte Candid also doch recht: Positiv gestimmt erträgt sich das Leben besser.

Nachrichten zu Fokus »