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Biel / Paris

Unter der Metrostation Jaurès stirbt die Hoffnung

Die Bieler Hilfsorganisation Stand up for Refugees sieht dem Leid von Menschen auf der Flucht nicht tatenlos zu. Die Organisation beliefert Flüchtlingslager auf der ganzen Welt mit Hilfsgütern. Das Bieler Tagblatt begleitete am Wochenende einen Hilfsgütertransport nach Paris. Mitten in der europäischen Metropole kämpfen Flüchtlinge mit widrigen Umständen. Die freiwilligen Helfer sind überfordert, die Regierung schaut zu. Am Samstag entlud sich die Frustration in Strassenschlachten.

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Tobias Tscherrig

«Komm, wir laden ein.» Zusammen mit Armin Ahmedoski und Dino Cokovic trage ich am Freitagnachmittag bergeweise schlammverkrustete Zelte, Kleider, Strümpfe, Iso-Matten, Toilettenartikel und Nahrungsmittel in einen alten Lieferwagen. Die Beiden sind als freiwillige Helfer der Bieler Hilfsorganisation Stand up for Refugees (Sufr) unterwegs. Das Ziel: ein inoffizielles und deshalb eigentlich illegales Flüchtlingslager in Paris.

Wir verstehen uns gut. Das ist von Vorteil, sitzen wir doch die nächsten sieben Stunden eingepfercht in der Führerkabine des klapprigen Fahrzeugs. Dino Cokovic ist 34 Jahre alt und stammt ursprünglich aus Montenegro. Dort hat er auch seine ersten Erfahrungen mit Flüchtlingen gemacht. Er sah sich ein Lager genauer an und war überwältigt von der Not der Menschen. Er kaufte ihnen Essen, es reichte nicht für alle. Er beschloss, sich zu engagieren, und meldete sich bei Sufr. Seitdem transportiert Dino Hilfsgüter. Mal innerhalb der Schweiz, mal im Ausland. «Ein Tropfen auf dem heissen Stein», sagt er dazu. «Trotzdem, diese Arbeit ist wichtig.» Der 35-jährige Mazedonier Armin Ahmedoski ist zum ersten Mal dabei – so wie ich. Er fährt den Lieferwagen, und er will helfen. «In den Medien habe ich viele Bilder gesehen. Sie haben mir im Herzen wehgetan. Jemand muss helfen, jemand muss sich um diese Menschen kümmern. Das ist unsere Pflicht», sagt er und tritt aufs Gaspedal.

«Vor der Fahrt haben wir gebetet»

Wir fahren von Biel über Besançon, Beaune, Auxerre bis in die Hauptstadt von Frankreich. In der Stadt leben über 2,2 Millionen Menschen, im Grossraum Paris sind es insgesamt gar über 12 Millionen. Damit ist Paris die fünftgrösste Stadt der Europäischen Union. Irgendwo in der am dichtesten besiedeltsten Grossstadt Europas leben ungezählte, namenlose Flüchtlinge auf der Strasse. Doch davon wissen wir noch nicht viel. Zu den Klängen von Musikern aus dem Balkan fahren wir durch malerische französische Dörfer, geniessen die Idylle und fragen uns, was uns in Paris erwartet. Auf der Autobahn werden wir immer wieder von grossen Lastwagen überholt. «Das sollten Hilfsgütertransporte sein», träumt Dino. Wie so oft liegen Traum und Realität meilenweit auseinander. Grosse Lastwagentransporte sind teuer – zu teuer für viele private, gemeinnützig organisierte Hilfsorganisationen. Der Beweis ist unser Lieferwagen. Bereits in der Schweiz warnen uns blinkende Kontrolllampen auf dem Armaturenbrett: «Motor kontrollieren, Bremsbeläge kontrollieren.» Auch mit dem Tank scheint etwas nicht zu stimmen. Egal, es wird schon gehen.

Bevor sie losfuhren, sprachen Armin und Dino Gebete. Sie baten um eine sichere, unfallfreie Fahrt. «Und wenn trotzdem etwas passiert, bist du gereinigt, wenn du in den Himmel kommst», sagt Armin. «Fühlst du dich wohl?» fällt ihm Dino ins Wort. Ich bejahe. «Das würde ich auch sagen, wenn ich zwischen zwei Jugos sitzen würde.» Wir lachen. Die interkulturelle Kommunikation funktioniert im engen Führerhäuschen des Lieferwagens. «Wären alle Schweizer so wie du und alle Ausländer so wie wir, gäbe es in der Schweiz keine Integrationsprobleme», witzelt Dino. Armin sitzt konzentriert am Steuer. Der Verkehr nimmt zu, in der Ferne sehen wir die Skyline von Paris. Wir sind da.

Paris im Ausnahmezustand

Bereits während der Fahrt kontaktierte Dino unsere Ansprechperson vor Ort. «Heute könnt ihr nicht mehr abladen, dafür ist es zu spät», erklärte der Kontaktmann, der anonym bleiben will. Auch er hat das Asylverfahren durchlaufen. Und er hat Angst. Angst davor, etwas Falsches zu sagen und dann die Konsequenzen tragen zu müssen. Aufgrund des Terroranschlags in Nizza wurde der Ausnahmezustand in Frankreich verlängert. Die Polizei erhielt mehr Kompetenzen, die Überwachung wurde verstärkt. Viele Unschuldige wurden verhört, viele Franzosen sind verunsichert.

Auf der Suche nach unserem Schlafplatz, einer preiswerten privaten Wohnung, quälen wir uns durch den zähen Verkehr. An einem Mahnmal entzünden Einwohner Kerzen. Sie gedenken der Opfer der Pariser Terrroranschläge. Daneben dröhnt Musik, jugendliche Tänzer bewegen sich im Rhythmus. Tanzen, lachen. Touristen schlendern durch die Strassen, es ist Hauptsaison in der beliebten Tourismus-Destination. Wir finden einen Parkplatz, dann unsere Wohnung. Duschen, umziehen, anschliessend erkunden wir zu Fuss die Strassen von Paris. Wir wollen uns ein Bild von der Lage machen. Schon bald sehen wir die ersten Flüchtlinge. Es ist verstörend.

Sie liegen da, auf Matratzen und Schlafsäcken im Besten, auf Kartons im schlechtesten Fall. Am Strassenrand, auf Trottoirs. In Nischen und Gassen. Männer, Frauen, Kinder. Von manchen sind nur die Haare zu sehen, so tief haben sie sich in ihre dreckigen Decken gewickelt. Feierwütige Touristen torkeln in Designerklamotten an ihnen vorbei. Im Restaurant daneben kostet der Hot Dog zwölf Euro. «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit»: Der Wahlspruch der Französischen Republik bröckelt von einer Mauer. Ich sollte das Leid dieser Menschen fotografieren. Ich schaffe es nicht, vor ihnen in die Knie zu gehen, die Bildschärfe einzustellen und die Szene festzuhalten. Ich fühle mich wie ein Voyeur, einer, der vom Leid der Anderen profitiert. Dieses Gefühl wird mich die nächsten zwei Tage nicht mehr loslassen. Schweigend gehen wir nach Hause.

Viel zu wenig Hilfsgüter

Früh am Morgen verlassen wir unsere Wohnung. In einer kleinen Nebenstrasse wartet unser Kontaktmann. Er grüsst freundlich, dann zeigen wir ihm den Inhalt unseres Lieferwagens. Er ist hocherfreut. «Jede Hilfe ist willkommen, wir können jede Unterstützung gebrauchen», sagt er. Der Mann klingelt an einer Türe, eine alte Frau öffnet. «Hallo, wir müssen ins Lager», sagt er. Die Frau winkt uns durch, der Kontaktmann führt uns durch einen Innenhof, dann gehen wir eine lange Treppe nach unten. Hier, unter den Strassen von Paris, darf seine Hilfsorganisation einige Keller als Lager benutzen. In den Gewölben stapeln sich Zelte, Schlafsäcke, Kleider und Esswaren. «Hier könnt ihr euer Material abladen», sagt der Mann. Dino und Armin protestieren. Sie hätten nicht den ganzen Weg auf sich genommen, um das Material in einem Keller zu stapeln. Sie seien gekommen, um zu helfen. Um zu sehen, was mit dem Material geschehe. Der Mann zeigt Verständnis, er kann die Beweggründe der beiden freiwilligen Helfer verstehen.

Trotzdem argumentiert er weiter: «Es ist besser, die Sachen zu lagern. Wenn das Flüchtlingslager von der Polizei geräumt wird, haben wir zumindest noch Hilfsgüter in der Hinterhand.» Armin und Dino bleiben hart. Sie wollen das Material selber verteilen. Der Mann gibt nach. Wir vereinbaren, die Verteilung um Mitternacht durchzuführen. «Dann ist im Lager nicht so viel los, das ist besser für die Sicherheit», weiss unser Kontaktmann. Er hat recht, wie sich später herausstellen wird. Das ist die Krux bei den Verteilungen: Bei keiner der Warenausgaben können alle Bedürfnisse befriedigt werden, ein Grossteil der Flüchtlinge geht jeweils leer aus. Deshalb gibt es Streit, manchmal sogar Kämpfe. Dann schlagen sich Flüchtlinge halb tot – für den Genuss eines halben Liter Milchs.

Wenn Welten aufeinander prallen

Wir stellen den Lieferwagen in der Nähe des Flüchtlingslagers ab. Beim Aussteigen bin ich irritiert. «Hier ist das Flüchtlingslager?», frage ich den Kontaktmann. Er nickt. Ich sehe mich ungläubig um. Wir stehen auf einer belebten Kreuzung, im Herzen von Paris. Alles geht seinen gewohnten Gang: Touristen schlendern herum, schiessen Fotos. Strassenverkäufer verdienen sich ihr täglich Brot, Hotels, Geschäfte und die Filialen von bekannten Fastfood-Ketten säumen die Rue la Fayette. Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier Menschen auf der Strasse leben. Menschen, die auf ausrangierte Festival-Zelte und andere Hilfsgüter angewiesen sind. Wir überqueren die Kreuzung, passieren den Eingang zur Metrostation «Jaurès» und biegen in den Boulevard de la Villette ein. Wir betreten eine andere Welt. 20 Meter neben der Kreuzung, die täglich von tausenden Touristen und Einheimischen passiert wird, leben hunderte Menschen im Dreck. Jeden Tag werden es mehr.

«Das ist ein inoffizielles Lager», erklärt unser Kontaktmann. «Die Regierung oder die Stadtverwaltung haben damit nichts zu tun. Sie helfen uns nicht. Die Flüchtlinge leben vom Einsatz der freiwilligen Helfer.» Die Lage des Lagers ist an Absurdität nicht zu überbieten: Es gibt zwei Strassen, die parallel zueinander von der Kreuzung wegführen. Beide heissen gleich: Boulevard de la Villette. Eingequetscht zwischen diesen Strassen, liegt die Metrostation «Jaurès». Ihre Geleise werden oberirdisch über eine lange Brücke geführt. Das ist das Dach der Flüchtlinge. Sie leben unter der Brücke, zwischen den beiden vielbefahrenen Strassen. Eine dieser Strassen führt zudem direkt durch das Flüchtlingslager. Die Flüchtlinge leben auch auf der anderen Strassenseite. Entlang eines grossen, gläsernen Gebäudes richten sie sich zum Schlafen ein. Reihe an Reihe, Karton an Karton. Die Autofahrer, die das Flüchtlingslager durchfahren, benutzen ihre Hupen, nicht die Bremsen.

«In dem gläsernen Gebäude befindet sich das Büro, in welchem die Flüchtlinge ihren Asylantrag deponieren müssen. Das Büro hat nicht immer geöffnet, zudem ist es überlastet», sagt unser Kontaktmann. «Oft müssen die Flüchtlinge wochenlang auf einen Erst- oder auf einen Folgetermin warten.» Mit anderen Worten: Das Flüchtlingslager hat sich selbst gebildet. Die Flüchtlinge sind verpflichtet, hier ihre Anträge zu deponieren. Dazu müssen sie warten. Nach dem ersten Besuch müssen sie weiter warten. Geld für öffentliche Verkehrsmittel haben sie nicht. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als vor dem Büro, unter der Brücke zu leben. Wochenlang. So geht das seit über einem Jahr.

Chaos, einfach nur Chaos

Wir sehen uns das Lager näher an und sind entsetzt. Ein unübersichtliches Durcheinander von Zelten, Matratzen, Decken, Teppichen und Kartonunterlagen. Überall liegen Menschen, vertreiben sich die Zeit. Abfall und Unrat türmen sich, es stinkt nach Exkrementen. Dazwischen spielen Kinder, auf dem Trottoir rasieren sich Männer. Es gibt einige Pissoirs, andere sanitäre Anlagen sind nicht vorhanden. Als Toilette dient die Strasse. Es gibt fliessendes Wasser – allerdings nur aus einem einzigen Wasserhahn. Die Flüchtlinge trinken Wasser aus Pet-Flaschen, sie waschen damit ihre Kleider und sich selbst. Zwar dürfen sie einige Duschen der städtischen Infrastruktur benutzen, diese sind aber über die gesamte Stadt verteilt. Die Flüchtlinge haben kaum Chancen, sie zu erreichen. Eine einzige Dusche befindet sich in der Nähe. Hier dürfen sich am Tag jeweils fünf Lagerbewohner waschen. So will es die Stadtverwaltung.

Das Lager wird von mehreren, lose vernetzten Kollektiven betrieben. Per Facebook rufen sie die Bevölkerung auf, jene Dinge zu spenden, die gerade am dringendsten gebraucht werden. Die Liste ist lang. Ebenso die Liste der Freiwilligen, die helfen wollen. Auf dem Papier. In der Realität sind während des Wochenendes nicht mehr als zwölf Freiwillige vor Ort. Sie sind überfordert, frustriert und genervt. «Wo sind die 1900 Freiwilligen?», brüllt Pascal Gueguen. Er ist die einzige Konstante im Flüchtlingslager. Seit zweieinhalb Wochen zeltet er hier. Versucht zu koordinieren, gerecht zu verteilen und den Überblick nicht zu verlieren. «Irgendjemand muss das doch machen», sagt er schulterzuckend. Er hat einen schweren Stand. Die einzelnen Kollektive und Unterstützer sind sich nicht immer grün, haben verschiedene politische Ansichten und kämpfen um Medienpräsenz. Die Flüchtlinge nutzen die unübersichtliche Situation aus, versuchen so viel Material wie möglich zu ergattern und andere zu übervorteilen.

Als ich Pascal zum ersten Mal sehe, steht er hinter einer Barriere aus Paletten. Hinter ihm türmen sich Kleider und andere Hilfsgüter. Er verteilt sie. Müde und abgekämpft. Er brüllt, hat vor Aufregung Gänsehaut an den Unterarmen. Oft packt er einen Besen und versucht, die drängelnde Menge zurückzuhalten. Er ist nicht zimperlich. «Ich muss mir Respekt verschaffen», sagt er. «Sonst geht hier alles den Bach runter.» Ich beobachte mehrmals, wie spendenfreudige Menschen mit Hilfsgütern vorbeikommen. Sie haben keine Chance. Sobald sie die Türen ihrer Fahrzeuge öffnen, werden sie von einer notleidenden Menschenmenge hinweggefegt. Sie können nur hilflos mit ansehen, wie um das Material gestritten wird. Hier gilt das Recht des Stärkeren. «Aus Sicherheitsgründen gehe ich nicht zu Materialverteilungen», sagt Barkad Mahad, der mit seiner Frau und sieben Kindern seit einer Woche im Lager lebt.

Wenn die Polizei aufräumt

Dino, Armin und ich sprechen im Lager mit vielen Flüchtlingen. Sie haben bald gemerkt, dass wir nicht zu ihnen gehören und bestürmen uns mit Fragen: «Wie lange müssen wir noch hierbleiben?», «Wo bleibt die Gerechtigkeit?» «Warum unternimmt niemand etwas?» Solche Fragen, mit Tränen in den Augen. Auf englisch geben wir Antwort, oft kommunizieren wir mit Händen und Füssen. Was sollen wir sagen? Uns bleibt das ratlose Schulterzucken, aufmunternde Worte, nichts als leere Worthülsen. «Nur die wenigsten Flüchtlinge schaffen es hierher», sagt der 23-jährige Abdul aus Eritrea. «Europa ist bereits jetzt überfordert. Es werden mehr kommen, was geschieht dann?» Der 19-jährige Ali aus dem Sudan lügt seine Eltern an. Es gehe ihm gut in Frankreich, sage er jeweils. «Sie sollen sich keine Sorgen machen.» Ich will mehr von seiner Familie erfahren. Er schluckt leer, versucht zu antworten, dann bricht er zusammen. Weint hemmungslos. Unzählige derartige Gespräche. Zu viele Schicksale, zu viel Leid für zwei Seiten Zeitungspapier.

Wie viele Flüchtlinge tatsächlich unter der Metrostation Jaurès leben, ist unbekannt. Es gibt keine offiziellen Zahlen. Das Büro der Bürgermeisterin beantwortet keine Fragen, vertröstet auf später. Pascal Gueguen spricht von 800. Andere Helfer schätzen die Zahl auf 600. Die Behörden greifen nur selten ins Lagerleben ein. Eine Anfrage für Toiletten behandelten sie erst nach Wochen – dann stellten sie eine einzige Anlage auf. «Komplett verbürokratisiert, an den Bedürfnissen vorbei», sagt eine Helferin, die anonym bleiben will. Die einzige Handlung der Behörden besteht in den «Evakuierungen.» Dann rückt die Polizei an, mit Bulldozern. Mit Bussen karren sie die Flüchtlinge zu Turnhallen, ausrangierten Hotels, zu Bunkern oder Lagerhallen. Oft weit ausserhalb der Stadt, oft gibt es keine Betten, keine Nahrungsmittel. In Paris war dies bereits mehrmals der Fall. In dem Lager um die Metrolinie Stalingrad, etwa. Oder bei den Lagern «Éolle» und «Pajol.» Sind dann keine Helfer vor Ort, macht die Polizei das Lager dem Erdboden gleich und verbrennt die Hilfsgüter. Aus Angst vor Infektionen, heisst es. Bis heute gibt es kein offizielles Flüchtlingslager in Paris. Die amtierende Bürgermeisterin Anne Hidalgo spricht seit Ende Mai von einem «humanitären Empfangszentrum, das bald eröffnet wird.»

Am Freitagnachmittag eskaliert die Situation im Flüchtlingslager. Bei der Essensausgabe wird gestritten, Flüchtlinge aus Afghanistan, Somalia und dem Sudan gehen aufeinander los. Daraus wird ein Flächenbrand, der erste im Lager «Jaurès». Die zwei anwesenden Helfer haben keine Chance, die Lage in den Griff zu bekommen. Am Ende gehen schätzungsweise 300 Flüchtlinge aufeinander los. Mit Steinen, Flaschen, Holzlatten. Es gibt Verletzte, die Krankenwagen fahren ununterbrochen. Die Polizei setzt immer wieder Tränengas ein und versucht so, die Kämpfenden zu trennen. Unter diesen Umständen können Dino und Armin keine Hilfsgüter verteilen. Sie müssen bis am Sonntag warten. Dann dücken sie das mitgebrachte Material in gierige Hände, nach Minuten ist der Lieferwagen leer. Die Enttäuschung derjenigen, die leer ausgegangen sind, ist gross.

Wir steigen in unser Fahrzeug und treten die Rückreise an. Nach 30 Sekunden biegen wir ab – und befinden uns wieder in einer heilen Welt.

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Die Stadt wollte nicht helfen

Das Lager von Stand up for Refugees (Sufr) befindet sich zurzeit in einem besetzten Haus in Biel. Während langer Zeit suchte die Organisation nach einer Alternative. Dabei wurde man auch bei den Behörden vorstellig. Obwohl in Biel viele Gebäude leerstehen, wollte die Stadtverwaltung nicht helfen. Man sei vertröstet und hingehalten worden, heisst es aus den Reihen von Sufr. Als dann eine Drittperson Druck aufgesetzt habe, sei plötzlich alles schnell gegangen. Am Samstag zieht Sufr in die neuen Räumlichkeiten ein. Es werden noch Helfer gesucht. Interessierte können sich unter der Nummer 076 216 99 49 oder unter www.facebook.com/sufr.ch melden. tt

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Nachgefragt: «Wir sehen nicht mehr tatenlos zu»

Die Bieler Organisation Stand up for Refugees sammelt Hilfsgüter und verschickt diese in die ganze Welt. Die Organisation hilft Menschen in Not, egal wo.

Nicole Jardin und Miriam krähenbühl, Standup for Refugees

Frau Jardin, Sie bezeichnen sich als «Menschen, die nicht mehr zusehen, sondern aufstehen und helfen.»

Das stimmt. Unsere Organisation besteht aus Menschen, die dem Leid von Mitmenschen auf der Flucht nicht mehr tatenlos zusehen können. Wir stehen auf und helfen.

Eine private, gemeinnützige Organisation kämpft gegen das Elend auf der Welt. Ein aussichtsloser Kampf?

Wir sind eine kleine Organisation. Unser Kernteam besteht aus acht Leuten. Daneben können wir aber auf viele freiwillige Helfer zählen. Wir sehen das so: In der aktuellen Lage zählt jede Hilfe. Seit unserer Gründung im Oktober 2015 haben wir bereits hunderte Tonnen Hilfsgüter in Flüchtlingscamps sowie an Organisationen vor Ort versendet.

Bitte präzisieren Sie.

Insgesamt waren es rund 30 Transporte. Davon 12 mit 40-Tönnern, also grossen Camions. Wir führen die Transporte selber durch oder vergeben sie an Speditionen. In Zusammenarbeit mit anderen Hilfsorganisationen führen wir auch Sammeltransporte mit anderen Hilfsorganisationen durch.

Das kostet Geld.

Das stimmt. Die Kosten decken wir mit den Geldspenden, die wir aus der Bevölkerung erhalten. Ein Containertransport nach Syrien kostet etwa 6000 Franken.

Wie garantieren Sie, das die Sachspenden auch wirklich bei den hilfsbedürftigen Menschen ankommen?

Wir arbeiten transparent. Oft sind wir bei den Transporten selber dabei und kontrollieren den Ablauf. Ist das nicht möglich, kontrollieren unsere Kontakte vor Ort die Lieferung und geben uns Rückmeldung. So erhalten wir Gewissheit. Über 95 Prozent des Materials kommt am Bestimmungsort an.

Also ist Ihre Organisation international vernetzt?

Das ist ein absolutes Muss. Wir arbeiten zum Beispiel mit Organisationen aus Frankreich, der Schweiz, Griechenland und Syrien zusammen. Wir kennen auch Leute, die sich privat in den Lagern engagieren. Diese Menschen senden uns Listen mit den im Lager benötigten Dingen. Dann sammeln wir und schicken den Transport.

Was wird in den Lagern benötigt?

Zelte, Schlafsäcke, Iso-Matten, Kleider, Schuhe, Medikamente, medizinische Hilfsmittel wie Rollstühle und Gehhilfen, Toilettenartikel.

Das wird Ihnen alles von der Bevölkerung gespendet?

Das ist so. Trotzdem: Manche benutzen uns auch als Entsorgungsstelle. Wir erhalten auch unnütze Dinge: Bikinis, einzelne Schuhe, stinkende, löchrige Kleider. Wir müssen alles sortieren, das ist sehr zeitintensiv. Wir suchen immer nach Helferinnen und Helfern.

Waren Sie selber auch schon in Flüchtlingslagern?

Klar. Wir waren etwa in Deutschland, Österreich, Griechenland und Slovenien. Wir müssen auch selber vor Ort Abklärungen machen, uns vernetzen und organisieren.

Beschreiben Sie Ihre Eindrücke.

Man kann das Elend, die Zustände in den Lagern, nur schwer beschreiben. Die Flüchtlinge führen kein menschenwürdiges Leben. Man liest viel von Flüchtlingen. Vor Ort spricht man mit ihnen, lernt sie kennen und merkt: Das sind Menschen. Mit Träumen, Hoffnungen, Ängsten. Mit Gefühlen. tt

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