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Titelgeschichte

Vom Zinn zu Figuren wie vor 200 Jahren

So wie es Kur- und Kraftorte gibt, so gibt es auch Künstlerorte. Ein solcher ist das bayerische Diessen am Ammersee, südwestlich 
von München. In der pittoresken Marktgemeinde leben seit jeher Maler, Musikerinnen, Bildhauer, Literatinnen – und speziell 
Kunsthandwerker. Seit dem Mittelalter reichen sie ihr Können über Generationen bis in die heutige Zeit weiter.

Zinnfiguren sind noch heute beliebte Mitbringsel und Geschenke. Bild: zvg / Kleingiesserei Babette Schweizer

Heini Hofmann

Spaziert man in Diessen von den Seeanlagen hinauf zum barocken Marienmünster, führt der Weg beim alten Rathaus in die Herrenstrasse mit ihren farbenprächtigen Bürgerhäusern. Zwei schmucke Gebäude mit Fassadenmalereien, ein gelb-weisses und ein blaues, fallen besonders auf. Sie beide tragen auf kunstvollem Ausleger den gleichen Zinndynastie-Namen Schweizer, bei der Nummer 7 ist es Wilhelm Schweizer, bei der Nummer 17 Babette Schweizer.

Die Zinndynastie Schweizer
Ihr Stammbaum lässt sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Und das Familienwappen der Fassadenmalerei beider Häuser zeigt auf einem silber-roten Schild einen Schweizer Gardisten. Das Ursprungsland der Dynastie soll denn auch die Schweiz sein. Der erste Zinngiesser in der Familiengeschichte war der 1774 geborene Adam Schweizer. 1796 gründete der gelernte Goldschmied die Kleinzinnmanufaktur. Überreste von Solnhofer Schieferplatten, die beim Bau der Diessener Klosterkirche übrig blieben, dienten ihm als Material für die Gussformen.

Im Gegensatz zur Grosszinngiesserei, wo Becher, Krüge und Teller hergestellt werden, hat man sich in Diessen auf die Kleinzinngiesserei, also den Flachfigurenguss, spezialisiert. Adam Schweizer stellte Heiligenfiguren und Wallfahrtsdevotionalien her, aber auch kirchliches Spielzeug für Kinder zum «Pfarrer spielen», Kreuze, Kerzenständer und Weihrauchschiffchen. Später kam Profanes dazu: Ringe und Schnallen, aber auch Spielfiguren-Motive wie bayerische Dragoner, ungarische Panduren oder eine Rokoko-Jagd.

Als Adam Schweizer 1848 starb, führte sein Sohn Anton den florierenden Betrieb weiter. Er optimierte und rationalisierte das Produktionsverfahren. Nach dessen Tod 1867 übernahm seine Witwe Babette die Verantwortung. Deren Sohn hiess wieder Adam (1855–1914) und verbrachte seine Lehr- und Wanderjahre bei berühmten Graveuren in München und Leipzig und schuf dann filigranen Christbaumschmuck aus Zinn für den königlichen Hof in München. Nach seinem Ableben war es seine Witwe Wilhelmine, die den Betrieb, zusammen mit ihren Kindern Anny und Wilhelm, durch zwei Weltkriege rettete.

Oberer und unterer Schweizer
1972 kam es dann, wie so oft in Familienbetrieben, zur Aufspaltung. Tochter Anny führte ihr Geschäft unter der Firmierung «Babette Schweizer» im Haus Herrenstrasse 17 (oberer Schweizer) weiter, während Wilhelm seinen Betrieb unter seinem eigenen Namen an der Herrenstrasse 7 (unterer Schweizer) fortführte. Beide Betriebe zusammen stellen heute die älteste deutsche Zinndynastie dar, notabene mit Schweizer Wurzeln (siehe Zweittext unten auf Seite 23).

Als Wilhelm 1976 starb, war es erneut eine Frau, seine Witwe Ottilie, die sich um den Betrieb kümmerte, bis dann 1981 deren Tochter Annemarie und ihr Mann Jordi Arau die Firma übernahmen.

Annemarie Schweizer hat Graveurin erlernt, ihr Wissen dann aber an ihren Gatten weitergereicht, weil sie anschliessend noch Medizin studierte und nun als Ärztin arbeitet.

Jordi Arau, Maschinenbauingenieur und gebürtiger Spanier, begeisterte sich für die Kleinzinnkunst und führt sie mit künstlerischem Erfolg weiter. Der alte Werkraum des unteren Schweizers an der Herrenstrasse 7 wird heute museal genutzt, während die Produktion im dahinter gelegenen Gebäude stattfindet – in hellen Räumen, aber immer noch in traditioneller Manier.

Der obere Schweizer an der Herrenstrasse 17 wird jetzt von Adam Schweizers Enkel, dem Zinngiessermeister Gunnar Schweizer, und seiner Frau Karin geführt. Im Zinn-Café, das in die Ausstellungsräume integriert ist, lässt sich – bei Kaffee und Kuchen – die vielfältige Fabelwelt der Zinnfiguren genüsslich erleben.

In diesem Haus zum oberen Schweizer hatte notabene bereits der Dynastiegründer gearbeitet. Das Haus zum unteren Schweizer wurde, bevor der Betrieb aufgeteilt wurde, von einer kinderlos verstorbenen Tante geerbt. Heute verreist wohl kaum ein Besucher von Diessen ohne Mitbringsel aus einer der beiden Schweizer Zinnmanufakturen, und verschickt werden die filigranen Preziosen in die ganze Welt.

Am Anfang steht eine Skizze
Zinngiessen gehört zu jenen Handwerkskünsten, die noch heute so ausgeübt werden wie vor über 200 Jahren. Nur der Giessofen arbeitet inzwischen elektrisch mit Temperaturregulierung. Doch alles andere ist Handarbeit. Mit viel Kreativität und Fingerfertigkeit werden aus Zinnbarren kleine Kunstwerke erschaffen, die Auge und Herz erfreuen. Am Anfang einer Zinnfigur steht eine Bleistiftskizze. Doch der Weg vom Zeichnungsentwurf bis zum fertigen Kleinod ist lang.

Zuerst wird das Zeichnungsmotiv von Hand mit Stichel und Schaber aus einer flachen Schieferplatte als Negativrelief herausgearbeitet. Dessen Vorder- und Rückseite müssen absolut passgenau sein, was mittels Probeguss überprüft wird (siehe Bilder oben). Vergleichbar ist das Gravieren mit der Arbeit des Bildhauers, allerdings mit dem Unterschied, dass die Figur negativ abgebildet wird.

Die heisse Phase im doppelten Sinn während des Entstehungsprozesses ist der Giessvorgang. Mit einem Gusslöffel wird das auf rund 400 Grad erhitzte Zinn von Hand in die doppelseitige Schieferform gegossen.

Dabei kann die Luft durch eingravierte feine Kanäle entweichen. Das erhitzte Metall füllt alle Hohlräume aus, kühlt ab und erstarrt. Bereits Sekunden nach dem Guss kann der silberglänzende Rohling der Gussform entnommen und von den dicken Eingusszapfen und den dünnen Lufttrompeten befreit werden.

Letzter Schliff und Bemalen
Jede Zinnfigur wird dann in kleinen Serien weiter bearbeitet. Allfällige Fehlgüsse, die bei dieser Präzisionsarbeit jedoch selten vorkommen, wandern wieder in den Schmelztiegel. Die gelungenen Endprodukte werden thematisch gruppiert für den Finish, das heisst sie werden entgratet und poliert. Anschliessend wartet ein weiterer Höhepunkt auf die neugeborenen Figürchen: Durch Handbemalung wird ihnen eine Seele eingehaucht, und jedes Einzelstück wird zum Unikat.

Das Bemalen von Zinnfiguren erfordert geduldige Präzisionsarbeit: Die Zinnfiguren werden, meist in Heimarbeit, einzeln mit ultrafeinen Pinselchen bemalt, mit Emaillack oder mit Öl- und Acrylfarben. Manche sagen, dass für solche Miniaturkunst Frauenhände besser geeignet seien. Das sind in diesen Fällen dann meist Frauen, die zum Beispiel eine Ausbildung als Porzellanmalerin absolviert haben. Es gibt aber auch Ziergegenstände, die nicht bemalt werden, Türkränze und Fensterbilder etwa. Diese erhalten durch Schwärzen und Bürsten eine Patina, wodurch sie kontrastreicher und plastischer wirken.

Bei anderen Objekten bedarf es einer Sonderbehandlung. So müssen beispielsweise bei Adventskränzen in Miniaturform die flach gegossenen Teile zusammengelötet und das Ganze mittels passender Schablone gebogen werden.

Und schliesslich werden rund ein Drittel aller Artikel als Rohlinge zum Selbstbemalen hergestellt und samt passenden Farben und Pinseln verkauft. Denn es gibt kunstbeflissene Kunden und Kundinnen, die selber Hand anlegen möchten.

Boom an den Festtagen
Die Palette der Zinnfiguren, dieser kleinen Kunstwerke mit magischer Anziehungskraft, ist immens und vielfältig; sie umfasst Kirchliches und Profanes. Ersteres dominiert an Weihnachten und Ostern, Letzteres ganzjährig. Früher, als vieler Kinder Väter noch Soldaten waren, standen Zinnsoldaten hoch im Kurs.

Heute sind sie aus der Mode gekommen oder müssen friedlich daherkommen, in historischen Uniformen oder als Schweizer Gardisten. An Weihnachten sind Engel, Weihnachtsmänner, Krippen, Tannenbäumchen und Christbaumschmuck angesagt. An Ostern hoppeln Hasen in allen Variationen durch die Auslagen oder präsentieren sich als ganze Hasenfamilien.

Andere Motive sind etwa Brauchtum und Familienfeste, Märchenszenen, Trachten und Maibäume, Pferde- und Schlittengespanne, Schiffe, Segelboote und Eisenbahnen, Schlösser und Kirchen, exotische und Bauernhoftiere, traditionelle und aktuelle Berufe, alte oder neue Sportarten.

Und die Zinngiesser gehen mit der Zeit: So entstand zur Fussballweltmeisterschaft ein Wandbild mit einer Torszene, wobei sich die Akteure im Strafraum in den gewünschten Nationalfarben bemalen lassen.

Kurz: Wenn auch der Beruf des Zinngiessers durch Novellierung der Handwerksberufe abgeschafft und in das Berufsbild Metallgestalter integriert wurde: In Diessen am Ammersee lebt er weiter.

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Kunsthandwerks-Forum
Der Künstlerort Diessen am Westufer des Ammersees, im Landkreis Landsberg, liegt im sogenannten Pfaffenwinkel, wo man früher «unter dem Krummstab lebte», wovon noch die vielen Barockkirchen, Kapellen und Klöster zeugen. Neben der Kunst des Zinngiessens hat hier seit dem Mittelalter auch die Keramik-Tradition, und seit dem 17. Jahrhundert gibt es eine Fayence-Produktion. Um die Zukunft dieses Hortes der bildenden Kunst und des Kunsthandwerks zu sichern, wurde 1934 die Arbeitsgemeinschaft Diessener Kunst (ADK) gegründet. In einem unter Denkmalschutz stehenden Pavillon am See werden in einer Dauerausstellung die Arbeiten ortsansässiger Künstler und Kunsthandwerker gezeigt, keine seelenlosen Massenartikel, sondern liebevoll kreierte Einzelpretiosen, umfassend die Sparten Zinn, Edelmetall und Email, Keramik und Malerei, Holz, Stein, Glas und Metall sowie Leder, Textil und Papier. Immer am 15. August, zu Mariä Himmelfahrt, lockt der in seiner Art einmalige Diessener Kunsthandwerkermarkt weither gereiste Besucherscharen in die Seeanlagen. hh

www.diessener-kunst.de

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«I bin a armer Schweizer»
Der älteste Nachweis des Namens Schweizer stammt aus dem 15. Jahrhundert. Dort ist von einem Hanns Sweytzer von Unter-Peissenberg die Rede, wobei sich die Schreibweise im Laufe der Zeit abgewandelt hat in Schweytzer, Sweitzer, Schweitzer – bis zum heutigen Schweizer. Ein Zweig der Familie ist seit dem 17. Jahrhundert in Diessen nachgewiesen.

Schweizer tauchten früher auch schon in Schongau, Peiting und im Schwäbischen auf. «Seit 1450», so schreibt 1930 Bruno Schweizer (der Vater des heutigen Zinngiessermeisters Gunnar Schweizer), «verstand man unter einem ‹Schweizer› allgemein den Landsknecht, den Soldaten. Der kärgliche Ertrag ihrer Heimatscholle zwang eben damals manchen Bewohner der Schweiz, sich in fernen Landen auf diese Weise Geld zu verdienen».

Neben den Reisläufern in fremden Kriegsdiensten – ein Relikt davon ist noch die päpstliche Schweizergarde in Rom – waren es aber auch Viehzüchter, Käser und Zuckerbäcker, die ihr Können in andere Länder trugen. So hiess etwa der Obermelker im Zarenreich Oberschweizer. Auch Urwalddoktor Albert Schweitzer hat (der Vater des hier Schreibenden erforschte auf dessen Wunsch hin seine Herkunft) genealogische Wurzeln in der Schweiz, nur dass sich bei ihm das alte tz im Namen erhalten hat.

Der Diessener Chronist Bruno Schweizer weist auch auf einen alten Fasnachtsvers im Umfeld von Peissenberg hin: «I bin a armer Schweizer / I bitt en um an Kreuzer». Und er subsummiert: «Jedenfalls weisen die Wurzeln der Schweizer ins Allgäu hinüber, vielleicht wirklich in die Schweiz, wie die mündliche Überlieferung in unserer Familie immer behauptet hat». hh

www.schweizerzinn.de (oberer Schweizer) und www.zinnfiguren.de (unterer Schweizer)

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