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Von Kadavergehorsam und Disziplinierung

Liebe Schwiegermütter, liebe Grossväter, liebe Tanten und Onkel, manchmal früherer Generationen, manchmal aber auch heutiger Generationen und manchmal sogar modern verankerte Menschen!

Sabine Kronenberg

Es ist okay, frustriert zu sein. Es nervig zu finden, wenn heutzutage ein Elternteil mit seinem Kind auf Augenhöhe spricht (Augenverdreh). Vielleicht wirkt es für dich schmalzig und deplatziert. Das Kind schreit rum und da wird nicht zurückgetobt, sondern diese modernen Eltern versuchen, das Kind zu «verstehen». Das Kind kriegt einen Trotzanfall und die greifen nicht durch. Sind einfach dort und geben gurrende Laute von sich. Die zwingen die Kleinen nicht mal mehr dazu, schön «bitte» und «danke» zu sagen, sich artig zu verabschieden und artig zu grüssen, diese Hippies.

Aber hei, es ist der Moment einer grossen Chance. Stell‘ Dir doch ein paar Fragen, wenn es Dich das nächste Mal nervt, wenn sich da eine oder einer, die oder den du kennst (oder auch nicht) mit ihrem, seinem Kind «verbindet». Frag Dich: Was passiert da gerade mit mir? Ich nerve mich! Hui, wo kommt das wohl her? Wie war es wohl damals für mich, als ich mir in den Finger geschnitten habe? Hat da etwa jemand sofort gesagt «Das ist nichts, das macht nichts, das tut nicht weh. Nein nein, sch sch. Hier guck mal das Auto macht brumm-brumm!» Und zwischen den Zeilen: «Halt schnell wieder deine Klappe!» Hei Dude, es ist nicht okay, das Jemandem zu sagen. Stell’ dir vor, dir tut was weh und da kommt einer und sagt «Ach, das ist nichts. Reiss dich zusammen. Und ei guck‘ hier, ich zeig Dir ein Youtube-Filmchen zur Ablenkung.» Kommt man sich ja verkohlt vor. Wäre es nicht unglaublich viel hilfreicher, wenn jemand unverkrampft sagt «Scheisse, ich fühle mit dir, Bro. Kann ich irgendwie helfen?»

Es sind verfehlte Vorstellungen von früher, es sind alte Zöpfe, die wir mit uns rumschleppen und über die man schon aufgeklärt sein muss, wenn man sich schon erfrecht, eine Meinung zum Erziehungs- oder Sozialverhalten anderer Menschen zu haben. In den früheren Körper- und vor allem sexualfeindlichen Jahrhunderten galten sittliches Verhalten, Selbstbeherrschung und Selbstzwang als positive Werte. Kinder, so die verquere Vorstellung, mussten geformt werden. Die Verdrängung von Sexualität galt als besonders lobenswert und Keuschheit galt (insbesondere für Mädchen) als oberstes Gut. So kommen diese rückständigen Vorstellungen in unsere Köpfe, das unvollständige Kind formen zu müssen, gegen den unvollständigen Körper und notabene die unsäglichen Emotionen, die der produziert, vorgehen zu müssen. Schnee von gestern.

Es lässt sich nachweisen und im Tomografen messen, was es Abgründiges mit Menschen macht, wenn man ihnen «reiss dich zusammen» sagt. Und «Embodiment»: Was ich denke, werde ich. Hasse Deinen Körper und seine natürlichen Funktionsweisen (wozu Emotionen nun mal auch gehören) und Du wirst krank. Auch hat man gemessen, wie es für Kinder ist, wenn deren Eltern dauernd die Verbindung unterbrechen und nicht präsent sind. Diese Kinder zeigen äusserlich meist null Reaktion (sie haben ja schon gelernt, dass es nichts bringt) und innerlich rast der Puls und die Angst- und Stresshormone schiessen in die Höhe. In der langfristigen Konsequenz, wenn diese sogenannten Blagen es verinnerlicht haben, dass man sich nicht zu spüren hat, werden sie zu unerbittlichen, gnadenlosen Erwachsenen. Und die sind dann weniger resilient, als wenn sie von Anbeginn einen Umgang mit den natürlich vorkommenden Emotionen gelernt hätten. Im schlechtesten Fall muss denen dann eine Hausärztin, ein Hausarzt später mal sagen «Das, was sie fühlen, ist Traurigkeit. Sie sind traurig und das schon so lange unbehandelt (schön ignoriert oder übersprungshandelt, so wie man es gelernt hat), dass man dem Burnout sagt.»

Man weiss heute, dass Emotionen einfach da sind. Die lassen sich nicht «vermeiden», nur die Haltung dazu lässt sich ändern. Selbstmitgefühl ist die Vokabel. Und konsequenterweise Selbstfürsorge. Wie die alte Bauernweisheit: Wenn jeder Sorge zu sich trägt, ist für alle gesorgt. Und hopp! Die vermeintlich nervigen Eltern sind plötzlich diejenigen, die informierter und up to date sind. Und die, die es vermeintlich mal geil krachen lassen und mit ihrer Autorität «durchgreifen» sind die rückwärtsgewandten Loserinnen und Loser. Willkommen im 21. Jahrhundert.

Info: Sabine Kronenberg ist Historikerin und Ausbildnerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Biel. kontext@bielertagblatt.ch

Stichwörter: Neulich, Kolumne

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