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Alt und Jung

Von Recht und Gerechtigkeit

Ein Tierrechtsaktivist verschafft sich nachts Zugang in Hühnermastanlagen. Er dokumentiert heimlich das Leiden der Tiere. Nun musste er sich vergangene Woche vor Gericht verantworten.

Bild: Jessica Ladanie

Ihm wurde Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung sowie Widerhandlung gegen das Tierschutzgesetz vorgeworfen. Wie weit dürfen Tierschützer und Tierrechtsaktivistinnen gehen, um auf das Leiden der Tiere aufmerksam zu 
machen?

Rückblende: Die Geschichte nimmt ihren Anfang im Jahr 2017. Der Tierrechtsorganisation Tier im Fokus werden heimlich gefilmte Aufnahmen von Hühnermastbetrieben zugespielt. Die Aufnahmen sind schockierend. Auf den 
Videos sind tote und sterbende Tiere von BTS-Mastbetrieben zu sehen. BTS steht für «besonders tierfreundliche Stallhaltung», den Subventionszustupf erhalten die Mäster aus unserem Steuertopf.

Der Aktivist beschliesst, die Betriebe aufzusuchen und das Leiden der Tiere an die Öffentlichkeit zu bringen. Die Stiftung für das Tier im Recht reichte postwendend Strafanzeige wegen mehrfacher Tierquälerei gegen die Betriebe ein. Die zuständigen Behörden sahen ihrerseits keine Regelverstösse – obschon mehrere Tiere auf den Aufnahmen sichtlich leiden und qualvoll verenden.

«Wir haben das strengste Tierschutzgesetz der Welt», dieses Mantra wiederholt die Fleischindustrie gebetsmühlenartig bei jeder Gelegenheit. Die Politik tuts ihr gleich. Das geltende Tierschutzgesetz sieht vor, jedes Tier als Individuum zu schützen. Doch Millionen Hühner vegetieren in trostlosen Masthallen vor sich hin. Sie scheinen von diesem Gesetz ausgenommen.

Der Gesetzgeber billigt eine Mortalitätsrate von drei Prozent in der Hühnermast. Bei einer Mastdauer von rund 35 Tagen sterben in einem Stall mit 18 000 Hühner also über 500 Hühner vorzeitig an den Folgen der Massentierhaltung. In der Nutztierhaltung erreichen die Tiere ohnehin nur rund ein Prozent ihrer eigentlichen Lebenserwartung. Das Tierschutzgesetz, welches jedes Individuum schützen sollte, ist in der Hühnermastindustrie freilich eine Farce.

Weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft sehen bei sterbenden und leidenden Hühnern eine Widerhandlung gegen geltendes Tierschutzgesetz. Sie drehen den Spiess um und werfen dem Aktivisten vor, die Hühner durch das unbefugte Eindringen «gestresst» und in «Angst versetzt» zu haben. Sie bezichtigten ihn mit seinem Vorgehen der Tierquälerei.

Recht und Gerechtigkeit müssen nicht zwingend korrelieren. Rosa Parks weigerte sich in den 1950ern, ihren Sitzplatz im Bus für einen weissen Fahrgast zu räumen. Ihr Akt des zivilen Ungehorsams endete vor Gericht. Sie setze sich über geltendes Recht hinweg und stand für Gerechtigkeit ein. Heute gilt sie als Mutter der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten.

Das Beispiel Rosa Parks zeigt: Das Rechtssystem und unsere Vorstellung von Gerechtigkeit ändern sich fortlaufend. Was eine Gesellschaft anno dazumal als rechtens betrachtete, kann heute längst überholt sein. Geltendes Recht widerspiegelt eben einen Zeitgeist. Aus wandelnden Vorstellungen und Leitideen entsteht neues Recht.

Heute stellen wir unsere Gier auf billiges Fleisch über das Wohlergehen der Tiere. In der Massentierhaltung sind sie dem Willen des Menschen ausgesetzt. Wir degradieren sie regelrecht von Lebewesen zu Lebensmitteln. Die Zucht ist einseitig auf Leistung und Profit ausgerichtet. Mit der Massentierhaltung missachten wir gänzlich die Würde der Tiere.

Solange Tiere in der Massentierhaltung leiden und die Behörden die Interessen der Tiere ignorieren, müssen solche Missstände an die Öffentlichkeit gelangen. Oder finden Sie es gerecht, dass das Leiden der Tiere mit unseren Steuergeldern gefördert wird? Transparenz ist in der industriellen Tierzucht nicht gegeben.

Übrigens: Während die Staatsanwaltschaft den Aktivisten wegen Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung sowie Widerhandlung gegen das Tierschutzgesetz verurteilte, sprach ihn die nächst- 
höhere Instanz vom Vorwurf der Tierquälerei und Sachbeschädigung frei. Würde das Tierschutzgesetz das Leben jedes einzelnen Individuums wie vorgesehen schützen, wären solche drastischen Massnahmen wie Hausfriedensbruch nicht nötig.

Info: Jessica Ladanie ist 30 Jahre alt, arbeitet in der Kommunikation und ist für die Tierrechtsorganisation Tier im Fokus (TIF) fürs Visuelle zuständig.


 

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