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Berg-Karabach

Von Ruhe kann keine Rede sein

Kurz nachdem sich die Konfliktparteien auf einen Waffenstillstand geeinigt hatten, kam es schon wieder
zu heftigen Gefechten. Der Streit um die Kaukasus-Region zwischen Armenien und Aserbaidschan ist noch lange nicht gelöst.

Bild: Keystone

Silke Bigalke, Moskau

Seit Samstagmittag galt die Waffenruhe. Doch schon fünf Minuten nach zwölf soll Aserbaidschan wieder geschossen haben, behauptet das armenische Verteidigungsministerium. Aus Baku hiess es später, Armenien habe Aserbaidschanische Siedlungen angegriffen. Beide Seiten stehen sich so unversöhnlich gegenüber wie eh und je, auch nach den Gesprächen in Moskau.

Dort trafen sich die Aussenminister von Armenien und Aserbaidschan am vergangenen Freitag, mehr als zehn Stunden dauerten die Gespräche. Länger also als die Gefechtspause, die eigentlich folgen sollte: «Stepanakert wird jetzt bombardiert», schrieb am Samstagabend Armeniens Aussenminister Sohrab Mnazakanjan auf Twitter und sprach von einer «abscheulichen Aggression».

Stepanakert ist die Hauptstadt der umkämpften Region Berg-Karabach. Aserbaidschan berichtete gestern von Artillerieangriffen der armenischen Seite auf eine Wohnsiedlung in Ganja, der zweitgrössten Stadt des Landes. In der Stadt, die eigentlich ausserhalb der Konfliktregion liegt, sollen mindestens sieben Menschen getötet und mehr als 30 weitere verletzt worden sein. Unter den Opfern seien auch Kinder. Armenien dementierte. Man halte sich an die Waffenruhe, hiess es vom Militär.

 

Es herrscht offener Krieg

So geht weiter, was seit Wochen anhält: gegenseitige Vorwürfe, die sich oft nicht überprüfen lassen. Die Gefechtspause brauchten eigentlich beide Seiten. Sie müssen Gefallene bergen, Gefangene austauschen, Verletzte versorgen. Doch einem Frieden sind Armenien und Aserbaidschan in Moskau kaum näher gekommen. Waffenstillstand – das ist der Status quo seit 1994. Und genauso lange ist darauf schon kein Verlass.

Selbst zu diesem brüchigen Zustand scheint es nun kein Zurück mehr zu geben. Denn seit fast zwei Wochen herrscht offener Krieg. Mehrere Hundert Soldaten sind bereits gefallen. Beide Seiten beschiessen auch Städte und Dörfer, Zivilisten sterben. Allein in Berg-Karabach sollen 70 000 Menschen aus ihren Häusern geflohen sein, die Hälfte der Bevölkerung dort. Über Jahre haben sich die Regierungen in Baku und Jerewan für diesen Konflikt hochgerüstet.

Vor allem die Aserbaidschanische Seite betrachtet jetzt eine Waffenruhe als Nachteil. Armenien müsse Berg-Karabach aufgeben, so die Forderung aus Baku. «Wir geben Armenien eine Chance, diesen Konflikt friedlich beizulegen», sagte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew am Freitag vor dem Moskauer Treffen. «Es ist ihre letzte Chance.» Sofort nach den Gesprächen stellte sein Aussenminister dann klar: Die ausgehandelte Feuerpause werde nur so lange dauern, bis das Rote Kreuz den Austausch der Toten organisiert habe. Aserbaidschan rechne damit, noch mehr Territorium zu erobern, so der Minister.

Die armenische Regierung kontrolliert und verteidigt neben Berg-Karabach auch sieben umliegende Gebiete. Sie dienen als Puffer und sind inzwischen weitgehend unbewohnt. Jerewan denkt nicht daran, Land aufzugeben. Berg-Karabach gehöre zu Armenien, stellte Premier Nikol Paschinjan vor einem Jahr unmissverständlich klar. Er sagte das in einem Ton, der kein Hoffen auf eine Verhandlungslösung zuliess. Hinter der harten Linie steht auch innenpolitisches Kalkül: Ein Kompromiss wäre unpopulär in Armenien, der neue Premier wollte offenbar nicht testen, ob sein politisches Kapital dafür reicht. Zuletzt weigerte sich Nikol Paschinjan, an Verhandlungen teilzunehmen, solange die Gefechte anhielten.

Auf der Gegenseite kommt Langzeitmachthaber Alijew die Eskalation gelegen. Das erdölreiche Land leidet wirtschaftlich unter dem niedrigen Ölpreis, die Kämpfe lenken von innenpolitischen Problemen ab. In Baku rief ein grosser Teil der Bevölkerung bereits im Sommer nach Krieg – einige Tausend taten das laut auf der Strasse. Für die Aserbaidschanische Bevölkerung bedeutete der Waffenstillstand von 1994 eine Niederlage. Den Krieg um Berg-Karabach gewannen damals die Armenier und vertrieben die Aserbaidschaner aus der Region, die völkerrechtlich immer noch zu Aserbaidschan gehört. Dessen Armee beschiesst nun auch die Bevölkerung Berg-Karabachs, als wolle sie sie gezielt vertreiben.

 

Moskau in der Vermittlerrolle

Aserbaidschans Präsident Alijew dürfte sich von zwei Dingen ermutigt gefühlt haben: Die Türkei unterstützt ihn. Und Moskau stellt sich nicht so entschieden auf Armeniens Seite, wie es zu erwarten war. Armenien ist Russlands Partner und Mitglied im selben Verteidigungsbündnis, doch Moskau sieht sich bislang in der Vermittlerrolle. Putin äusserte sich vergangenen Mittwoch zum ersten Mal in einem TV-Interview zum Konflikt. Er nannte ihn eine «grosse Tragödie» und unterstrich die engen Beziehungen Russlands zu beiden ehemaligen Sowjetrepubliken – zu Armenien und zu Aserbaidschan. Er erkannte zwar an, dass Moskau Armenien gegenüber «gewisse Pflichten» habe. Die Kämpfe fänden nun aber nicht auf armenischem Territorium statt. Heisst auch: Für Berg-Karabach fühlt er sich nicht verantwortlich.

Armenien ist ärmer, seine Bevölkerung und seine Armee kleiner als die Aserbaidschans. Seine Abhängigkeit von Russland kommt Moskau gelegen, schon deswegen darf Armenien nicht geschlagen werden. Es wäre auch kein gutes Signal für andere Verbündete, wenn Moskau den Partner hängen liesse. Gleichzeitig wird Putin kaum gegen Aserbaidschan vorgehen, solange er nicht muss. Russland pflegt gute Beziehungen zu Baku, das auch russische Waffen einkauft. Und anders als andere frühere Sowjetrepubliken hat Aserbaidschan nicht mit Moskau gebrochen. «Russland hat viele Gründe, Armenien zu helfen, aber es hat überhaupt keinen Grund, Aserbaidschan zu bestrafen», fasst es der Experte Alexander Baunow vom Moskauer Carnegie-Center zusammen.

 

Waffenruhe als erster Schritt

Hinzu kommt: Präsident Putin kennt Ilham Alijew wesentlich länger als den armenischen Premier Paschinjan, der Führungsstil des Aserbaidschaners dürfte ihm näherliegen. Mit der neuen Regierung in Jerewan dagegen fremdelt Putin: Paschinjan hat in Armenien eine Revolution angeführt und lässt nun den früheren Staatschef strafrechtlich verfolgen – zwei Dinge, die der Kremlchef nicht ausstehen kann. Putin sieht beide Republiken als russisches Einflussgebiet. Die Frage ist daher eher, wie lange er noch dulden wird, dass sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan einmischt. Erst recht, wenn dieser syrische Söldner anwirbt, um sie auf Aserbaidschans Seite kämpfen zu lassen. Man mache sich Sorgen, sagte kürzlich Sergei Naryschkin, Direktor von Russlands Auslandsgeheimdienst SWR, dass der Südkaukasus «ein neues Sprungbrett für internationale terroristische Organisationen werden kann» und dass Kämpfer von dort «in an Aserbaidschan und Armenien grenzende Staaten, einschliesslich Russland, eindringen können». Mit einer ähnlichen Argumentation griff Russland bereits in den Syrienkrieg ein.

Zumindest am Telefon hat Putin mit den Konfliktparteien gesprochen – und am Samstag auch mit dem iranischen Präsidenten Hassan Rohani. Der Iran ist Nachbar beider Länder, genau wie die Türkei. Zum türkischen Präsidenten Erdogan aber hatte Putin seit Beginn der Kämpfe keinen Kontakt. Ankara fuhr ihm auch am Samstag wieder in die Parade: Die Waffenruhe sei ein erster Schritt, stehe aber nicht für eine dauerhafte Lösung, schrieb der türkische Aussenminister. Die Türkei stehe Aserbaidschan weiterhin zur Seite.

Die letzten schweren Kämpfe um Berg-Karabach im Jahr 2016 waren auch durch Moskaus Intervention nach vier Tagen wieder beendet. Nun scheint der Kreml kaum eine verlässliche Feuerpause vermitteln zu können. Aussenminister Sergei Lawrow telefonierte jedenfalls am Samstag beiden Parteien hinterher und ermahnte sie, sich an die Abmachung zu halten.

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Russland und Deutschland apellieren

Die Feuerpause in der Krisenregion Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan erwies sich am Wochenende als sehr brüchig. Beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, dagegen zu verstossen. Aserbaidschan berichtete gestern von Artillerieangriffen der armenischen Seite auf eine Wohnsiedlung in Ganja, der zweitgrössten Stadt des Landes. Dabei sollen mindestens sieben Menschen getötet und mehr als 30 weitere verletzt worden sein. Unter den Opfern seien auch Kinder. Armenien dementierte. Man halte sich an die Waffenruhe, hiess es vom Militär. Hingegen habe Aserbaidschan erneut Angriffe auf Stepanakert gestartet, der Hauptstadt Berg-Karabachs. Die Angaben konnten nicht unabhängig bestätigt werden.

Seit Beginn der neuen Gefechte in Berg-Karabach Ende September wurden mehrere Hundert Menschen getötet. Aserbaidschan macht bislang keine Angaben zu Verlusten in den eigenen Truppen, spricht aber von etwa 30 getöteten Zivilisten. Zudem sind Tausende auf der Flucht. Das Auswärtige Amt in Berlin appellierte an beide Seiten, den Waffenstillstand einzuhalten und weitere Opfer «unbedingt zu vermeiden».

Sergej Lawrow, der russische Aussenminister, bezeichnete die erzielte Vereinbarung als Grundlage für weitere Verhandlungen unter Führung der sogenannten Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die Gruppe wird von Russland, den USA und Frankreich angeführt. Dass Russland beide Seiten überhaupt an den Verhandlungstisch brachte, wurde auch von unabhängigen Kommentatoren gelobt.

Wann sich die Lage beruhigen könnte, ist trotzdem nicht absehbar. Die Moskauer Erklärung sei eigentlich ohne Alternative, sagte der russische Politologe Arkadi Dubnow. Sowohl das arme Armenien als auch das ölreiche Aserbaidschan verfügten nicht über genug Ressourcen, um die Gefechte länger fortzusetzen. Nur deshalb hätten sich beide auf Verhandlungen eingelassen. «Äusserst schwierig wird es aber, beide zu einem echten Friedensabkommen zu bringen», sagte Dubnow im Radiosender Echo Moskwy. sda

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