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Peru

Warum Grau
 keine eigene Farbe ist

Berlin-Fernweh-Autor Donat Blum hat in Lima den Anfang für seinen zweiten Roman gefunden – und einiges mehr.
 Er musste nur genau hinschauen.

Ein Blick auf Lima, Bild: Donat Blum
  • Dossier

Donat Blum

Letzten Juni war ich zum ersten Mal in Lima. Mein Onkel wohnt zwar bereits seit 35 Jahren hier, aber erst in diesem Sommer konnte ich mich überwinden und herreisen. Davor hatte ich kein gutes Bild der Stadt, verband mit ihr vor allem den Muff, den die Alpaka-Pullover und alles andere, was uns unser Onkel schickte, ausströmte.

Die Luftfeuchtigkeit liegt in Lima bei durchschnittlich 82 Prozent, weshalb Stoffe kaum trocknen, Gemälde und Bücher schimmeln und alles nach Sand und Keller riecht. Die Stadt liegt zwar am Meer, aber genauso in einer Wüste. Im Winter liegt eine zähe Nebeldecke über dem versmogten, grauen, staubigen Moloch. Vorurteile, die, wie ich feststellte, durchaus zutreffen.

Im Juni entdeckte ich aber noch ganz andere Seiten. Und diese haben etwas in mir berührt, das mich zum Schreiben und zum Anfang meines zweiten Romans brachten.

Beim literarischen Schreiben geht es ja wesentlich weniger um Ideen als um den tatsächlichen Akt, sich an den Schreibtisch zu setzen und um das, was hinter den Ideen steht: emotionale Prozesse. 280 Seiten Text voller Einfälle hatte ich in wenigen Wochen «produziert». Damit diese (meinen eigenen) literarischen Ansprüchen standhalten, 
müssen sie aber viel mehr sein als «tolle Ideen». Sie müssen Denkräume eröffnen, statt diese mit vorgefertigten Bildern zuzukleistern. Sie müssen Komplexität abbilden und fassbar machen, statt diese der Vereinfachung zu opfern. Sie müssen berühren und neue emotionale Prozesse anstossen, statt mit vermeintlich rationalen Wahrheiten vom Wesentlichen ablenken. Im Wesentlichen stellt literarisches Schreiben Beziehungen her: Beziehungen zwischen den durch Sprachbilder verknüpften Themen, zwischen Autorin, Leser und den Figuren im Buch. Und natürlich geht es auch um rein formale Schönheit: um Klang, Rhythmus und Tonalität.

 

Der erste Satz

Nun war ich also von meinem ersten Lima-Besuch – der nur eine Woche gedauert hatte, weil ich ihn, um ihn mir schmackhaft zu machen, ans Ende einer längeren Reise in ein anmächeligeres Land (Brasilien) angehängt hatte – zurück in Berlin. Ich verfiel meinem üblichen Arbeitstrott, schrieb diesen oder jenen Auftragstext, bis ich im September drei Wochen freischaufeln konnte, um endlich mit meinem zweiten Roman zu beginnen. Und da, nach einigen Tagen die ich jeweils brauche, um mich auf die Gesetzte des Schreibens, den eigentümlichen Rhythmus, die Introspektion einzulassen, brachte ich einen Satz aufs Papier, der einen nächsten nach sich zog und einen übernächsten und immer so weiter, ohne dass sich ein Ende abzeichnete. Ich wurde furchtbar nervös, aus Angst, es könnte nie mehr aufhören oder sich im Gegenteil als heisse Luft entpuppen, und gleichzeitig 
euphorisch, weil sich immer weitere Türen öffneten, noch mehr Bilder, noch andere Erinnerungen ineinanderfügten.

Dieser erste Satz – und viele Folgende – handelten von Lima, und von Peru. Von den Vorurteilen, die sich durchaus als wahr, aber nicht als pauschal gültig entpuppten. Von einem riesigen Olivenhain, der seit hunderten von Jahren mitten in der Stadt wächst, und über all die Generationen liebevoll als Stadtpark gepflegt worden ist. Von den Vororten, die sich wie Dünen in die Weiten erstrecken. Von den jahrtausendealten Pyramiden, die sich zwischen den Hochhäusern noch immer erheben. Und von meinem Onkel, der nie in der Stadt leben wollte, und es doch seit bald 30 Jahren tut.

Besonders stark leuchtete Lima im Kontrast zu São Paulo und Rio, woher ich im Juni angereist kam. Gerade São Paulo schien völlig geschichtsvergessen. Eine neue, moderne Stadt, wie man sie überall auf der Welt findet: Mit Starbucks und unabhängigen ähnlichen Café-Ketten, mit Kunstmuseen und Fahrradwegen. São Paulo, aber auch die Teile Rios, die wir damals besucht hatten, waren mir weitgehend vertraut und wirkten in vielen Dingen geradezu europäisch. In Lima hingegen sahen nicht mal die Menschen so aus, wie ich es gewohnt war. Peru ist eines der südamerikanischen Länder mit dem höchsten indigenen Bevölkerungsanteil. In Lima wird das besonders deutlich. Die Hautfarbe der meisten Passanten ist dunkelbraun, die Kopfformen sind kantiger, die Nasen grösser.

 

85 Prozent Wahlbeteiligung erwartet

Aber auch politisch ist das Land gleichermassen eigentümlich wie hoch spannend: chaotisch einerseits und andererseits seit über 20 Jahren eine der stabilsten Demokratien der Region. Das heisst: Alle ehemaligen Präsidenten sitzen im Gefängnis oder haben sich der Korruption schuldig vor der Verurteilung umgebracht. Die Tochter des letzten Diktators, Keiko Fujimori, wurde dieser Tage zwar aus der Untersuchungshaft entlassen, die Anti-Korruptions-Ermittler ziehen die Schlinge um ihren Hals aber immer enger zu. Und, diese Nachricht hat es gerade noch so bis nach Europa geschafft: Der jetzige Übergangspräsident hat den von ihr dominierten Kongress mit viel Rückendeckung aus der Bevölkerung wegen Dysfunktionalität geschlossen. Im Januar stehen vorgezogene Kongresswahlen an. Die Leute werden hingehen. Rund 85 Prozent Wahlbeteiligung wird erwartet, denn Wählen ist in dieser eigentümlichen Demokratie Pflicht.

Isoliert betrachtet sind solche tagespolitischen Geschichten für mein literarisches Schreiben weniger interessant. Aber sie verweisen auf seine Geschichte: auf die hiesigen Hochkulturen, die über 3000 Jahre zurückreichen, die Kolonialisierung durch die Spanier im Mittelalter, die Unabhängigkeit, die Diktatur des Vaters Fujimoris. Sie eröffnen mir eine unerwartete Vielschichtigkeit. Mit jeder freigelegten Schicht tritt eine weitere zutage.

So ist Lima zwar eine graue Stadt, aber bei nahezu jedem Blick aus dem Fenster entdecke ich einen neuen Klecks Farbe, da der Einfallswinkel des Lichtes durch die 
Nebeldecke mit jedem Windstoss wechselt. Lima macht mir bewusst, dass Grau keine eigene, sondern eine dezente Mischung aus vielen Farben ist, eine, die sich je nach Perspektive ändert. Eine besonders gute Voraussetzung, um zu schreiben. Man muss nur genau hinschauen, und der graue Moloch beginnt in all seinen Farben zu schillern. Nicht nur, aber bei Ceviche und Pisco Sour, den beiden Flaggschiffen der mittlerweile weltweit hochgepriesenen peruanischen Küche, besonders.

Stichwörter: Fernweh, Peru, LIma, Donat Blum, Reisen

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