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Titelgeschichte

Was alles in der Kunst kreucht und fleucht

Von Hieronymus Bosch bis Damien Hirst: Künstler beschäftigen sich seit jeher mit Insekten. Manchen ging es wie den mit Biel eng verbundenen Malern Léo-Paul Robert 
und seinen Söhnen um eine naturalistische Darstellung, 
bei anderen werden Krabbeltiere zum Symbol für Tod 
und Vergänglichkeit oder treten in Form von 
Libellen als Femme Fatale auf.

Was sucht die Libelle auf dem Brot? Georg Flegels "Stillleben mit Käse und Kirschen". Bild: zvg
  • Dossier

Helen Lagger

War der niederländische Maler Hieronymus Bosch (1450-1516) Surrealist, Jahrhunderte bevor es den Begriff überhaupt gab? Vieles wurde über den «Höllenmaler» spekuliert, dessen Malerei in ihrer Sonderbarkeit nicht von dieser Welt zu sein scheint. Nahm der Maler Drogen? War er psychotisch oder fanatisch religiös?

Viele dieser Annahmen werden heute von Experten relativiert. Bosch war wohl stärker als bisher angenommen ein Kind seiner Zeit. Denn nicht alles, was bizarr ist, ist auch surreal. Manches bei Bosch ist einer im Spätmittelalter durchaus üblichen Symbolik geschuldet. So standen etwa Raubvögel für das Böse.

Mysteriös bleibt sein Mischwesen – halb Käfer, halb Gelehrter – auf dem Gemälde «Johannes auf Patmos», das um 1489 entstand und sich in der Gemäldegalerie in Berlin befindet.

Im Mittelpunkt des Gemäldes steht die Figur des Johannes. Der Evangelist befindet sich im Exil auf der Mittelmeerinsel Patmos, was in Boschs Version nicht zu erkennen ist. Vielmehr gleicht seine Szenerie einer niederländischen Flusslandschaft. Am unteren Bildrand sind ein Raubvogel und das merkwürdige Mischwesen zu sehen. Das dämonische Tierchen spielt wohl auf die von Johannes beschriebene Apokalypse an. In seinem Triptychon «Das Jüngste Gericht» stellte Bosch die gefallenen Engel als Insekten dar, die den Erzengel Michael umschwirren. Kreuchendes und Fleuchendes stehen bei Bosch für Sündigkeit.

Zwischen Käse und Kirschen

Im Zeitalter des Barocks hatten Stillleben Hochkonjunktur. Georg Flegel (1566-1638) gilt als erster deutscher Meister dieses Genres. In seinem «Stillleben mit Käse und Kirschen» von 1635 findet man stark symbolisch aufgeladene Lebensmittel. Brot und Wein stehen im barocken Stillleben für Leib und Blut Christi. Käse, da es sich um festgewordene Milch handelt, gilt als Speise der Unsterblichkeit. Auch die Früchte beinhalten christliche Symbolik. Kirschen gelten als Paradiesfrüchte, während die Johannisbeere auf Johannes den Täufer verweist. Die Mandel wiederum steht mit ihrer harten Schale für das Leid Christi und mit ihrem weichen Kern für dessen Güte. Das kleinformatige Gemälde war für private Auftraggeber geschaffen worden. Die profane Interpretation des Stilllebens wäre, dass hier Wohlstand zelebriert und zur Schau gestellt wird und dabei gleichzeitig – ganz in Sinne der für den Barock typischen Vanitas-Darstellungen – vor der Vergänglichkeit aller irdischen Dinge gewarnt wird.

Doch was bedeutet die auf der Brotscheibe sitzende Libelle? Insekten verheissen auch im Barock nichts Gutes. Sie stehen für das, was keinen Bestand hat oder gar für das Böse. Fast schon unheimlich, wie diskret sich dieses Tier hier ins Bild einfügt, als wäre es ganz zufällig dazu gekommen.

Flegels Stillleben ist längst Teil der Popkultur: Die Deutsche Post hat das sorgfältig komponierte Gemälde auf einer Briefmarke weiterverbreitet.

Fatale Frau als Libelle

Sie sieht fast aus wie echt: Die Brosche des Künstlers und Goldschmieds René Lalique (1860-1945) in der Form einer Libelle. Vorgestellt wurde das Objekt an der Weltausstellung von 1900 in Paris. Eine Sensation: Die Flügel des barbusigen Mädchens können geschlossen und wiedergeöffnet werden, sodass sie wie bei einem richtigen Insekt flattern und dabei die Brüste der Figur bedecken und wieder offenlegen.

Die Gestalt ist ein Mischwesen, halb Insekt, halb Frau, die statt Arme Flügel hat und statt Beine einen vergoldeten Insektenunterleib. Lalique war einer der bekanntesten Schmuck- und Glaskünstler des Art Déco und des Art Nouveau, der französischen Ausprägung des Jugendstils. Er machte seine Lehrausbildung bei einem angesehenen Juwelier in Paris und studierte an der École des Arts Décoratifs. Typisch für ein Kind seiner Zeit orientierte er sich an Naturformen.

Seine innovativen Entwürfe fanden Abnehmer unter illustren Pariser Juwelieren: So gestaltete er unter anderem für Cartier. Das Verwenden von kostbaren Materialien wie Gold, Perlen und Edelsteinen war nicht Laliques Priorität. Vielmehr setzte er auch Unprätentiöseres wie Horn, Glas oder Halbedelsteine ein.

1890 eröffnete Lalique sein eigenes Geschäft. Wie sehr bei der Libellenfrau-Brosche, die sich heute in einem Museum in Lissabon befindet, Frau und Insekt verschmelzen, wird am Kopf deutlich. Die Skarabäen, die den Helm, der auf dem Frauenkopf ruht, besetzen, stellen gleichzeitig die Augen des Insektes dar. Dass die Flügel so irisierend wirken, ist Lalique mit durchscheinenden Steinen und schillernder Emaille in Grün und Blau gelungen.

In Laliques Kunst verwandeln sich Frauen häufig, sei es in Blumen, Fische oder Insekten. Ihre Sinnlichkeit birgt Gefahr. Auch die Libellenfrau ist eine Femme Fatale, ebenso verführerisch wie mörderisch, worauf der Stachel am Ende des Schwanzes verweist. Die Schauspielerin Sarah Bernhardt soll angeblich diese exzentrische Brosche getragen haben. Übersehen dürfte sie damit niemand haben.

Insekt als Selbstporträt

Man denkt an den armen Gregor Samsa, der sich in Franz Kafkas Erzählung «die Verwandlung» (1915) zu seinem eigenen Schrecken eines schönen Morgens in einen Mistkäfer verwandelt. Der belgische Meister James Ensor (1860-1949) liess sich in seiner auf Japan Papier gedruckten Kaltnadelradierung «Die seltsamen Insekten» allerdings von einem Gedicht von Heinrich Heine (1797-1856) inspirieren.

Ensor zeichnete in dem 1888 entstandenen Werk ein Selbstporträt hinein: Der Käfer rechts im Bild trägt die Züge des Dandys und Flaneurs. Auch das zweite Insekt im Bild, eine Libelle hat ein menschliches Antlitz, nämlich dasjenige einer Frau. Ein weiteres Insekt, ein um einiges kleinerer Käfer, hat hingegen keine menschlichen Gesichtszüge, was die Szene noch bizarrer macht. Ensor liebte Maskeraden und gilt als Meister der Groteske. Offensichtlich verschonte er auch sich selbst nicht.

Schimmel und Schokolade

Kunst mit Ekelfaktor schuf der stark umstrittene in Deutschland geborene Schweizer Dichter, Grafiker und Aktionskünstler Dieter Roth (1930-1998). Er schuf Objekte aus organischem Material, die er ganz bewusst dem Prozess des Verfalls aussetzte. Diese luftdicht verschlossenen «Bilder» enthalten Gewürze, Schimmel und Schokolade und werden von Motten zerfressen. Angegliedert an das nach dem Künstler benannte Museum in Hamburg hat der Künstler in den Neunzigerjahren in einem ehemaligen Kutscherhaus sein sogenanntes «Schimmelmuseum» eingerichtet.

Auch hier ging es Dieter Roth um sein Konzept von vergänglicher Kunst, wobei tote und lebendige Insekten eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Wegen starker Baufälligkeit und aus Sicherheitsgründen musste das Gebäude 2004 abgebrochen werden.

Schmetterlinge der Hoffnung

Er gilt als das wichtigste Aushängeschild der Young British Artists, die in den 1990er Jahren die Kunstszene aufmischten. Der 1965 in Bristol geborene Damien Hirst wurde durch Plastiken mit in Formaldehyd eingelegte Tierkörper, darunter ein ganzer Hai, und durch mit Diamanten besetzten menschlichen Schädeln zu einem der bekanntesten und reichsten Künstler der Gegenwart. Hirst übersetzt den barocken Vanitas-Gedanken in die Jetztzeit, beschäftigt sich geradezu obsessiv mit Leben und Tod.

Klar, dürfen da die Insekten nicht fehlen. In seiner berüchtigten Installation «A Hundred Years» von 1990, einer zweigeteilten Glasvitrine werden tausende von Fliegen geboren. Sie schlüpfen aus einem würfelförmigen Gehäuse und können theoretisch zwei Monate leben, vorausgesetzt sie verenden nicht früher in einer Falle. Was für den Künstler den Kreislauf von Geburt und Tod symbolisiert, erhitzt die Gemüter. Die Proteste blieben nicht aus, zahlreiche Bürger äusserten ethische Bedenken, als das Werk an die Öffentlichkeit gelangte.

Doch Hirst schafft auch Gefälligeres. Nebst Fliegen, Haien und Schafen gehören auch Schmetterlinge zum bizarren Kosmos des Briten. Selbst im Tod sehe der Schmetterling lebendig aus, formulierte Hirst seine Liebe für das dekorative Tier. Anlässlich der Pandemie schuf Hirst 2020 seinen «Butterfly Rainbow», ein Werk in limitierter Auflage, dessen Einkünfte dem «National Health Service» zu Gute kam. Mit dieser Arbeit in Form eines Regenbogens, nahm er das Symbol auf, das Eltern und Kinder in England als Bild der Hoffnung gezeichnet und in ihre Fenster gehängt hatten.

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