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Wochenkommentar

Was ist wirklich wichtig für die Sicherheit der Schweiz?

Der Abstimmungskampf um die Übernahme der EU-Waffenrichtlinie wird von den Gegnern mit einer Heftigkeit geführt, die angesichts der tatsächlichen Auswirkungen für die Waffenbesitzer, Schützinnen und Sammler erstaunt.

Bild: Tobias Graden

Gewiss, der politische Umgang mit der Waffe ist durch die lange militärische Miliztradition und dem damit verbundenen weit verbreiteten Schützenwesen eine hochemotionale Angelegenheit, um nicht zu sagen: Ihr Stellenwert im nationalen Selbstverständnis wird von manchen Waffenträgern mythisch überhöht. Die Sujets, die nun im Internet kursieren, verdeutlichen ihre Mentalität. Natürlich hebt Wilhelm Tell abwehrend den Arm gegen die Habsburger, pardon: gegen die EU, bisweilen lässt er sogar wissen: «Mir fehlt der Arm, wenn mir die Waffe fehlt.» Andernorts heisst es: «Das Gewehr macht den Unterschied aus zwischen einem freien Bürger und einem blossen Steuerpflichtigen.» Die Vereinigung der historischen Schützengesellschaften der Schweiz schliesslich warnt mit keinen geringeren Worten als: «Hütet Euch am Morgarten!»

Die offiziellen Plakatsujets des Referendumskomitees sind nur wenig sachlicher. Sie zeigen teils Waffen, für deren Besitzer gar nichts ändert. Oder sie insinuieren im einen Fall durch eine Armbinde mit der Aufschrift «Polizei», dieser drohe künftig die «Entwaffnung». Dabei ist die Teilrevision des Waffenrechts im Korps zwar durchaus umstritten, doch sehen die Mitglieder der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren das übergeordnete Ganze und machen sich deutlich für ein Ja am 19. Mai stark. Und das grosse Inserat, das die Gegnerseite auf der Titelseite von «20 Minuten» platzierte, bestand zu guten Teilen aus blossen Behauptungen – enthielt aber auch eine absurde Note, indem die guthelvetische Waffentradition plötzlich neudeutsch «gun culture» genannt wurde.

Es steckt viel Geld in diesem Abstimmungskampf. Viel zu viel, als dass es den Gegnern bloss darum gehen dürfte, Schützinnen, Sammler und künftige Käufer von halbautomatischen Waffen mit grossen Magazinen vor etwas zusätzlicher Bürokratie respektive dem Antrag einer Ausnahmebewilligung zu bewahren. Vielmehr wird die Vorlage zu einer Europafrage hochstilisiert – offenkundig zielt die Führung der Gegnerschaft auf die Schengen- und Dublin-Mitgliedschaft der Schweiz. Denn will die Schweiz diese nicht aufs Spiel setzen, muss sie die Anpassung des Waffenrechts vornehmen. Andernfalls droht der Ausschluss innert drei Monaten. Von einem «EU-Diktat» zu sprechen, ist gleichwohl zumindest höchst unpräzis. Nicht nur, dass sie nun direktdemokratisch darüber abstimmen kann – die Schweiz hat an der Weiterentwicklung des Rechts wie die anderen Mitgliedsstaaten mitgewirkt und dabei zahlreiche Ausnahmen erwirkt, die den hiesigen Gegebenheiten Rechnung tragen.

Die wirklich relevante Frage in diesem Abstimmungskampf ist also: Was trägt stärker zur Sicherheit in der Schweiz bei, die Schengen-Mitgliedschaft oder ein möglichst liberales Waffenrecht? Die Antwort fällt klar aus. Laut dem eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement werden pro Tag in der Schweiz zwischen 300000 und 350000 Abfragen im Schengener Informationssystem getätigt. Im Jahr 2018 lieferte die Datenbank den Schweizer Behörden 19000 Fahndungstreffer. Und was ist vorteilhafter für die Schweiz, die Dublin-Mitgliedschaft oder das Pochen auf den waffenrechtlichen Sonderfall? Dank Dublin können jährlich mehrere tausend Asylbewerber in jenes Land zurückgewiesen werden, in dem sie zuerst ein Asylgesuch gestellt hatten. Ohne diese Möglichkeit entstünden der Schweiz massive Mehrkosten.

Kurzum: Dass die Waffenbesitzerinnen und -besitzer keine Freudensprünge machen, ist verständlich. Wem aber die Sicherheit in und das Wohlergehen der Schweiz am Herzen liegt und wer unter dieser Prämisse eine rationale Güterabwägung vornimmt, kommt zu einem Ja am 19. Mai. Das Gesamtinteresse der Schweiz ist höher zu gewichten als das Partikularinteresse der Waffenbesitzer. Über allfällige künftige weitere Verschärfungen des Waffenrechts wird die Schweiz ohnehin wieder im üblichen Gesetzgebungsprozess entscheiden können.
Und jenen Waffenfreunden mit Hang zur Überhöhung der staatspolitischen Bedeutung des eigenen Selbst sei deutlich gesagt: Ob jemand vollwertiger Bürger und wertvolle Bürgerin dieses Landes ist, hängt nicht davon ab, ob zuhause ein Sturmgewehr im Keller steht.

tgraden@bielertagblatt.ch

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