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Wellenreiten auf der Schüss

Aufwachen. Aufstehen. Der erste Effort ist schonmal in einem Körper aufzuwachen, der nach einigen Stunden Schlaf einen Standschaden hat wie eine rostige Karosserie. Überall Druckstellen, schmerzende Punkte, manchmal Gelenke, manchmal Muskeln oder auch unbestimmtes Pulsieren.

Sabine Kronenberg. Bild: bt/a

Aufwachen. Aufstehen. Der erste Effort ist schonmal in einem Körper aufzuwachen, der nach einigen Stunden Schlaf einen Standschaden hat wie eine rostige Karosserie. Überall Druckstellen, schmerzende Punkte, manchmal Gelenke, manchmal Muskeln oder auch unbestimmtes Pulsieren. Hans seufzt. Versucht sich zu regen. Es wird wohl gehen.

Dann Effort Nummer zwei: Mit einem Hauruck die Decke vom Körper heben. Dann kommts: Aufstehen. Allez-hü, ermuntert sich Hans. Die Arme 
in die Luft. Die Finger lassen sich bewegen. Heute wird ein guter Tag. Dann die Arme nach links und mit dem Schwung möglichst den ganzen Körper drehen. Beine zum Matratzenrand robben und Richtung Fussboden gleiten lassen. Und wieder den Schwung nutzen und er sitzt am Bettrand. 
Erneutes Seufzen. Geschafft. Bis Hans gewaschen, rasiert und angezogen ist, dauert es eine Stunde. Eine Knobelaufgabe nach der anderen. Dann Kaffee kochen, ein Brot schmieren und Zeitung lesen. Eine weitere Stunde. Das sind Hans’ morgendliche Abenteuer, seit dem 75. wird alles mühsamer. 
Er tut sich schwer.

Nicht so Erna, seine Nachbarin. Sie ist auch alleinstehend und geht gegen die 80. Ein Leben lang war sie aktiv. Aufgewachsen auf einem Bauernhof mit acht Geschwistern, gab es immer etwas zu tun. Und es war ein freudiger Familienbetrieb. Zugegeben, es ging ihnen auch immer ganz gut. Sie hatten warm, genug zu essen und ein Dach über dem Kopf. Und der Vater war kein Despot, nicht wie bei Hans. Der Vater hat auch seine Mädchen geliebt und gefördert. Sie durften sogar in die Sek, wenn es reichte. Das hat Erna einiges im Leben vereinfacht. Sie durfte mit den Gielen raufen und mit Nachbars wilden Arabern ausreiten ohne, dass es ein Himuheilanddonner gab. Und später – sogar ein Beruf! – wurde die Pferdenärrin Sattlerin. Überhaupt hat Erna manchmal den Eindruck, sie wuchs im Vergleich zu Hans regelrecht modern auf. Nicht, dass Hans viel davon spricht. Aber den Lederriemen hat er schon erwähnt. Oder, dass er der unerwünschte Zweitgeborene war. Er hätte ein Mädchen sein sollen, einen Erstgeborenen gab es ja schon.

Irgendwie ist Hans dann immer drunter gekommen. Hat auch bei einem Berufsunfall schon früh ein Auge verloren. «Er rechnet aber auch immer mit dem Schlimmsten, der Hans.», jetzt seufzt Erna auch ein erstes Mal an ihrem Tag. In den zwei Stunden, die Hans zum Aufstehen braucht, hat sie ein bisschen Morgengymnastik gemacht, ein einfaches Mittagessen vorbereitet und den kleinen Rucksack parat gemacht für den Ausflug am Nami, während der Kaffee kocht. Sie wird Hans dann wieder zum Sonntagsspaziergang zwingen. Sonst kommt der ja nie raus. Seit Corona noch viel schlimmer.

Den Coronakoller kennt Lene auch. Es dauert nun schon genug lang, mit diesen Lockdowns (jetzt schon in der Mehrzahl), auch wenn es gerade nur ein halber ist. Allez-hü, sagt sich auch Lene. Dann halt kein Schwimmbad. Dann halt Sport machen, wo man kann. Im Wald, im See. Winter-Neopren übergestülpt und los. Und dann Schnee: Skitouren von Biel aus. Mit dem Velo zum Waldrand, dann im Wald hoch, hinten nach Orvin runterfahren, dann nach Les Près-d’Orvin, dann Mont Sujet und runterfahren bis fast an den See. Ha! Nur nicht unterkriegen lassen. Und dann schmilzt der Schnee, es regnet tagelang, ohjemine. Also gut, dann halt durch die wilden Wellen in der Schüss mit dem Schwimmbrettli.

Als Hans und Erna dann der Schüss entlang gelaufen kommen, klettert Lene mit einem breiten Grinsen gerade aus der Schüss. Etwas zittrig ist sie schon, das Wasser ist nur wenige Grad warm und in den Wellen ist die Kraft des Elements spürbar. Trotzdem ist es Alpamare. «Hihi», sagt sie zu den beiden betagten Spaziergängern. Der eine schaut sie schockiert an. Angstgeweitete Augen. «Spinnt die???» steht auf dessen Stirn in Grossbuchstaben und Lene rutscht beinahe an der Mauer ab, so verunsichert der Blick. Die alte Dame ist begeistert. Und winkt ab, als Lene sagt, es sei im Wasser weniger wild, als es aussehe: «Ha! Das haben wir früher auch immer gemacht im Doubs! Geniessen sie es!» Sie zieht den Mann mit den angstgeweiteten Augen am Ärmel weiter.

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