Sie sind hier

Abo

Kriminalistik

Wenn der Zufall hilft, einen Kriminalfall zu lösen

Plötzlich taucht bei einem Küchenumbau die Tatwaffe auf. Oder die DNA eines Räubers stimmt mit früheren Spuren überein. Manchmal sind es Zufälle, die Licht in einen bislang ungelösten Fall bringen. So auch beim Mord an Brigitte Didier in Biel.

Unerwartete Hilfe:Manchmal ist es nicht die polizeiliche Arbeit alleine, die einen Fall löst. Bild: pixabay

Sandra Rutschi

Er scheint der Fantasie verzweifelter Krimi-Autoren entsprungen zu sein. Doch der berühmte Kommissar Zufall kommt in der Realität durchaus vor. Bei Kriminalfällen, die jahre- oder gar jahrzehntelang ungelöst bleiben, ist er manchmal sogar die letzte Hoffnung.

Wie der Zufall in scheinbar aussichtslosen Ermittlungen zum Durchbruch verholfen hat, zeigen die folgenden Fälle.

Der Mörder sitzt bereits im Gefängnis

Der Mord an Brigitte Didier aus Tavannes ist ein Paradebeispiel dafür, wie technischer Fortschritt, gute Spurensicherung und Kommissar Zufall einen Täter nach 16 Jahren doch noch überführen können.
Die 18-jährige Pharmaassistentin geht am 20. Dezember 1990 nach Biel zum Zahnarzt und will danach via Autostopp in den Berner Jura zurückkehren. Am 5. Januar finden spielende Kinder Brigitte Didiers Leiche unter dem Viadukt der Autobahn A16. Sie wurde gewürgt, vergewaltigt und erstochen.
Die Polizei befragt über 400 Personen, setzt eine Belohnung aus – doch jeder Hinweis verläuft im Sand. Auch eine DNA-Analyse, eine damals neue und unerprobte Methode, liefert keine Ergebnisse. Zehn Jahre lang tappt die Polizei im Dunkeln.

Im Verlauf der 90er-Jahre jedoch macht die Forschung immense Fortschritte. Die Kriminaltechnik untersucht 2001 Brigitte Didiers Slip erneut – und kann nun die DNA-Spuren von zwei Männern nachweisen. Der eine hatte ein Verhältnis mit dem Opfer. Der andere sitzt bereits im Gefängnis, weil er 1999 in Biel einen Mann erschossen hatte.

Deshalb ist sein Erbgut in der damals neuen zentralen DNA-Datenbank abgespeichert. Er wird 2006 für den Mord an Brigitte Didier verurteilt.

Ein Zigarettenstummel verhilft zum Durchbruch

Im September 2003 geht ein Ehepaar den Berner Ermittlern ins Netz: Der 44-jährige Deutsche und seine 40-jährige Schweizer Ehefrau werden wegen Vermögensdelikten festgenommen. Dass sie Mörder sein könnten, denkt zu diesem Zeitpunkt niemand. Doch bei einer routinemässigen Analyse stellt sich heraus, dass ihre DNA-Spuren mit jenen an einem Zigarettenstummel übereinstimmen, der 1997 neben der Leiche von Yvonne Liniger gefunden wurde.

Die 30-jährige Prostituierte war in der Nacht auf den 4. November 1997 letztmals auf dem Drogenstrich im «Schänzli»-Park gesehen worden. Am nächsten Morgen fanden Spaziergänger die erschlagene Frau im Büelwald in Oberlindach. Das Paar gesteht die Tat.

Der Räuber ist auch ein Mörder

Anfang 2017 schnappt die Polizei in Spanien einen 74-jährigen Italiener, der Schmuck verhökert. Nach seiner Auslieferung an die Schweiz ist klar: Er ist der Räuber, der im September 2016 im Thuner Bälliz auf brutale Art und Weise eine Bijouterie ausgeraubt hat. Er nahm die Filialleiterin, ihren Ehemann und ihre Tochter als Geiseln und drohte den dreien, jemanden aus der Familie umzubringen, wenn sie nicht kooperieren.

Seine DNA stimmt mit Spuren überein, welche die Zürcher Polizei 1997 an einem Tatort fand. Er soll in Küsnacht eine 87-jährige Frau in ihrer Villa gefesselt, missbraucht und getötet haben. Zurzeit führt die Zürcher Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren. Ein Gerichtstermin steht noch nicht fest.

Deliktgut im Zoll hängen geblieben

Manchmal schlägt Kommissar Zufall sehr schnell zu. Das zeigt der Fall der Mörderinnen einer 88-jährigen Bewohnerin eines Alterszentrums im zürcherischen Kilchberg.

Die Nachtschwester und ihre Freundin verschaffen sich in der Nacht auf den 10. November 2013 mit einem Passepartout Zugang zur Wohnung, um die Rentnerin zu bestehlen. Dabei drücken sie der schlafenden Frau abwechselnd ein mit giftigem Salmiakgeist getränktes Tuch aufs Gesicht. Die Frau erstickt.
Einen Tag nach dem Tod der Rentnerin will ein Bekannter der beiden Frauen nach Deutschland fahren. An der Grenze wird er zufällig kontrolliert. Man findet bei ihm Deliktgut aus dem Raub in Kilchberg. Das führt die Kantonspolizei zu den beiden Frauen.

Jahre später gesteht die Mörderin

Auch späte Geständnisse können Fälle klären. Wie zum Beispiel jenes der sogenannten Parkhausmörderin, die seit rund 20 Jahren im Frauengefängnis in Hindelbank verwahrt wird.
1991 legt sie als 18-Jährige erste Brände in Telefonkabinen und öffentlichen Toiletten in der Innerschweiz. Ende April 1992 wird sie verhaftet und gesteht, rund 40 Brände gelegt zu haben. Sie kommt für einige Zeit ins Gefängnis, entgeht knapp einer Verwahrung. Jahre und weitere 50 Brandstiftungen später gesteht sie, dass sie 1991 im Zürcher Parkhaus Urania eine 29-jährige Frau erstochen hat. Und dass sie 1997 erneut im Seepark beim Chinagarten eine 61-jährige Passantin ermordete. Vor diesen Geständnissen sagte sie, sie träume davon, Frauen zu töten. Und nennt später als Motiv: Sie habe einen Hass auf Frauen.

Allerdings gibt es auch Zweifel an ihren Mord-Geständnissen: Sie hat sie später widerrufen und bereits bei den Brandstiftungen zum Teil falsche Geständnisse abgelegt. Zudem gibt es keine Zeugen und keine Spuren.

Laut Fachleuten kommt es auch vor, dass jemand über eine früher begangene Tat plaudert und dabei belauscht wird. Oder dass jemand auf dem Sterbebett sein Gewissen erleichtern will.

Beim Umbau taucht die Waffe auf

Wenn eine Tatwaffe gefunden wird, kann dies den Ermittlern auch noch Jahrzehnte später weiterhelfen. Denn jede Waffe erzeugt durch die enormen Kräfte bei der Schussabgabe individuelle Kratz- und Abdruckspuren auf dem Projektil und/oder auf der Hülse.

Diese Spuren werden durch die Züge im Lauf oder durch den Schlagbolzen erzeugt. Wenn diese spurenkundlichen Erkenntnisse bereits in einer Datenbank gespeichert sind, kann der Ballistiker Waffen einer bereits damit begangenen Straftat zuordnen – ähnlich wie einen Fingerabdruck. Ob die Tatwaffe noch immer im Besitz des Täters ist oder weiterverkauft wurde, ist dann allerdings jeweils eine andere Frage. Ziemlich klar ist der Fall, als 1996 bei einem Küchenumbau in Olten eine Winchester-Replika und ein abgelaufener Pass auftauchen. Beides gehörte Carl Doser. Das Gewehr erweist sich als die Tatwaffe, die am 5. Juni 1976 beim Fünffachmord von Seewen verwendet wurde. Am Samstag vor Pfingsten wurden fünf Familienmitglieder in einem Wochenendhaus mit Schüssen in Stirn und Brust aus kurzer Distanz hingerichtet. 20 Jahre lang waren die 13 Patronenhülsen, die von einer Winchester-Replika stammen, die einzigen verwertbaren Spuren vom Tatort.

Der damals 29-jährige Basler Carl Doser geriet schon früh ins Visier der Ermittler, weil er im Besitz einer Winchester-Replika war. Er gab an, die Waffe auf einem Flohmarkt verkauft zu haben. Doch offenbar hatte er sie in der Küche seiner Mutter versteckt.
Heute geht man davon aus, dass Doser der Täter ist. Von ihm fehlt jedoch seit Jahrzehnten jede Spur.

Plötzlich ist der Schädel des Vermissten da

Der Zufall kann manchmal auch einfach Gewissheit schaffen: Ende August 1999 verschwindet Rudolf Marti im Gebiet Steinmösli im Oberemmental. Er war zum Pilzesammeln aufgebrochen und kehrte nie mehr zurück. Alle Suchaktionen enden erfolglos.

Zwei Jahre später, im Herbst 2001, liegt plötzlich seine Identitätskarte im Briefkasten des Polizeipostens Worb. Tage später meldet sich eine Frau und gibt an, das Dokument am Eingang zum Räbloch gefunden und in Worb eingeworfen zu haben. Gewissheit darüber, dass Rudolf Marti gestorben ist, haben

seine Angehörigen jedoch erst Ende 2008. Da taucht oben in der Steinmösli-fluh ein Schädel auf, der anhand der Zähne und einer DNA-Analyse als Rudolf Martis identifiziert werden konnte.

Fehlalarm beim Vierfachmord

Kommissar Zufall kann allerdings auch danebengreifen. Das zeigte er im Jahr 2000 bei einem Fall, welcher der Berner Polizei noch heute Kopfzerbrechen bereitet: dem Vierfachmord im Berner Tearoom Safari.

Am 27. Juli 1998 erschiessen mehrere Täter kurz vor 23 Uhr im Lokal an der Belpstrasse den Wirt und drei zufällig anwesende Männer.

Im Jahr 2000 geht in der norddeutschen Stadt Oldenburg ein Verdächtiger ins Netz: Der Türke stellt in Dortmund einen Asylantrag. Wegen seiner Fingerabdrücke wird klar, dass er in der Schweiz gesucht wird. Die Beamten entdecken den Verdächtigen an einer Bushaltestelle in der Dortmunder Innenstadt. Sie haben sich gerade Fotos von ihm beschafft und sind auf dem Rückweg ins Revier, können ihn also gleich mitnehmen. Der Mann wird in die Schweiz ausgeliefert. Doch der Verdacht rund um die Safari-Morde erhärtet sich nicht. Erst 2012 erwischt die türkische Polizei einen Mann, der am Mord beteiligt war. Er sitzt heute in der Türkei im Gefängnis, seine Mittäter sind auf freiem Fuss.

Vielleicht schlägt Kommissar Zufall bei ihnen auch noch zu.

Stichwörter: Kriminalfall, Zufall, Mörder

Nachrichten zu Fokus »