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Tanz

«Wenn ich tanze, bin ich wie in einem Traum»

Zuhause ist Layra Müller in der Natur des Berner Jura – mit Pferden, Hunden, Ziegen und einem Schwein. Dem gegenüber steht der Tanz – seit sie vier Jahre alt ist, tanzt sie Ballett. Anfang Mai nahm sie am Finale der Swiss Jazzdance Competition teil.

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Simone K. Rohner

Sie steht an der Wand, sie atmet langsam. Flacher, weiter Rücken, die Schultern tief, ihr Hals ist lang, als hinge sie mit dem Kopf an einem Faden. Sie dreht sich um und läuft mit kurzen, präzisen Schritten in die Mitte des Raumes, kniet sich hin und beugt ihren Oberkörper nach vorn über ihre Knie. Dann schallt die Musik laut im Raum– «Clipped wings, I was a broken thing. Had a voice, had a voice but I could not sing», dröhnt die Stimme der Sängerin Sia aus den Lautsprechern – und Layra fängt an zu tanzen. Sie hebt ihre Arme hoch – fünfte Position – und öffnet sie mit der Intensität eines Flügelschlags. Wenn sie tanzt, wirkt sie älter. Die Konzentration nimmt ihrem Gesicht den kindlichen Ausdruck.

Layra Müller ist zehn Jahre alt. Seit sie vier ist, tanzt sie Ballett. Seit eineinhalb Jahren auch Modern Dance. Ende März hat sie sich mit ihrem Auftritt für die Swiss Jazzdance Competition am 5. Mai in Thun qualifiziert – auf dem überraschenden zweiten Platz. Es war der erste Wettbewerb ihres Lebens.

Das Talent
Das Tanzstudio Tilt liegt in der Bieler Innenstadt im Untergeschoss, und vermag nicht gerade durch seinen Charme zu punkten. Die Atmosphäre ist kühl, die Beleuchtung grellweiss. In den Spiegeln der zwei Spiegelwände, die den Raum als Tanzstudio erkennbar machen, sieht man blass aus. Einige Bilder, die tanzende Menschen zeigen, hängen an den Wänden und versuchen, dem Raum etwas Seele zu verleihen. An diesem Montag Anfang April findet das erste Training statt, nach der Qualifikation des vergangenen Wochenendes in Bern. Man sieht Layra den Überraschungserfolg an der Qualifikation kaum an. Sie ist bereits wieder voll und ganz auf das Training fokussiert. Ihre beiden Tanzlehrerinnen Julia Aebi und Nathalie Komagata haben die Choreografie für den Auftritt am Wettbewerb noch einmal überarbeitet, ein paar wenige Teile davon verändert. Und auch anspruchsvoller gemacht. Wenn Layra von Aebi für Korrekturen unterbrochen wird, wirkt sie plötzlich wieder wie eine Zehnjährige. Manchmal lacht sie verlegen, wie es Mädchen in diesem Alter oft tun. Aber da ist keine Spur von Arroganz oder aufgesetzter Attitüde, wie man sie in der Ballettwelt erwarten könnte.

Ballett alleine war ihr aber irgendwann als Tanz zu wenig frei. «Ich habe zuhause auch immer mehr Modern getanzt.» So kam sie vor eineinhalb Jahren an die Tanzschule Tilt, um Unterricht in Modern Dance zu nehmen. Eigentlich wollte sie sich ganz darauf konzentrieren, doch die Ballettübungen sind auch wichtig für den Tanzstil, der sich in den 20er-Jahren entwickelte. Sie schaffen die Basis für die Haltung und den Fluss beim Tanzen. Damit eine Choreografie nicht nur eine blosse Abfolge von Pirouetten und Sprüngen ist, sondern auch die Teile dazwischen wirklich «getanzt» werden. Das bestätigt auch Aebi. Professionell zu tanzen, kann sich Layra für ihre Zukunft gut vorstellen. «Wenn ich etwas anfange, dann höre ich nicht einfach wieder damit auf», sagt die junge Schülerin nüchtern. «Ich möchte weitermachen und immer besser werden.» Für das Finale müsse sie jetzt noch am Ausdruck arbeiten.

Sie hat Talent fürs Tanzen. «Layra hat eine extrem schnelle Auffassungsgabe», meint Julia Aebi, sie unterrichtet Layra nicht nur, sondern ist auch die Inhaberin des Tanzstudios Tilt. Doch die Fähigkeit, Korrekturen und Änderungen in einer Choreografie rasch umzusetzen – das alleine reicht nicht aus zum Erfolg. Beweglichkeit wird vorausgesetzt, Rhythmusgefühl und Koordination sowieso. Es braucht aber mehr: «Es geht darum, dem Publikum etwas mitzugeben, es mit dem Tanz zu berühren.» Man sehe schon sehr früh, ob jemand Talent hat. Schon bei den ganz kleinen Kindern, so Aebi.

Der Wettbewerb
Thun liegt am Sonntagmorgen früh um kurz vor acht Uhr unter einer dicken Nebeldecke. Es ist kein klassischer Maitag – es schneit dicke Flocken aus dem weissgrauen Himmel. Drinnen im Kultur- und Kongresszentrum laufen noch die Vorbereitungen der Organisatoren der Swiss Jazzdance Competition. Die ersten Tänzerinnen und ein paar wenige Tänzer treffen ein. Viele darunter sind Mädchen zwischen acht und elf Jahren. Praktisch alle tragen die Haare zum Dutt frisiert und die Augen dick mit schwarzen Kajal umrandet. Eine Tanzschule ist sogar mit dem Car angereist.

Kurz nach acht Uhr treffen auch Layra, ihre Tanzlehrerin Nathalie Komagata, ihre Mutter Virginia und Layras Tanzpartnerin und Freundin Olivia Curty ein – die Mädchen treten zusammen auch noch mit einer Choreografie in der Kategorie Duo auf. Es war eine kurze Nacht: Sie schlief erst spät ein und am morgen hiess es, früh aufstehen und um 6 Uhr nach Thun fahren. Die beiden Mädchen sind ganz bei sich. Sie schenken dem Rumgewusel der vielen anderen Tänzerinnen und Gruppen keine Beachtung. Zusammen mit Komagata gehen sie zügig in Richtung Bühne, wo der Wettbewerb stattfinden wird. Jede Minute vor dem Auftritt nutzen sie zum Üben. Die Bühne ist riesig, der Publikumsraum überwältigend – der Saal fasst über 700 Zuschauer. Doch man sieht Layra weder Angst noch Nervosität an. Noch trägt sie einen dunkelblauen Trainingsanzug, die Haare sind bereits frisiert, geschminkt wurde sie schon im Auto. Sie markiert ihre Choreografie. Nicht zu ihrer Musik, sondern zu dem, was der Techniker gerade so laufen lässt – der Soundcheck läuft noch. Auf der grossen Bühne stehend, all die noch leeren Sitzplätze vor sich – wirkt sie auf einmal jünger, und zierlicher.

Das allgemeine Rumgewusel findet bald auch den Weg in den Saal. So stehen kurz vor neun Uhr Tänzerinnen von fünf verschiedenen Tanzgruppen auf der Bühne und üben alle gleichzeitig ihre Choreografien. Ein Mädchen trägt ein Katzenkostüm mitsamt spitzen Ohren. Sie macht Kicks in die Luft. Einmal stösst sie beinahe mit einem anderen Mädchen zusammen, so eng ist der Raum auf der grossen Bühne geworden. Keine der Tänzerinnen schaut nach rechts oder links, nur die eigene Lehrerin wird beachtet. Das Ganze könnte auch als modernes Theaterstück durchgehen. Währenddessen macht Layra ihre Ballettübungen hinter der Bühne. Hochkonzentriert und mit Kopfhörern und ihrer Musik in den Ohren geht sie die Ballettpositionen durch, während wenige Meter von ihr entfernt ein kleines Holzhaus zusammengeschraubt wird. Es ist laut. Laufend schleppen Techniker noch die letzten Requisiten und Bühnenbildteile an.Immer wieder steht der Bühneneingang sperrangelweit offen, die kalte Schneeluft strömt von draussen durch den Backstage-Bereich. Manche Tänzerinnen sind schon fertig angezogen in ihren sehr leichten Bodys und Kleidchen. Layra beachtet das alles nicht. Es wirkt, als sei sie von einer unsichtbaren Blase umgeben, von allem abgeschottet. Neun Uhr, die Solos der Kinder beginnen jede Minute. Layra tritt als Siebte auf.

Mit dem Tanz die Musik ausdrücken – das gefällt ihr. Im Song von Sia, zu dem sie tanzt, geht es ums Gefangensein und um das Ausbrechen. Damit dieser Ausdruck auch das Publikum erreicht und zu berühren vermag, haben sich Aebi und Komagata einen Kniff für Layra ausgedacht. Sie sollte sich eine persönliche Situation vorstellen, die diese Gefühle in ihr auslösten. «Für den Auftritt ist es wichtig, dass man genau weiss, was man ausdrücken will», betont Aebi. Und auch, dass man nicht auf die anderen Teilnehmerinnen schaue, sondern sich ganz auf die eigene Choreografie konzentriere. Und diese Konzentration hat sie auch bei ihrem Auftritt im Finale in Thun. Davor wie danach. Das lässt sie unglaublich gelassen wirken. Die Nervosität der anderen Mädchen steckt sie nicht an.

Anderthalb Minuten dauert ihr Auftritt. Der leichte Tüllstoff ihres weissen Kostüms weht bei jeder Pirouette, bei jedem Sprung mit. Dann ist alles vorbei. Bereits die nächste Tänzerin wird angekündigt. «Als ich meine Choreografie tanzte, war es, als ob ich nicht mehr da war, wie in einem Traum», beschreibt sie ihren Auftritt später. Es scheint ihr nicht real, als ihre Trainerin ihr kurz vor dem Auftritt sagt, sie solle sich jetzt bereitmachen. «Als ich dann da auf der Bühne sass und auf die Musik wartete, dachte ich: Ist das jetzt wirklich wahr?»

Julia Aebi kann Layras Chancen, unter die ersten Drei zu kommen, noch nicht einschätzen. Hat sie vielleicht nicht genug Ausstrahlung beim Tanzen gezeigt? War die Jury auch berührt? Worauf legt sie mehr Wert: Akrobatik oder den tänzerischen Ausdruck? Und Layra? Sie
ist mental schon beim nächsten Auftritt. Sie freut sich auf das Duo mit ihrer Freundin zusammen. Im Nachhinein wird sie sagen: «Das Duo konnte ich richtig geniessen.» Und das sieht man: Das Strahlen in ihrem Gesicht ist zurück. Dann heisst es warten. Warten bis alle Kategorien durch sind. Und es sind einige. Solos und Duos jeweils für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Immer die zehn Besten aus der Qualifikation. Ein paar Fragen schwirrten ihr dann doch noch im Kopf rum: Ob die anderen vielleicht mehr trainieren konnten als sie, sodass sie sie überholen könnten. Und ob die Jury die Choreografie gut fand, obwohl sie nicht so akrobatisch war wie die anderen Teilnehmerinnen.

Der Hof
Über eine kurvige Strasse geht es auf eine Anhöhe. Der Hof, auf dem Layra wohnt, befindet sich mitten in der Natur des Berner Juras, oberhalb von Tramelan, umgeben von Feldern und sanften Hügeln. Betritt man den Hof, wird man sofort von zwei Hunden in Beschlag genommen. Neben dem Stall stehen drei Pferde auf einer Weide. Ein schwarz-weiss geflecktes Schwein wühlt irgendwo im Gras. Layra reitet gerade draussen zusammen mit ihrer kleinen Schwester. Die nicht mal Dreijährige sitzt vor ihr auf dem Rücken des kleinen, trabenden Ponys. Jetzt trägt Layra Gummistiefel, Jeans und einen Poncho, der bei jedem Tritt des Ponys mitschwingt. Von der Glitzerwelt des Wettbewerbs ist keine Spur mehr. In praktisch jeder Ecke des Hofes wartet irgendwo ein Tier. Kaninchen hoppeln frei herum. Im Wohnzimmer des Hauses sind zwei Sittiche zuhause. In Layras Kinderzimmer, das sie sich mit ihrer kleinen Schwester teilt, steht ein Käfig mit einem Hamster gleich neben dem Kopfende ihres Bettes.

Das Ausreiten sei für sie der nötige Ausgleich. So lüfte sie aus und erhole sich vom Stress in der Schule. «Manchmal geht sie noch nach stundenlangem Tanztraining ausreiten», erzählt ihre Mutter. Sie scheint Energie für zehn zu haben. Es überrascht nicht, dass für dieses Energiebündel das Drücken der Schulbank nicht zu den liebsten Aktivitäten gehört. An diesem Dienstag nach dem Wettbewerb ist aber schulfrei. Doch langes Entspannen liegt für das Mädchen nicht drin, denn die nächste Meisterschaft steht bereits im Juni in Freiburg an. «Ich freue mich schon ziemlich auf den nächsten Auftritt.» Es stresse sie eigentlich auch nicht, sagt sie – erstaunlich bei ihrem Programm: Zweimal die Woche Tanztraining. Einmal Klassisches Ballett, dann noch Modern Dance. Jeden zweiten Samstag trainiert sie auch noch mit der Showtanz-Gruppe. Und für die Vorbereitung auf den Wettkampf geht sie fast jeden Freitag und Samstag auch noch ins Training. Wenn Layra mit ihrer Mutter Virginia spricht, die in Wädenswil am Zürichsee aufgewachsen ist, wechselt ihr Dialekt. Dann verdrängt Zürich Bern.

Das Finale
Kurz nach 12 Uhr steht im Kongresszentrum in Thun endlich die Rangverkündigung an. Layras Name schallt durch den Saal, doch sie selbst bekommt das gar nicht mit. «Weil es hinter der Bühne so laut war, habe ich meinen Namen gar nicht richtig gehört.» Doch plötzlich hiess es: Raus auf die Bühne! Am Ende wird es für das Solo der Zweite und für das Duo der dritte Platz. Layra strahlt, als sie den Pokal und die Medaille entgegennimmt und für ein Foto posiert. Und sie ist wieder ganz das zehnjährige Mädchen, das überschäumt vor Freude.

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