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Samstagsinterview

«Wenn wir so weiter machen, sterben Freiheit und Demokratie»

Niko Paech Unsere jetzige Lebensweise führt geradewegs in den Abgrund, davon ist der deutsche Ökonom Niko Paech überzeugt. Die Natur sei dabei nicht einmal das erste Opfer. Die Verheissungen des «grünen Wachstums» seien widerlegt, der Menschheit bleibe nur der Weg in die Postwachstumsökonomie – entweder kreativ selbst gestaltet, oder dann krisenhaft aufgezwungen.

Niko Paech, Bild: Kay Michalak/Fotoetage

Interview: Tobias Graden

Niko Paech, wir treffen uns in Bern, Sie kommen aus Oldenburg ganz im Norden Deutschlands, wie sind Sie gereist?

Niko Paech: Mit der Eisenbahn.

 

Das wäre wohl per Flugzeug rascher gegangen.

Viel rascher sogar.

 

Aber?

Flugreisen sind die schwersten und dümmsten Verbrechen gegen die ökologische Überlebensfähigkeit der menschlichen Zivilisation, die sich verüben lassen.

 

Im Zug konnten Sie arbeiten, und mit dem Smartphone ist man ja überall erreichbar.

Ich bin nicht erreichbar mit dem Smartphone, weil ich noch nie in meinem Leben eines besessen habe. Ich nutze aber W-LAN, das ist der Kompromiss, den ich eingehe mit der digitalen Moderne.

 

Was ist gegen das Smartphone einzuwenden?

Wenn man den Planeten zerstören will, muss man den Menschen Smartphones geben. So können sie auch um Mitternacht noch Bestellungen aufgeben, und die Koordination der Produktions- und Lieferketten wird beschleunigt. Die Digitalisierung beschleunigt das ökonomische Wachstum und die Durchsätze an Materialien. Somit läuft sich das System der Güterproduktion und des Konsums immer weiter heiss, bis der ökologische Kollaps erscheint.

 

Sie übertreiben.

Nein. Zudem ist es so, dass die Digitalisierung zu einer systematischen Verblödung der Menschen führen muss, weil die Zeit, die Menschen vormals verwendeten, um Denkprozesse auszuführen und damit auch lernen zu können, vereinnahmt wird durch die Nutzung von digitalen Endgeräten.

 

Man kann doch auf digitalen Endgeräten durchaus kluge Inhalte konsumieren.

Das ist gar nicht so einfach. Wir leiden – bedingt durch die Digitalisierung – am Phänomen der Reizüberflutung. Vor allem sind wir vollkommen verloren in einem Kosmos der widerstreitenden, sich widersprechenden Informationen, von denen niemand genau wissen kann, welche davon denn nun richtig sind, weil sie nicht gefiltert werden. Ich finde es gut, dass keine Zensur herrschen darf, aber es gibt auch kein Qualitätsmanagement, das davor schützt, falschen Informationen aufzusitzen, und das uns befähigt, die vielen parallelen Informationen so zu verarbeiten, dass wir daraus tatsächlich Wissen generieren können.

 

Sie sind ein wertkonservativer Kulturkritiker.

Das ist richtig. Ich würde mich sogar als erzkonservativ bezeichnen. Ich bin allerdings ein konservativer Anarchist.

 

Sie propagieren einen reduktiven, mit den Prinzipien einer Postwachstumsökonomik im Einklang stehenden Lebensstil. Wie sieht dieser abgesehen von den digitalen Medien bei Ihnen aus?

Muss das Gegenstand des Interviews sein? Ich spreche doch zu Ihnen nicht als Vorturner, sondern als Wissenschaftler.

 

Ich bitte darum.

Nun gut: Dieser Lebensstil ist gekennzeichnet durch eine gewisse Form der Genügsamkeit, doch es ist eine lustvolle Genügsamkeit. Ich bin ein Geniesser. Weil ich Ökonom bin, habe ich aber verstanden, dass die Grundvoraussetzung des Genusses darin besteht, dass ein Mensch sich diesem stressfrei widmen kann. Das wiederum setzt voraus, nicht alle Genüsse gleichzeitig oder allzu rasch hintereinander abschöpfen zu wollen. Es gibt keine richtige Musikliebhaberin, die ihrer Lieblingsband nahelegt, die Songs doppelt so schnell zu spielen. Man braucht nach dem Genuss sogar eine gewisse Zeit für die Verarbeitung. Und: Der höchste Genuss ist begleitet von Vorfreude. Es gilt also, die Ereignisse des Genusses so zu limitieren, dass die nicht vermehrbare Aufmerksamkeit eines Menschen überhaupt in der Lage ist, diese Genüsse auch auszuschöpfen. Für mich führt das dazu, dass bestimmte Dinge in meinem Leben gar nicht vorkommen, damit ich die Konzentration habe für Musik, Literatur, Fahrradfahren, Handwerken. Und damit ich die Zeit habe, in Wirtshäuser zu gehen.

 

Sie pflegen den Verzicht.

Ich lebe nicht in Askese. Suffizienz – die Genügsamkeit – ist der einzige Weg, um die Atmosphäre zu schützen. Aber: Es geht nicht um den Verzicht, sondern um den Abwurf von Ballast, um die Befreiung vom Überfluss, um sich auf das konzentrieren zu können, was Genuss verspricht.

 

An Mobilitätsbedarf dürfte es bei Ihnen allerdings nicht mangeln.

Das ist richtig. Doch ich beschränke meine Mobilität auf das, was ich ökologisch verantworten kann. Die Mobilität, die wir heute ausüben, ist pervers. Die Menschheit konnte anderthalb Millionen Jahre nicht das tun, was wir heute können: Flugzeuge besteigen, Kreuzfahrtschiffe buchen, SUVs fahren und so weiter. Wir bilden uns ein, wir hätten das Recht auf diese Mobilität. Doch sie lässt sich nicht ökologisch korrigieren oder durch Technik in Einklang bringen mit einem hinreichenden Schutz unserer Mitwelt. Sie ist absolut ruinös.

 

Sollen Menschen also nicht mobil sein dürfen?

Das würde ich nie sagen. Aber sie müssen schlicht ihren Aktionsradius an das anpassen, was sich ökologisch darstellen lässt. Da sind Flugreisen nicht inbegriffen, denn im Hinblick auf den Klimawandel gibt es nichts Ruinöseres. Ich nutze also das Fahrrad, Schienenfahrzeuge und Busse. Selten mal ein Schiff.

Die Luftfahrtindustrie ist aber daran, Öko-Treibstoff zu entwickeln. In absehbarer Zeit dürfte man CO-frei fliegen können. Werden Sie dann Ihr Urteil revidieren?

Klar, wenn der Messias zurückkommt oder die Klingonen alle unsere Probleme lösen, sieht alles anders aus. Aber: Es gibt eine Geschichte der Technikkultur, diese ist nichts anderes als eine Ersatzreligion. So wie die Alchemisten im Mittelalter glaubten, man könne aus Blei Gold machen, wird heute jede Woche eine neue Innovations-Sau durchs Dorf getrieben. Mal ist es die Wasserstofftechnologie, mal die Nanotechnologie, dann die regenerativen Energieträger, die Elektromobilität oder die Passivbauweise. Nichts davon hat bislang im grossen Stil funktioniert, wir haben bis heute kein einziges ökologisches Problem technisch lösen können. Wir schaffen es nicht, die ökologischen Probleme des Autoverkehrs zu lösen. Und jetzt soll uns klargemacht werden, dass sich die noch unlösbareren Probleme des Luftverkehrs technisch lösen lassen? Wer soll denn das glauben? Das sind irrationale Durchhalteparolen. Schon die heutigen alternativen Antriebe für Bodenfahrzeuge sind keine ökologische Lösung.

 

Sie polemisieren. Die Elektromobilität hat immerhin das Potenzial zur Dekarbonisierung.

Sie ist keine ökologische Lösung. Genauso wenig wie Wasserstofffahrzeuge. Man verlagert einfach ein ökologisches Problem in einen anderen physischen Aggregatzustand. Die Lithium-Produktion für Elektroautos richtet schon jetzt so viele soziale und ökologische Schäden an, etwa in Bolivien, wenn Sie sich das angucken, wird Ihnen schwarz vor Augen. Und für die Schifffahrt haben wir nicht einmal den Ansatz einer Lösung, die sich als praktikabel oder wirtschaftlich darstellbar erweisen würde. Und die Luftfahrtindustrie verbreitet Science-Fiction-artige Märchen, um der Kritik irgendwas entgegenzusetzen.

 

Und wenn es doch gelänge?

Dann würde ich sagen: Hören wir solange mit dem Fliegen auf, bis diese Technologie da ist. Wir werden ja sehen, wie lange wir dann warten müssen.

 

Ist denn Ihr Lebensstil auf die breite Masse anwendbar?

Klar, natürlich.

 

Die meisten Menschen dürften einen anderen Genussbegriff haben – wie wollen Sie diese von ihren umweltschädlichen Genüssen abbringen?

Ich habe niemanden von irgendetwas abzubringen. Ich bin ein Wissenschaftler, der nach bestem Wissen und Gewissen Fragen beantwortet. Was müsste geschehen, um die ökologischen Lebensgrundlagen und die Zivilisation zu retten? Das Erste, was stirbt, wenn wir so weitermachen wie bisher, sind Demokratie und Freiheit. Dann erst stirbt die Natur. Kein Mensch wird dieses politische System, in dem wir leben, das mir wichtig ist und das ich verteidigen möchte, mehr unterstützen, wenn es nicht in der Lage ist, die basalste Grundvoraussetzung der Zivilisation zu erfüllen – nämlich die Überlebensfähigkeit des Homo Sapiens. Deswegen versuche ich, so plausibel wie möglich zu erklären, wie die Wirtschaft um- oder zurückgebaut werden müsste. Ich gelange dabei an den Punkt, an dem ich feststelle: Es ist eine Frage des Lebensstils. Es ist keine Technikfrage, keine Unternehmensfrage, keine Politikfrage – auch wenn das alles auch wichtig ist. Die Postwachstumsökonomie braucht eine ganz gut ausgebaute Demokratie, sie braucht auch Technologien und kreative Unternehmen.

 

Warum verteidigen Sie denn die Demokratie, wenn sie uns doch an diesen Punkt gebracht hat, an dem wir heute sind?

Nicht die Demokratie ist schuld an irgendetwas, sondern die Kultur. Wenn wir eine Kultur des übermässigen Konsums und der verantwortungslosen Nutzung unserer Freiheit aufbauen, dann wird eine parlamentarische Demokratie diese Tendenz verstärken. Trotzdem ist die Demokratie schützenswert. Sie wird aber nicht zu schützen sein in einer Welt, die vom Untergang bedroht ist. Deswegen ist es mir wichtig, mit dem Schutz der ökologischen Lebensgrundlagen gleichzeitig die Demokratie mitzuschützen. Wenn wir zwei, drei weitere Rekordsommer haben, wird ein Teil der Landwirtschaft nicht überleben. Es werden andere Teilsysteme der Gesellschaft zusammenbrechen. Wie reagieren dann die Menschen? Wir sehen jetzt schon an den Wahlergebnissen, wie leicht es radikalere Parteien haben, Orientierungslosigkeit und Zukunftsangst für sich zu verwenden. Darum: Um die Demokratie und die Freiheit zu schützen, müssen wir die derzeitige Freiheit freiwillig und vernunftgeleitet ein Stück weit einschränken. Wir haben vergessen, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehören.

 

Zu Ihrer Definition der ökologisch-klimabewusst lebenden Menschen gehören die Dezentralisierung, das Zusammensein in kleinen Gemeinschaften, ein möglichst hoher Grad an Selbstversorgung. Das klingt nach ländlicher Idylle – wie soll dies in grossem Massstab für all die Millionen in den Städten funktionieren?

Das ist falsch. Die Postwachstumsökonomie beruht nicht darauf, wieder in möglichst kleinen Einheiten auf dem Land zu leben. In Deutschland gibt es eine neue Welle der Landflucht, die mit der Digitalisierung, der Akademisierung, der kosmopolitischen Ausrichtung der Lebensstile und den gestiegenen kulturindustriellen Ansprüche zu tun hat. Ich möchte, dass die Dörfer wieder bewohnt werden von Menschen, die dort die nötige Lebensqualität aufrechterhalten. Dazu gehört auch unternehmerisches und wirtschaftliches Handeln.

Dabei hilft ja gerade die Digitalisierung.

Das glaube ich nicht. Doch wie auch immer: Eine Postwachstumsökonomie muss in den Grossstädten möglich sein, sonst taugt sie nichts. Gerade dort können wir Chancen nutzen, die wir in der Fläche nicht haben, etwa komplett ohne Auto zu leben. Wir können auch viel schneller die Gemeinschaftsnutzung organisieren, weil man auf kurzem Wege Waschmaschinen, Werkzeuge, Rasenmäher gemeinschaftlich nutzen kann. Neue Nachbarschaften lassen sich am ehesten da gründen, wo verdichtet gewohnt wird. Und wir können den Wohnraum viel energieeffizienter ausnützen als in freistehenden Einfamilienhäusern.

 

Der Umbau zur Postwachstumsgesellschaft ist nur dann nützlich, wenn er international erfolgt. Wie…

(unterbricht) Nein. Es macht keinen Sinn, sich hier Gedanken über Afrika, China oder Indien zu machen und sich zu fragen, was dort verändert werden muss. Wir haben nur dann die Chance, auf der globalen Ebene etwas zu bewirken, wenn wir vor der eigenen Haustüre endlich frei von Heuchelei und glaubwürdig ein Leben führen, von dem sich nach bestem Wissen und Gewissen sagen lässt, dass sein ökologisches Gewicht so gering ist, dass jeder Inder und Afrikaner und Chinese dies zumindest als Rahmen übernehmen kann, ohne dass daraus eine kulturelle Gleichmacherei erfolgt. Deswegen muss der Wandel in den Nischen erfolgen. Diese dienen als Anschauungsmaterial, als Kommunikationsinhalt, von dem sich sagen lässt: Schaut her, es funktioniert, es tut nicht weh.

 

Angenommen, ganz Europa einigt sich darauf, nach diesen Prinzipien zu leben – zu denen ja auch die Halbierung der Arbeitszeit und damit der Produktion und des Konsums gehören – und China nicht. Dann hat es sofort einen ungeheuren Wettbewerbsnachteil.

Ja, das ist auch wichtig. Man kann nicht gleichzeitig ökologisch wirksam sein und Wettbewerbsvorteile haben. Warum wollen wir Wettbewerbsvorteile haben? Um den Umsatz und den Güterdurchsatz zu vermehren. Wenn wir die Logik ablegen, von allen vermeintlichen Freiheiten und Errungenschaften mehr haben zu wollen, wenn wir sogar einsehen, dass wir unsere Ansprüche in bestimmten Bereichen reduzieren müssen, dann löst sich der Wunsch nach Wettbewerbsfähigkeit in Luft auf. Denn Wettbewerbsfähigkeit ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck.

 

Wettbewerbsfähigkeit und Innovation haben auch ihr Gutes, wenn man an die Medizin denkt.

Dieses Totschlagargument kommt wirklich immer … Ich habe in vielen Publikationen deutlich gemacht: Es geht nicht um ein Rasenmäher-Prinzip, wenn wir die Wirtschaft kleiner werden lassen. Sondern wir müssen selektieren, den dekadenten Luxus von den basalen Grundbedürfnissen trennen. Die Flugindustrie oder die Kohleindustrie etwa müssen nicht nur um 50 Prozent reduziert werden, sondern um 90 und im Fall der Kohle um 100 Prozent. Das heisst im Umkehrschluss, dass andere Bereiche gar nicht reduziert werden sollen, etwa Gesundheit und Bildung. Was ist so schwer daran zu erkennen, dass Autoindustrie etwas anderes ist als Bildung? Jede Wirtschaftspolitik unterscheidet nach Sektoren und müsste anfangen, diese Sektoren entsprechend ihrer Wichtigkeit für das Überleben unserer Zivilisation zu gewichten.

 

Technische Innovation in der Medizin kommt aber nicht allein aus der Medizin selber, sondern erfolgt interdisziplinär mit anderen Industrien.

Mag sein. Aber Innovation im Allgemeinen hat schon lange aufgehört, Probleme zu lösen, die für das Überleben der Menschheit gelöst werden müssen. Die innovativsten Autos sind heute aus Kunststoff und können nicht entsorgt werden. Das nennen Sie Innovation? In Afrika entstehen Gebirgszüge aus Elektroschrott! Und der grösste Elektrizitätsverbrauch resultiert durch das Internet. Die weniger innovativen Gegenstände der 50er-, 60er- und 70er-Jahre – Kameras, Schreibmaschinen, auch Autos – haben die Ökosphäre nicht annähernd so belastet, weil sie leicht zu entsorgen waren, weil sie reparabel waren und weil sie drei- bis viermal länger gelebt haben.

 

Mit Verlaub, das ist hanebüchen. Wenn Sie mit Ihrer Forderung schon in den 60er-Jahren gekommen wären und Erfolg gehabt hätten, würden wir noch heute mit Strassenkreuzern rumfahren, die 25 Liter Benzin pro 100 Kilometer verbrauchen.

Was ist denn mit den SUVs, die heute die Städte verstopfen? Die Ökosphäre kennt keine Symbole, sie kennt nur Quantitäten. In den 50er- und 60er-Jahren hatten die Leute weniger Autos und sind seltener gefahren, so dass unter dem Strich die Autofahrer im Durchschnitt weitaus weniger CO erzeugt haben als heute.

 

Unser Modell ist aber nach wie vor für die meisten Menschen auf der Erde das erstrebenswerteste. Ist es also aus Ihrer Sicht besser, wenn jene Erdteile, die noch nicht unseren Standard erreichen, in Armut verbleiben?

Überhaupt nicht. Die Postwachstumsökonomie muss global übertragbar sein. Ihre Umsetzung soll ein gutes Leben ermöglichen, mit einer Güterversorgung, die über die basalen Grundbedürfnisse hinausgeht. Das stellt für viele Menschen in Afrika, in Indien und in grossen Teilen Lateinamerikas eine eklatante Verbesserung im Vergleich zur jetzigen Situation dar. Man muss sich auch klar machen: China kann sich jetzt schon nicht mehr selber versorgen ohne die Plünderung Afrikas. In China gibt es viele Städte, wo man das Haus nicht ohne Mundschutz verlassen kann. In Indien werden ähnliche Probleme kommen. Die Möglichkeit, dass Schwellenländer unseren jetzigen Lebensstil erreichen, ist schlicht gar nicht gegeben.

 

Warum nicht?

Das ist physikalisch nicht darstellbar! Stattdessen wird es eine Polarisierung geben. Es gibt zwar jetzt schon urbane Mittelschichten, die äusserlich betrachtet ähnlich gut leben wie wir, aber sie tun dies auf Kosten der restlichen Bevölkerung. Wenn ganz China auch nur die Hälfte dessen verbraucht, was ein Schweizer verbraucht, dann war’s das, dann ist der Planet nicht mehr bewohnbar. Dazu wird es aber gar nicht kommen, weil die Ressourcen schon vorher ausgehen werden und die gesundheitlichen Auswirkungen der ökologischen Verschlechterung dem weiteren Wachstum dieses Modells eine Grenze setzen werden. Der Schweizer Fotograf Andreas Seibert hat in seinem Projekt «The Colours of Growth» den Fluss Huai in China abgebildet: An seinem Wasser lässt sich ablesen, welche Farben bei unseren Kleidern gerade in Mode sind. Die können dort das Wasser nicht mal mehr zur Bewässerung ihrer Felder benutzen. Deshalb wird eine Postwachstumsökonomie so oder so die einzige Alternative sein, ob man das will oder nicht.

 

Wachstum muss doch nicht zwingend immer mit mehr Ressourcenverbrauch einhergehen. Wenn Produkte qualitativ besser, damit langlebiger und auch teurer werden, haben wir Wachstum ohne die negativen Effekte.

Nein. Wie soll das gehen? Und vor allem: Ist das jemals gelungen? Ich kenne kein einziges Beispiel, wo es gelungen wäre, ein dematerialisiertes, die Ökosphäre nicht belastendes Wachstum zu induzieren. Wenn wir eine Form des Wirtschaftens suchen wollen, welche die Ökosphäre nicht belastet, müssen wir in die Zeit zurückgehen, bevor die erste industrielle Revolution durch die Dampfmaschine angezettelt wurde. Da haben die Menschen in optimierten Agrar- und Handwerkergesellschaften gelebt. Es gab mechanische Hilfsmittel, der Pferdeverkehr wurde ausgereizt, es gab Schiffe, etwas Kohle wurde verbrannt, man hatte eine Form der Verhüttung von Metallen. Diese Gesellschaft war überlebensfähig und der Wohlstand in Mitteleuropa war nicht so dermassen gering, dass man von chronischer Not reden müsste.

 

Sie wollen doch wohl nicht in diese Zeit zurück?

Nein, keine Angst. Aber in dem Moment, da diese nicht wachsende Wirtschaft aus ihrem Korsett befreit wurde und die Transformation der Güter mehr als nur mechanische Hilfsmittel benötigt, ist dies thermodynamisch nicht mehr darstellbar ohne ökologische Schäden. Die Versuche der letzten Jahrzehnte, dieses Problem durch Dienstleistung und Digitalisierung zu lösen, haben nicht einfach versagt, sondern sie waren erst die Ursprünge für die ganz grosse Explosion der Ressourcenverbräuche. Das Dilemma ist: Was wächst, kann nicht ökologisch neutral sein. Und was ökologisch neutral ist, kann nicht wachsen.

 

Wie sähe ein Ausweg aus?

Ich schlage vor, einen Kompromiss zu wählen. Ich möchte nicht so leben, dass der ökologische Impact gleich Null ist, weil das ist Steinzeit. Aber wir brauchen einen Korridor, von dem wir wissen, dass es noch aufgeht.

 

Unser Wachstum ist kreditbasiert, bei einem breiten Übergang zur Postwachstumsökonomie müssten riesige Werte abgeschrieben werden. Wie soll ein solcher Übergang in genügend kurzer Zeit friedlich gelingen?

Nun, wir können ja unser Finanzsystem nicht per Kippschalter von einem Tag auf den andern komplett verändern. Interessant finde ich das Vollgeldmodell, also eine Regelung, die dazu führt, dass die Geschäftsbanken nur das als Kredit ausgeben dürfen, was zur selben Zeit an Spareinlagen da ist. In der Schweiz haben dieser Idee immerhin 25 Prozent zugestimmt. Nachdenken könnte man über die Zinsen, allerdings haben wir derzeit eine Nullzinsphase, und nicht mal diese bewirkt eine Schrumpfung der Wirtschaft. Also geht es wohl nur über die Realwirtschaft, dass die Nachfrage weniger wird. Das kann dazu führen, dass Unternehmen ihre Kredite nicht mehr bedienen können und verschwinden. Strukturwandel gibt es schliesslich, seit wir Marktwirtschaft haben.

 

Sie fordern also eine anhaltende Krise.

In jedem Lehrbuch wird der BIP-Rückgang als Krise beschrieben. Aber: Wieso ist eine Krise schlimm? Wir bräuchten eine kontrollierte Krise.

 

Dafür gibt es allerdings auch keine Beispiele. Jede Krise ist mindestens mit hoher Arbeitslosigkeit verbunden.

Nehmen wir als Beispiel die Finanzkrise von 2008, die sich dann 2009 in der Realwirtschaft niederschlug. In Deutschland war vor allem ein starker Nachfrageeinbruch in der Automobil- und Schwerindustrie zu verzeichnen. Die Regierung hat darauf Kurzarbeit gefördert, so dass praktisch niemand arbeitslos wurde.

 

Das kostet und funktioniert nur über eine gewisse Zeit.

Stellen wir uns vor, es gibt Kurzarbeit, aber der Staat zahlt nicht, sondern wir treffen selber Vorkehrungen dafür, dass wir trotz weniger Arbeit und weniger Lohn gut über die Runden kommen. Dann sind wir an dem Punkt, den ich fordere: Wir müssen unterscheiden zwischen dekadentem Luxus und tatsächlichen Bedürfnissen und werfen einen Teil unseres Überflusses als Ballast ab. Dazu zählen natürlich die zu vielen Autos und Urlaubsreisen oder die zu kurze Nutzungsdauer der Dinge, mit denen wir uns umgeben. Und dann wird es interessant, weil wir die Möglichkeit haben, aus der Not eine Tugend werden zu lassen. Die freigestellte Zeit kann genutzt werden, um in Reallaboren die nicht-kommerziellen Möglichkeiten in einer Postwachstumsökonomie auszutesten: die eigene Produktion, die gemeinschaftliche Nutzung und die Reparatur-Revolution, die bereits im Gange ist.

 

Ist sie das?

Ich habe viel dazu geforscht. Stellen Sie sich vor, dass die Produkte doppelt so lange halten, und dass besonders teure Güter von mehreren Menschen genutzt werden. Wie viel Geld sparen Sie, ohne dass Sie verzichten müssen? Auf diese Weise können wir eine resilientere Lebensform praktizieren, sind krisenrobuster. Wir lernen, autonom und flexibel auf neue Knappheiten zu reagieren.

 

Und wie gelangen wir dahin? Mir scheint, Sie weichen den politischen Folgerungen aus.

Nein, überhaupt nicht. Sehen Sie: Ich bin seit 1987 als Wirtschaftswissenschaftler tätig und habe Kohorten von Studierenden das umweltökonomische Einmaleins vorgesungen. Aber nichts davon ist eine Lösung. Die ganze Idee der Umweltpolitik beruht immer auf «grünem Wachstum» und technischem Fortschritt. Es wird blind unterstellt, dass sich unser Wohlstand auch in einer klimafreundlichen Variante darstellen liesse, wenn nur die richtigen Innovationen getätigt würden und die Politik die richtigen Rahmenbedingungen und Anreize setzte. Das stimmt aber nicht, denn wir können inzwischen aufzeigen, dass es dieses grüne Wachstum nie gegeben hat und dass es im Widerspruch zu allen naturwissenschaftlichen Gesetzen steht. Also können wir nur über eine Reduktion unserer Ansprüche zu einer Lebensweise zurückfinden, die sich innerhalb ökologischer Grenzen darstellen lässt. Die einzige Politik, die wirksam ist, wäre also eine, die die Menschen zur Einschränkung zwingt. Doch wie sollen denn die Menschen, die sich jetzt sträuben, ihren Reichtum zu reduzieren, jemanden wählen, der sie dazu zwingt? Das wäre ja Schizophrenie.

 

Das ist ja genau das Problem. Wir sehen nun ja auch die Gegenbewegungen zu «Fridays for Future», etwa indem die AfD erstarkt, die das Fahren eines Diesel-Autos zum Menschenrecht erklärt. Wir stehen vor der kompletten Spaltung der Gesellschaft, aber wenn wir Lösungen in der Klimafrage finden wollen, müssen wir rasch genug Mehrheiten in demokratischen Systemen finden.

Nein, wir müssen erst mal die Minderheiten aktivieren. Sie können die Blaupause entwickeln, die den Rest der Gesellschaft konfrontiert, aber auch inspiriert, sie zur Nachahmung einlädt.

 

Aber das dauert doch viel zu lange. Diese Erkenntnisse sind ja alle nicht neu, «Die Grenzen des Wachstums» erschien 1972.

Neu ist aber die Erkenntnis, dass es mit «grünem Wachstum» auch nicht geht. Kurz nach dem Club of Rome kam der Standpunkt auf, dass nicht das Wachstum an sich das Problem sei, sondern seine Art, man brauche ein «selektives», dekarbonisiertes Wachstum. Und das ist mittlerweile widerlegt, der Kelch der Reduktion wird nicht an uns vorbeigehen. Wir werden es aber auch nicht schaffen, direkt die parlamentarische Demokratie dazu zu bringen, einen Rahmen zu bilden, der uns dazu bringt, in einer Situation ohne Wachstum zu leben. Deshalb müssen wir einen kulturellen Wandel hinbringen. Dieser wird auf halber Strecke zum Ziel.

 

Was meinen Sie damit?

Die Politik hat panische Angst davor, dass die Menschen im Hinblick auf ihr Freiheitsverständnis überfordert werden. Deswegen müssen wir ihr helfend entgegeneilen. Mit «wir» meine ich eine neue Bewegung, ein Aufstand der Handelnden, der friedlich und humorvoll daherkommt. In dem Menschen ein Leben vorführen, das die Gesellschaft herausfordert.

 

Wenn ich mit dem Fahrrad in der Stadt neben einem SUV durchfahre, beeindrucke ich dessen Fahrer mit meinem fahrradfahrenden Leben nicht besonders.

In dem Moment nicht. Aber wir sehen mit «Fridays for Future», «Extinction Rebellion» oder «Ende Gelände», dass diese Bewegung ein Erscheinungsbild gewinnt. Es gibt viele Anschlussmöglichkeiten, es entsteht eine Sichtbarkeit, eine Signifikanz, um die auch die Medien nicht herumkommen. Es gibt Chancen aus der Nische heraus, die Gesellschaft – auf demokratische Weise! – zur Erosion zu bringen. Die Bewegungen können ja auch ein bisschen radikaler werden, indem sie etwa mit Schriftmaterial SUV-Fahrer herausfordern.

 

Wenn man sich nur schon die Aggression im Strassenverkehr vergegenwärtigt, dürften wir uns so auf gewaltsame Zustände hinbewegen.

Wie gross ist denn die Gewalt, die jemand gegen die Überlebensfähigkeit der menschlichen Zivilisation ausübt, wenn er oder sie ein SUV kauft? Die Umwelt, die damit in Mitleidenschaft gezogen wird, gehört nicht nur dem SUV-Fahrer, sondern mir genauso – das halten sogar unsere Verfassungen fest. Diese Auseinandersetzung gehört zur liberalen Demokratie – solange es keine Gewalt gibt.

 

Gleichwohl: Das wird zu lange dauern.

Was wäre denn kürzer? Jene, die auf Politik und Technik vertrauen, haben Jahrzehnte Zeit gehabt! In der Demokratie können wir kollektiv nicht schneller handeln, als dies den parlamentarischen Gremien möglich ist, und diese sind an Mehrheiten gebunden.

 

Es dauert aber noch länger, bis gesellschaftlicher Wandel in Recht gegossen ist.

Dabei ging es bislang aber nicht um Überlebensfragen. Es gibt drei Möglichkeiten, diese Krise zu behandeln: über Technik, über die parlamentarische Demokratie oder über die soziale Verbreitung neuer Lebensformen. Die Technik ist zum Teil des Problems geworden, die deutsche Energiewende etwa ist eine Katastrophe. Die Politik ist überfordert, sie ist handlungsunfähig, weil sie von Mittelschichten vor sich hergetrieben wird, die immer mehr wollen. Aber die Krise gibt es, und sie wird immer offenkundiger. Je grösser sie wird, desto grösser wird der Druck. Dieser Druck lässt die Bewegung, die sich für eine Wirtschaft ohne Wachstum einsetzt, nicht nur stärker in Erscheinung treten, sondern sie trifft auch auf mehr Verständnis und mehr Zulauf.

 

Das Schicksal unserer Zivilisation dürfte sich in diesem Jahrhundert entscheiden. Was ist Ihre Prognose?

Einen Teil der in Gang gebrachten ökologischen Krise werden wir gar nicht mehr abwenden können. Sondern sie wird über uns hereinbrechen. Wir haben in Deutschland letztes Jahr gesehen, wie einzelne Kommunen in Nordrhein-Westfalen schon Ende Mai den Wassernotstand ausgerufen haben. Wir haben durch das Insekten- und Singvogelsterben, durch die Plastikkatastrophe, durch die Elektrokatastrophe so viele Sollbruchstellen, dass diese Krisen die Gesellschaft orientierungslos und zukunftsängstlich werden lassen. Wenn dann eine Bewegung da ist, die eine Antwort auf diese Fragen liefert, dann kommt das beides zusammen und aus der Krise kann eine Chance werden. Es gibt Beispiele in der Geschichte, in denen aus einer Krise nicht ein Krieg resultierte, sondern etwas Besseres geschaffen wurde, nehmen Sie etwa das Ende der DDR.

 

Gibt es unsere Zivilisation Ende Jahrhundert noch?

Ja. Aber sie wird genügsamer sein.

 

Zur Person

  • Geboren am 9. Dezember 1960 in Schüttorf (Deutschland).
  • Diplom der Volkswirtschaftslehre an der Universität Osnabrück, 1993 Promotion.
  • 1998 bis 2001 erster Agenda-21-Beauftragter der Stadt Oldenburg.
  • Ab 2001 Tätigkeit an der Universität Oldenburg, 2008 bis 2016 dort Vertreter des Lehrstuhls für Produktion und Umwelt.
  • Heute forscht er als ausserplanmässiger Professor an der Universität Siegen im Bereich der Pluralen Ökonomik.
  • Mitglied verschiedener Netzwerke im Nachhaltigkeitsbereich.
  • Gilt als eine der wichtigsten Stimmen der Postwachstumsökonomie und als vehementer Wachstumskritiker.
  • Letzte Publikationen (kleine Auswahl): «Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie» (Verlag Oekom, 2012) und «Was Sie da vorhaben, wäre ja eine Revolution…» (Streitgespräch mit dem langjährigen SPD-Umweltpolitiker Erhard Eppler, Verlag Oekom, 2016). tg

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