Sie sind hier

Abo

Alt und Jung

Wer will denn heute noch Werbung schauen?

Tutti.ch. Wenn Sie diesen Markennamen lesen können, ohne innerlich den dazugehörigen Jingle mitzusingen, gratuliere ich Ihnen ganz herzlich.

Luca Brawand alias Landro

Dementsprechend mussten Sie sich nicht dutzende Male diese Werbung vor jedem Youtube-Video ansehen, mit dem Finger auf dem «Werbung überspringen»–Knopf, als wäre es der Abzug eines Jägers, den er genau im richtigen Moment abziehen muss. Falls Sie immer noch Zweifel haben: Das ist kein Werbeartikel für Tutti.ch. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht einmal hundertprozentig sicher, was die genau machen. Ich glaube, die sind so etwas wie Ebay mit Ohrwurm-Jingle.

Jetzt könnte man sagen, wenn ich mir nicht sicher bin, was die machen, haben sie ihr Werbeziel verfehlt. Letztlich konnten sie sich aber mit ihrer musiktheoretisch hochkomplexen Komposition wohl für immer in meinem Kopf festsetzen. Und dazu schreibe ich jetzt auch noch in meiner Kolumne darüber. Irgendetwas haben sie 
richtig gemacht.

Früher konnte man Werbung kaum entkommen. Schaute man einen Spielfilm im Fernsehen, kam es zwangsläufig zu Werbeunterbrechungen, die man durchhalten musste. Der Gang zur Toilette kam damals dem «Werbung überspringen»-
Button wohl am nächsten. Die 
breite Masse wurde also mit der mehr oder weniger gleichen Werbung konfrontiert, deren Spots zudem auch noch ziemlich lange dauerten. Mit der Einführung von Replay-TV und dem Überspulen von Werbung wurden die kühnsten Träume der Zuschauer und die schlimmsten Ängste der Werber wahr.

Wer will denn heute noch Werbung schauen? Das denken sich die jüngeren Generationen. Die denken sich aber auch: Wer will denn heute noch TV schauen? Filme, Serien, Nachrichten, Interviews und Sport können wir alles auch Online sehen. Als Folge der Gratiskultur der Millennials gilt im Internet vor 
allem eine Währung: Aufmerksamkeit. Anstatt unsere Zeitung zu bezahlen, schauen wir also lieber kurz ein Video, bevor wir uns die journalistisch wertvolle und statistisch sehr repräsentative Strassenumfrage mit der Überschrift «Der Sex in Argentinien hat mir besser gefallen» (ja, die gibt es wirklich) auf der 
20 Minuten-App ansehen können.

Während wir froh sind, nicht mehr wie früher an Werbepausen gekettet zu sein, wird uns durch den ominösen «Werbung überspringen»-Button die Illusion der freien Wahl vorgegaukelt. Wenn wir uns aber einen Inhalt ansehen wollen, müssen wir wohl oder übel auch die Werbung schauen. Im schlimmsten Fall ist es ein 30-sekündiger Clip (eine halbe Ewigkeit), den man nicht überspringen kann, für ein 45-sekündiges Video, das man gar nicht unbedingt sehen will, sich aber nach zehn Sekunden Werbung denkt, man müsse es jetzt durchziehen, schliesslich ist man ja jetzt schon mit einem Drittel der Werbung durch.

Meistens, etwa auf Youtube, kann man aber nach fünf bis sechs Sekunden die Werbung überspringen. Wir denken dann, wir hätten die Werbung überlistet, und die könne uns nicht beeinflussen. Jedoch wird diese heute selbstverständlich genau so konzipiert, dass in diesen fünf Sekunden alles Nötige drin ist, um ihr Produkt oder ihre Dienstleistung in unser 
Gehirn zu pflanzen. Die Werbung kann dann schön auf die Zielgruppe zugeschnitten geschalten werden.

Zweifel an der Genauigkeit bekomme ich nur, wenn ich vor dem Video auf einem Hip-Hop-Kanal Werbung von einer Haarmascara-Marke (das gibt es!) bekomme, die mir sagt: «Überraschung, deine Freundinnen 
holen dich gleich ab! Oh mein Gott, erste graue Haare! Sofort kaschieren!» Vielleicht steckt aber auch eine tiefergehende Strategie dahinter, mir auf Frauen im mittleren Alter zugeschnittene Werbung zu zeigen, schliesslich wissen diese Unternehmen mit all unseren Daten mittlerweile besser, was wir wollen und wofür man uns gewinnen könnte, als wir selbst. Macht Euch also besser schon einmal bereit dafür, dass der Männer-Trend des Jahres Haarmascara 
werden könnte.


Info: Der 21-jährige Bieler Luca Brawand hat als Musiker 
Landro letztes Jahr sein Debütalbum veröffentlicht. Er studiert zudem Medien und Kommunikation.

kontext@bielertagblatt.ch

Stichwörter: Alt, Jung, Luca, landro, Werbung, Online, TV

Nachrichten zu Fokus »