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Alt und Jung

Wie ich Wilhelm Tell beim Schmelzen zuschaute und mich im Trycheln versuchte

Ich begegnete Wilhelm Tell im Jahre 1191, oder 18.., nein, 1991 wars.

Françoise Verrey Bass

Da stand unser mutiger Vorfahr in seiner ganzen Herrlichkeit, mit Armbrust, Köcher und Pfeilen, kräftig ausschreitend, seinen Sohn an der Hand, mit der Kapuze auf dem Kopf, gute 40 Zentimeter hoch, ganz aus Butter, auf der Anrichte im Esssaal des Kongresshotels in der Innerschweiz. Das war am Montag, dem ersten Tag des Kongresses. Am Freitagmorgen dann fiel Wilhelm Tell nach starkem Schwitzen – trotz nächtlichen Aufenthalten im Kühlschrank – in sich zusammen und war 
einige Stunden später nur noch ein gelbes Fetthäufchen, das rasch weggeräumt wurde. Exit Wilhelm Tell!

Zu diesem Zeitpunkt und als Folge mancher Diskussionen unter den Kolleginnen und Kollegen trennte ich mich von der Legende der Schweiz meiner Vorfahren – obschon ich den Sinn der Legende und deren Auswirkung auf 
das Schweizervolk gut verstand; vor allem seit Beginn der jährlichen Aufführungen des Dramas Wilhelm Tell von Friedrich Schiller in Interlaken: Freiheit, Solidarität.

Nun, Fakten sind: Anfangs August 1291 unterschrieben Uri, Schwyz und Unterwalden den Bundesbrief, der im Bundesbriefmuseum in Schwyz aufbewahrt wird. Es werden weder 
Namen noch ein Ort, etwa das Rütli, erwähnt. Der Brief wurde während Jahrhunderten vergessen, tauchte erst 1758 wieder auf.

Nach vielen Kriegen im damaligen Europa – aus Religions- oder Machtgründen oder beiden zusammen – zeichneten die grossen Mächte 1815 am Wiener Kongress die Grenzen von Europa neu und somit auch die der Schweiz. Der Erzbischof von Basel verlor dabei den östlichen Teil des Juras und Biel. Neuenburg wurde als 22. Kanton in die Eidgenossenschaft aufgenommen. Biel, 1798 von den Truppen von 
Napoleon eingenommen, wurde dem Kanton Bern zugeteilt, zusammen mit dem Ostjura.

Die grossen Mächte gründeten ein Patchwork mitten in Europa, die Schweiz, und zwangen diese, mit vier verschiedenen Sprachregionen innerhalb der neuen Grenzen zusammen zu leben, zwangen die Schweiz damit auch zur Neutralität. Einige lokale Schlachten später siegte die Vernunft, und mit der Bundesverfassung 1848 entstand die demokratische Schweiz des 20. Jahrhunderts. Also weit entfernt von den Mythen und Legenden um Wilhelm Tell und dem Bundesbrief 1291 zwischen Uri, Schwyz und Unterwalden. 1899 wurden der 1. August zum Nationalfeiertag erklärt, Nationalhymne und Fahne festgelegt.

Die Schweiz hat eine Geschichte, auch wenn es nur eine Legende ist. Sie hat uns eine solide Basis des Zusammenlebens gegeben, war ein 
guter Schutz im Zweiten Weltkrieg, fast mehr gegen den inneren als den äusseren Feind. General Guisan war ein pragmatischer Schweizer, und sein Rütli-Rapport vom 25. Juli 1940 war ausgezeichnet, um die Armee unter der Schweizerfahne zu einigen und den Zaudernden neuen Mut zu geben (Mein Vater war dabei).

Vom Rütli-Rapport zu den Trychlern: Die Menschen haben sich immer irgendwie gegen Monster und böse Geister gewehrt. Schon die ersten Menschen sahen überall in der Natur Geister. Lärm vertreibt die bösen Geister, und am besten gelingt das in der Nacht, und zwar in der Altjahreswoche, damit das neue Jahr frei von diesen üblen und bösen Gesellen beginnen kann.

Als junge Studentin und Skilehrerin in einem Kinderlager konnte ich einmal mit den anderen Skilehrern und Studentinnen eine Nacht lang mitlaufen. Ja, es ist wahr, man wird nicht müde, eine Art Trance erfasst den Trychler, man geht, und geht ... Das Trychlen in der Altjahreswoche hat sich als beliebtes Brauchtum in der Schweiz etabliert, und man kommt heute von weit her, um dieses zu erleben. So bin ich auch einmal nach Urnäsch gefahren, um die Tannenmenschen mit ihren riesigen Hüten und ihren Frauengesichtern zu erleben. Das ist schon etwas ganz Spezielles!

Darum war ich – und wohl nicht nur ich – so schockiert, als ich realisierte, dass eine nicht unwesentliche Gruppe von Menschen dieses Brauchtum missbraucht, um ihren Unwillen gegen unsere Regierung und ihre Beschlüsse lautstark kundzutun. Solche Demonstrationen zeigen Gewaltbereitschaft und entsprechen nicht dem friedvollen Charakter des grösseren Teiles der Schweizer. Ich würde mir wirklich wünschen, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz – auch wenn es ihnen grosse Mühe macht – einsehen könnten, dass eine Pandemie die ganze Welt betrifft. Und dass unser kleiner Beitrag darin besteht, zusammenzuhalten und miteinander die von Wissenschaftlern überlegten, via Bundesrat und kantonale Regierungen an uns weitergegeben Anordnungen zu befolgen. Bei der nächsten Pandemie werden wir sicher Fehler der jetzigen nicht mehr wiederholen. Wir haben glaube ich jetzt auch alle verstanden, dass Pandemien keine Grenzen kennen und wir deswegen weltweit Solidarität zeigen müssen.

Info: Françoise Verrey Bass ist 83 Jahre alt. Sie hat vier Kinder und acht Enkelkinder. Bis 2012 führte 
die studierte Neurologin in Biel eine Praxis. Sie ist bilingue und engagiert sich bei Pro Senectute für Altersfragen. 


kontext@bielertagblatt.ch

Françoise Verrey Bass

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