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Titelgeschichte

Wie weit darf Naturschutz gehen?

Was ist Natur? Bis wohin darf der Mensch ein Teil von ihr sein? Über diese Frage streiten Naturschützer und Camper im Seilziehen um den TCS-Campingplatz am geschützten Neuenburgerseeufer bei Gampelen. Werden sie sich jemals einigen können?

Biologe und Vogelkundler Carl'Antonio Balzari erklärt beim Rundgang, welche Bedeutung das geschützte Gebiet am Neuenburgersee für den Erhalt vieler Tier- und Pflanzenarten hat. Bild: Raphael Moser

Stephan Künzi

«Da, der Eisvogel!» Mitten im Satz unterbricht Carl’Antonio Balzari seinen Gedankengang und zeigt hinab ins Schilf. Über dem satten Grün des Riedgebiets zieht das leuchtend blau gefiederte Tier seine Runden, fliegt mal einen Bogen nach links, mal einen Bogen nach rechts und verschwindet schliesslich aus dem Blickfeld.

Carl’Antonio Balzari steht auf einem Beobachtungsturm im Kerngebiet des Naturschutzgebiets Fanel. Zu seinen Füssen liegt der Neuenburgersee, schier endlos setzt sich zur Rechten der grüne Uferstreifen fort. Dort, irgendwo in der Ferne, liegt versteckt der Campingplatz von Gampelen, ein Stück Zivilisation in diesem sonst weitgehend unberührten Landstrich. Und damit ein Fremdkörper.

Bis in gut drei Jahren soll der Platz deshalb verschwinden – so haben es die Umweltverbände mit dem Kanton als Grundeigentümer und dem TCS als Betreiber vor bald drei Jahren aussergerichtlich vereinbart. Nach einem langen juristischen Hin und Her. Mit gutem Grund – das steht für Carl’Antonio Balzari als Biologe und Vogelkundler ohne Wenn und Aber fest. Der Co-Leiter des Naturzentrums im nahen La Sauge will auf einem Spaziergang zeigen, was den Wert dieses geschützten Gebiets ausmacht. Dabei redet er nicht vom Fanel allein, sondern von sieben weiteren Reservaten, die sich einer Perlenkette gleich am südlichen Ufer des Neuenburgersees aneinanderreihen.

Reich an Flora und Fauna

«La Grande Cariçaie» heisst das Gebiet, es ist die Heimat der Steifen Segge oder eben des «grand carex», wie die namensgebende Pflanze in der mehrheitlich französischsprachigen Region genannt wird. Es umfasst rund 3000 Hektaren, gilt damit als grösstes zusammenhängendes Feuchtgebiet im Land. Über 10 000 Tier- und über 1000 Pflanzenarten kommen hier vor, das ist ein Viertel bis gar ein Drittel der Fauna und Flora in der Schweiz.

Ähnliches gilt mit einem Blick über die Landesgrenzen, darauf macht nun wieder Carl’Antonio Balzari oben auf dem Beobachtungsturm aufmerksam. Mindestens 300 der rund 500 in Europa heimischen Vogelarten seien hier in den letzten 100 Jahren gezählt worden, sagt er. «Das Gebiet ist ein Hotspot der Biodiversität.»

Wie wichtig es ist, dass sich dieses Leben im Ried ungestört entfalten kann, erklärt er mit einem weiteren Blick in die Tiefe. Er zeigt auf den ehemaligen Weg zum nächsten Beobachtungsturm, eine Schranke zeigt an, dass es hier nicht mehr weitergeht.

Der beliebte Durchgang sei seinerzeit mit Blick auf die Expo.02 gesperrt worden, erzählt er. Aus Angst, dass die Landesausstellung zu einem noch grössern Rummel führe – und siehe da: «Noch im selben Jahr brütete hier der seltene Purpurreiher.»

Dann wendet er sich der Lagune zu. Künstliche Plattformen bieten den Flussseeschwalben über dem Wasser eine Umgebung, in der sie brüten und ihre Jungtiere aufziehen können. Carl’Antonio Balzari blickt kurz zurück in die Vergangenheit, erklärt, dass das heutige Riedgebiet am Neuenburgersee erst durch die mit den Juragewässerkorrektionen verbundenen Absenkungen des Seespiegels entstanden ist.

Seither wird der Wasserstand reguliert, die natürliche Dynamik mit Hochwassern, welche ein überwachsenes Gebiet auch mal ausräumen und offene Kiesbänke schaffen, fehlt komplett. Der für seltene Tier- und Pflanzenarten unabdingbare Lebensraum müsse immer wieder neu geschaffen waren, gezielte Eingriffe wie dieser seien deshalb nötig, sagt er.

Kaum Feuchtgebiete

Warum innerhalb dieser riesigen Gesamtfläche die elf Hektaren des Campings Gampelen keinen Platz haben sollen? Carl’Antonio Balzari erinnert zuerst an die strengen Vorschriften, denen das Gebiet seiner Bedeutung wegen unterliegt. Gleich mehrere Schutzstufen überlagern sich hier, eine touristische Nutzung hat allein deshalb juristisch schon lange schlechte Karten.

Noch wichtiger ist ihm allerdings dies: Mit den Juragewässerkorrektionen seien seinerzeit im ganzen Seeland noch viel grössere Feuchtgebiete verloren gegangen. Umso mehr müsse man nun zum neu entstandenen Uferstreifen Sorge tragen – mitsamt den elf Hektaren.

Zumal ein Camping «nach aussen abstrahlt», wie es Carl’Antonio Balzari formuliert. Was er meint: Jede menschliche Bewegung, zum Teil sogar schon jeder Schatten kann empfindliche Tiere aufscheuchen. Sie geraten in Stress, finden nicht mehr die Ruhe, die sie zum Fressen oder zur Aufzucht eigentlich brauchen würden. Das schädigt ihren Bestand.

Kämpfer für zweite Heimat

Nur gut zwei Kilometer Luftlinie entfernt sitzen Hanspeter Mischler und Michaela Jungi im Camping Gampelen beim Feierabendtrunk und schütteln ob solcher Gedankengänge den Kopf. Seit Jahr und Tag gehören die beiden zu den Dauermietern, und sie sagen von sich: Der Platz ist so etwas wie ihre zweite Heimat geworden. Nicht nur für sich und ihre Ehepartner, mit denen sie jeweils den Sommer hier verbringen. Sondern auch für ihre Kinder, die hier, wie sie sagen, gross geworden sind.

Als Präsident und Geschäftsführerin der eigens gegründeten Interessengemeinschaft setzen sich die beiden mit Verve dafür ein, dass der Platz am Neuenburgersee nicht geschlossen wird. Noch haben sie die Hoffnung, dass dies trotz allem noch möglich sein wird, nicht aufgegeben.

«Gesetze sind menschengemacht», stellt Hanspeter Mischler fest. Und meint: Naturschutzvorschriften, die von Menschen erlassen worden sind, können von denselben Menschen doch auch wieder geändert werden.

Um ans Ziel zu kommen, setzen die beiden auf die Politik. Erste Erfolge haben sie auf kantonaler Ebene bereits eingefahren: Gleich zweimal sprach sich der Grosse Rat bisher dafür aus, dass die Camper auf dem Platz in Gampelen bleiben können. Gegen den Willen der Regierung und der für das Geschäft verantwortlichen Regierungsrätin Evi Allemann (SP).

Allemann stehe wegen des Campings Gampelen mittlerweile arg unter Druck, halten Hanspeter Mischler und Michaela Jungi selbstbewusst fest. Und kündigen gleich an, dass das noch nicht alles ist: Auch auf nationaler Ebene sei ein Vorstoss in Vorbereitung.

Zumal die bürgerlichen Parteien auf ihrer Seite stünden, wie die beiden versichern. Die Kontakte seien bis in die Bundesverwaltung hinein rege und gut, kein Wunder: Wenn SVP-Bundesrat Ueli Maurer mitten in der Coronakrise für Ferien in der Schweiz werbe, sei es doch widersinnig, einen so grossen Platz – «den grössten der Deutschschweiz» – dem Naturschutz zu opfern.

«Wir leben ja nicht gegen die Natur, sondern mit ihr.» Michaela Jungi will es ein für alle Mal klargestellt haben. Wer auf dem Camping Gampelen lebe, suche nicht den Luxus. «Uns genügt eine Dusche, wir schätzen auch das Restaurant sowie hin und wieder eine kleine Abendunterhaltung bis vielleicht um 22 Uhr. Mehr brauchen wir nicht.»

Die Tiere fühlten sich ob des Lebens auf dem Camping jedenfalls nicht gestört, findet Michaela Jungi.

Sie schwärmt von der reichen Vogelpopulation mit den zum Teil seltenen Arten, erzählt weiter von den Hasen, die just im Umfeld der Wohnwagen ihre Bauten anlegten. In der Nacht streiften Wildkatzen durch die Gegend.

Es sei doch sinnvoll, ergänzt Hanspeter Mischler, diesen Schatz den nachfolgenden Generationen an Orten wie einem Campingplatz näherzubringen. «Wo, wenn nicht hier, können heutige Stadtkinder die Natur noch so hautnah erleben?»

Lehrpfade errichten

Statt den Menschen von der Natur auszuschliessen, wäre es doch gescheiter, den Menschen in die Natur einzubinden, so die beiden. Offen redet Hanspeter Mischler von der Idee, das Gebiet mit einem Netz von Wegen und Lehrpfaden zu erschliessen, auf denen sich die Schönheiten des Uferstreifens für Camper und Besucherinnen eins zu eins erleben lassen.

Auf einen Schlag wird klar, wie ganz anders als die Vertreter der Umweltverbände die beiden denken. Mit ihnen haben sie ohnehin ihre liebe Mühe. Man habe mehrfach mit ihnen das Gespräch gesucht, stets mit dem Ziel, in der Camping-Frage eine für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden, sagt Michaela Jungi. Gefruchtet habe es nichts.

«Sie stellten sich auf den Standpunkt, dass zuerst der Naturschutz und dann der Mensch kommt.» An ihrem Optimismus ändert dies nichts. «Wir sind zu 100 Prozent überzeugt, dass wir gewinnen werden.»

Stichwörter: Naturschutz, Kontext, Camping

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