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Titelgeschichte

«Wir können etwas ändern»

30 Jahre nach der Samtenen Revolution schauen fünf Tschechen zurück auf das Leben unter dem kommunistischen Regime, dessen Fall im Herbst 1989. Sie nennen die Herausforderungen, vor denen das Land heute steht.

Am 25. November 1989 demonstrierten in Prag über 100 000 Personen für Freiheit und Demokratie. Bild: Keystone

An den Sommer 1989 erinnert sich Renata Habegger, eine gebürtige Tschechin, die heute in Orpund lebt, noch gut. Die damals 14-Jährige durfte im Rahmen eines Jugendaustauschs nach Frankreich reisen. Eine kleine Narbe am linken Knie erinnert sie noch heute an ihren ersten Besuch in einem westlichen Supermarkt. Vom Warenangebot völlig überwältigt, lief sie prompt in ein Gestell. «Uns hat es während des Kommunismus in der Tschechoslowakei zwar nie an etwas gefehlt, aber die Auswahl war sehr beschränkt.» Ein Regal voller verschiedener Seifen zu sehen, war deshalb ein Schock für sie. Zu Hause hatte Habegger gelernt, dass es den Menschen im Westen wegen fehlender Jobs schlecht gehe und sie dabei nicht auf die Unterstützung des Staates zählen könnten. Obwohl sie schon früher an dieser Darstellung gezweifelt hatte, war es schliesslich ihr Besuch in der Normandie, der ihr endgültig die Augen öffnete und sie die Propaganda erkennen liess.

Die meisten Einwohner ländlicher Gebiete, so auch ihr Vater, waren Mitglieder der kommunistischen Partei. Nicht unbedingt, weil sie deren Ideologie überzeugt vertraten, sondern weil es das Leben einfacher machte und ihren Kindern zum Beispiel erlaubte, ein Studium zu absolvieren. «Im Gegensatz zu den Intellektuellen in Prag bekamen wir auf dem Land nicht alles mit, was hinter den Kulissen ablief und was die Kehrseiten unseres Systems waren», sagt Habegger. Deshalb, betont sie, habe sie glückliche Erinnerungen an ihre Kindheit. «Wir hatten einen guten Zusammenhalt unter Nachbarn und Klassenkameraden, es gab Lager für die Kinder und viele kulturelle und sportliche Angebote, die allen offenstanden.» 

Illegale Zeitung im Untergrund verbreitet

Etwas anders erlebte dies der Journalist Michal Klíma, 59. Er wuchs in Prag in einer Familie auf, die das Regime kritisierte. Er stand deshalb schon in jungen Jahren unter Beobachtung der Geheimpolizei, und als er später Kunst studieren wollte, wurde ihm dies verwehrt. Klíma liess sich jedoch nicht einschüchtern, studierte stattdessen an der technischen Universität in Prag und half 1988 mit, die damals noch illegale Zeitung «Lidové Noviny» im Untergrund zu verbreiten.

Auch Noemi Zárubová, 69, Expertin für non-verbale Kommunikation an der Akademie für darstellende Kunst in Prag, hat sich schon in ihrer Jugend dem kommunistischen Regime widersetzt. Sie begrüsste daher die Reformen, die 1968 während des Prager Frühlings eingeleitet wurden. Und war bitter enttäuscht, als diese nur ein paar Monate später, am 21. August, mit dem Einmarsch der Soldaten des Warschauer Pakts wieder zunichte gemacht wurden.

Trotzdem glaubte sie an ihr Land und daran, dass es irgendwann mehr Freiheiten bieten würde. Sie liess deshalb die Möglichkeit aus, nach einem Aufenthalt als Au-Pair in England dort zu bleiben und so dem verhassten Regime zu entkommen. «Ich bin Tschechin, das ist mein Land, und meine Familie ist hier», erklärt sie die Rückkehr. Sie habe den Schritt nie bereut, obwohl die Jahre danach hart für sie gewesen seien, so Zárubová weiter. Sie und ihr Mann hatten immer eine offene Tür für Dissidenten, und sie selbst hat das Manifest «Einige Sätze» unterschrieben, das Reformen in allen Bereichen forderte. Als ihr Arbeitgeber davon erfuhr, teilte man ihr mit, dass man sie im neuen Jahr nicht mehr weiterbeschäftigen könne. Zum Glück für Zárubová kam kurz darauf die Samtene Revolution. Sie konnte die Stelle an der Fakultät behalten, während ihre Vorgesetzten gehen mussten.

Ins Exil gehen oder bleiben?

Eine, die die Samtene Revolution nicht nur miterlebt, sondern an vorderster Front mitgeprägt hat, ist Monika MacDonagh-Pajerová. Sie war schon als Kind neugierig und lernte später fünf Fremdsprachen, um die ausländischen Radiosender zu hören und gelegentlich gefundene Zeitungen oder Zeitschriften zu lesen. Ihr Urgrossvater war einer der wenigen Kameramänner zu seiner Zeit gewesen und drehte zusammen mit ihrer Urgrossmutter Ende der 20er-Jahre Filme in ganz Europa. «Dass sie in Frankreich, der Schweiz und Grossbritannien waren und ohne Strafe wieder nach Hause zurückkehren konnten, klang wie ein Märchen für mich», erinnert sich MacDonagh-Pajerová. Seit die Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg die Macht in der Tschechoslowakei übernahmen, konnte nur noch in den Westen reisen, wer eine Genehmigung bekam.

Als Teenagerin Anfang der 80er-Jahre erlebte MacDonagh-Pajerová mit, dass viele Freunde und Bekannte der Familie die Tschechoslowakei für immer verliessen, weil sie wegen ihrer Ansichten mit dem Regime in Konflikt gerieten. Auch ihre eigene Familie machte sich Gedanken darüber, ins Exil zu gehen. Die Mutter, eine Psychologin, wollte gehen. Der Vater, ein Fotograf, wollte bleiben. Der Vater setzte sich schliesslich durch. «Ich selbst war hin- und hergerissen», sagt MacDonagh-Pajerová, «auf der einen Seite stellte ich mir vor, welche Ausbildungsmöglichkeiten sich mir im Ausland bieten würden. Auf der anderen Seite blutete mein Herz beim Gedanken daran, Prag und die geliebte tschechische Landschaft nie wieder zu sehen.» Ausserdem sei es ihr ungerecht erschienen, dass Leute, die in ihren Augen nichts verbrochen haben, das Land verlassen sollten, während jene, die diese Leute schikanierten und prügelten, bleiben durften.

Der schlimmste Tag ihres Lebens

Immer häufiger verkehrte MacDonagh-Pajerová an den Treffpunkten der «Charta 77». Die Bürgerrechtsbewegung rund um den späteren Präsidenten Václav Havel machte auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam. Sie forderte Meinungs- und Reisefreiheit. Wurden in den Räumen der Dissidenten heikle Themen besprochen, liess man das Badewannenwasser laufen, damit sie nicht abgehört werden konnten. Trotzdem wurden die Chartisten immer wieder schikaniert. Sie wurden verhört, ihre Häuser durchsucht, man nahm ihnen den Pass ab, verweigerte ihren Kindern den Besuch von guten Schulen. Manche landeten sogar für einige Zeit im Gefängnis. MacDonagh-Pajerová wusste, dass sie mit ihrer Nähe zur Gruppe den Rauswurf aus ihrer Schule riskierte. Doch sie ging  einen Schritt weiter und fing an, im Geheimen Englisch und Deutsch zu unterrichten. Einer ihrer Studenten entpuppte sich als Informant. «Als ich zwei schwarze Autos vor meiner Schule vorfahren sah, wusste ich instinktiv, dass sie wegen mir gekommen sind», erinnert sich MacDonagh-Pajerová. Sechs Stunden lang wurde sie verhört. Schliesslich wurde sie nur dank des Einsatzes ihrer Lehrerin und deren Ehemann, der als Mitglied des Zentralkomitees der Partei gute Beziehungen hatte, wieder freigelassen.

Obwohl MacDonagh-Pajerová seither unter Beobachtung durch den Direktor ihres Gymnasiums, der gleichzeitig als Agent des Staatssicherheitsdienstes agierte, stand, schaffte sie es an die philosophische Fakultät. Dort engagierte sie sich in der Redaktion der Studentenzeitung und organisierte Demonstrationen, Konzerte und Ausstellungen.

In Polen, Ungarn, der DDR und Bulgarien wurden die kommunistischen Regimes inzwischen eins nach dem anderen gestürzt. Schliesslich schwappte die Revolution auch auf die Tschechoslowakei über. Am 17. November 1989 hielt MacDonagh-Pajerová eine Eröffnungsrede zu einer Studentendemonstration. Was friedlich begann, endete blutig, als die Polizei den jungen Menschen den Weg abschnitt und anfing, mit Schlagstöcken auf sie einzuprügeln. Es gab hunderte von Verletzten. «Ich hatte Todesangst» erinnert sich MacDonagh-Pajerová an den schlimmsten Moment ihres Lebens. Doch der schwarze Tag entpuppte sich als Auslöser für die Samtene Revolution, denn die Polizeigewalt gegen die unbewaffneten Studenten mobilisierte die Bevölkerung. In den darauffolgenden Tagen strömten die Menschen auf die Strasse und versammelten sich in riesigen Demonstrationen mit bis zu 800_000 Teilnehmern. Die Führer der kommunistischen Partei realisierten schnell, dass sie dem öffentlichen Druck nicht würden standhalten können. Am 24. November trat die gesamte Parteiführung zurück. Da die Revolution relativ kurz und ohne Gewalt vonstatten ging, wurde sie später die Samtene Revolution genannt.

Euphorie versus Angst

Während einige Tschechen die Stimmung in den Tagen nach dem Fall des Kommunismus als euphorisch bezeichnen, machte anderen die unbekannte Zukunft Angst. Nach 41 Jahren kommunistischer Herrschaft waren sie es sich gewohnt, dass man ihnen im Leben alles vorgibt. Während der Journalist Michal Klíma immer überzeugt war, dass das kommunistische Regime nicht für immer bestehen wird, konnte es Jiri Rucicka kaum glauben, als die Parteiführung ihren Rücktritt bekannt gab. «Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Moment noch miterleben werde», sagt der heute 78-jährige Musiker und Komponist. Er hat die Geschehnisse aus seiner alten Heimat gebannt am TV-Bildschirm verfolgt. Denn Rucicka ist bereits 1968, als nach dem kurzen Prager Frühling die Sowjetunion in der Tschechoslowakei einmarschierte, in die Schweiz geflüchtet.

Vor elf Jahren zog es Rucicka zurück nach Prag. Er sagt, dass man die Auswirkungen von 41 Jahren kommunistischer Herrschaft auf seine Bürger immer noch spüren kann. «Die Überwachung; die Tatsache, dass man niemandem trauen kann; den Druck, Nachbarn und Kollegen bei den Behörden zu verpfeifen. Das geht an niemandem spurlos vorbei», erklärt er. «Wenn ich mich und andere, die im Exil gelebt haben, mit unseren Schulkameraden, die hier geblieben sind, vergleiche, fühle ich, dass wir mental frischer und gesünder sind als sie.»

Renata Habegger machte sich ein paar Jahre nach der Wende mit gerade mal Anfang 20 selbständig und eröffnete ein Reisebüro. Das wäre während des Kommunismus undenkbar gewesen. Heute, da sie nun in der Schweiz lebt, bietet sie Reisen in ihre Heimat an und fühlt sich beiden Ländern verbunden. Sie, Klíma, Zárubová, MacDonagh-Pajerová und Rucicka sagen, dass die Tschechische Republik seit dem Fall des Kommunismus einen grossen Sprung nach vorne gemacht hat. Im August 2019 weist Tschechien mit rund zwei Prozent eine der tiefsten Arbeitslosenquoten in ganz Europa auf.

Am Samstag wird demonstriert

Trotzdem sehen alle auch Entwicklungen, die ihnen Sorgen bereiten. MacDonagh-Pajerová und Rucicka sprechen den zunehmenden Populismus an, der die Werte der Samtenen Revolution und die Demokratie in Gefahr bringe. Klíma und Zárubová ergänzen, dass gleich nach der Wende Fehler gemacht wurden, als der neue Präsident Václav Havel zu nachsichtig mit ehemaligen Gegnern umging. «Es wurden nur sehr wenige Führer der alten Regierung für ihre Verbrechen während der kommunistischen Herrschaft zur Rechenschaft gezogen und dafür bestraft.» Dieses Versäumnis, so Klíma, habe das Volk demoralisiert. Ansonsten, so sind sich Klíma, Zárubová und MacDonagh-Pajerová einig, habe Havel, den sie alle drei persönlich kannten, einen grossartigen Job gemacht.

Dass heute mit Andrej Babiš ein ehemaliger Agent des Staatssicherheitdienstes, dem ausserdem Betrug bei EU-Fördermitteln vorgeworfen wurde, Premierminister ist, empfinden jedoch viele Tschechen als untragbar. Auch um die Pressefreiheit steht es in der Tschechischen Republik nicht sonderlich gut. Die meisten Medienunternehmen gehören heutzutage Oligarchen wie eben Premierminister Babiš. Und schliesslich bereitet vielen Tschechen auch die Einflussnahme Russlands Sorge. Klíma kann nicht verstehen, dass die tschechische Regierung nicht mehr dagegen unternimmt. MacDonagh-Pajerová ist überzeugt, dass Wladimir Putin die EU zerschlagen will und Tschechien wegen seiner geografischen Lage für dieses Unterfangen ein guter Anfangspunkt ist. MacDonagh-Pajerová, die nach der Wende auf der tschechischen Botschaft in Paris und später im Kulturkomitee des Europarats in Strassburg gearbeitet hat, war erstaunt und schockiert, als sie gesehen hat, wie naiv man in Westeuropa gegenüber Russland sei. «Demokratie hat in Russland noch nie funktioniert», sagt sie. Daran hätte sich auch nichts geändert, nachdem man es im Europarat aufgenommen habe.

Gegenüber Tschechien ist sie hoffnungsvoller. «Als ich jung war, dachten wir, dass wir ewig unter dem Kommunismus leben werden. Heute sind es die Populisten und ihre Lügen, die uns manchmal verzweifeln lassen. Aber wir wissen aus eigener Erfahrung, wir können etwas verändern.» Auch Michel Klíma rechnet damit, dass sich sein Land ein weiteres Mal transformieren und Babiš aus der Regierung verschwinden wird. «Aber wir müssen alle aktiv werden», ruft MacDonagh-Pajerová auf. Es reiche nicht, bloss auf Facebook etwas zu liken.

Diesen Frühling und Sommer sind jeweils bis zu 250 000 Menschen dem Aufruf der Bürgerinitiative «Eine Million Augenblicke für die Demokratie» gefolgt und haben auf der historischen Letná-Ebene gegen den Premierminister demonstriert. Es waren die grössten Kundgebungen seit der Samtenen Revolution 1989. Obwohl das Verfahren wegen des Subventionsbetrugs gegen Babiš inzwischen überraschend eingestellt wurde, ist eine weitere Demonstrationen am 16. November geplant. Also einen Tag vor dem 30-jährigen Jubiläum der Studentendemonstration, die der Ausgangspunkt der Samtenen Revolution war.

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Die Samtene Revolution

  • 21. August 1988: Demonstration am 20. Jahrestag der Besatzung durch den Warschauer Pakt, der den Prager Frühling von 1968 zunichte machte.
  • 17. November 1989: Studentendemonstration zum Gedenken an den Studenten Jan Opletal, der 1939 von den deutschen Besatzern angeschossen wurde und daraufhin starb. Damit wurde er zum Symbol des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und löste im November 1939 Studentendemos aus. Am 17. November 1939 reagierten die Deutschen darauf mit der Hinrichtung von neun Studentenführern, über tausend Verhaftungen und der Schliessung der Universitäten. Die Demonstration 50 Jahre danach wurde von der Polizei niedergeschlagen und löste die Samtene Revolution aus.
  • Ab 20. November 1989: Demonstrationen im ganzen Land. Zum Symbol des sanften Widerstands wurde der Schlüsselbund.
  • 24. November 1989: Der spätere Präsident Václav Havel und der 1968 geschasste Alexander Dubček sprechen auf dem Prager Wenzelsplatz zu den Demonstranten. Am gleichen Tag kündigte die kommunistischen Führer ihren Rücktritt an.
  • 25. November 1989: Staatspräsident Gustáv Husák erteilt einigen politischen Häftlingen Amnestie.
  • 26. November 1989: Start der Verhandlungen zwischen dem Bürgerforum und der Regierung.
  • 27. November 1989: Landesweiter zweistündiger Generalstreik.
  • 29. November 1989: Die Bestimmung über die führende Rolle der kommunistischen Partei in der Verfassung wird aufgehoben.
  • 29. Dezember 1989: Václav Havel wird zum Staatspräsidenten.
  • Anfang 1991: Start der Privatisierung von Staatsunternehmen.
  • 1. Januar 1993: Auflösung der Tschechoslowakei in die Republiken Tschechien und Slowakei. cl

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