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Titelgeschichte

«Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen»

Grüne und Grünliberale wollen im Nationalrat zulegen, um den Klimawandel zu begrenzen. Darin sind sich die Bieler Stadträtin Sandra Gurtner-Oesch (GLP) und der Zürcher Nationalrat Bastien Girod (Grüne) einig. In anderen Fragen aber haben sie Differenzen.

Sie begrüssen es, dass die Jugendlichen für das Klima auf die Strasse gehen: Sandra Gurtner-Oesch will im Herbst in den Nationalrat. Der in Biel aufgewachsene Zürcher Nationalrat Bastien Girod kandidiert für eine dritte Amtszeit. Bild: Carole Lau
  • Dossier

Interview: Peter Staub

Sandra Gurtner-Oesch, Bastien Girod, letzte Woche war in der Schweiz der «Swiss Overshoot Day» – ab jetzt leben wir gemäss WWFauf Kosten der kommenden Generationen. Bei unserem Lebensstil müsste die Erde mehr als doppelt so gross sein, um uns nachhaltig auszuhalten. Wissen Sie, wie gross Ihr persönlicher CO2-Fussabdruck ist?
Sandra Gurtner-Oesch: Ich liege über dem, was weltweit verträglich wäre. Bei der Wohnfläche bin ich gut, bei der Heizung so la la. Weil ich aber einmal pro Jahr fliege, habe ich schon verloren.

Bastien Girod: Ich müsste das wieder einmal messen. Das letzte Mal lag ich bei zwei Planeten pro Jahr, also unter dem Durchschnitt. In der Schweiz ist es fast nicht möglich, auf eine Erde zu kommen. Zudem beziehen sich die vom WWF gestellten 38 Fragen ausschliesslich auf das Privatleben. Wir müssten aber auch dasBerufsleben, also den Händeabdruck, miteinbeziehen. Wir müssen zwar auf unseren Fussabdruck achten, aber auch dafür sorgen, dass wir in der Klimapolitik Lösungen entwickeln.

Aber es ist klar, in der Schweiz besteht ebenfalls Handlungsbedarf, nicht nur im Ausland.
Gurtner: Selbstverständlich muss man auch in der Schweiz etwas tun. Man sieht nun auch in den Diskussionen, die durch die Klimastreiks ausgelöst wurden, dass es immer noch Familien gibt, in denen man das Verhalten optimieren kann. Etwa in dem man sich überlegt, ob ein Flug tatsächlich nötig ist. Auch in der Industrie und in der Landwirtschaft haben wir ein grosses Sparpotenzial.

Bastien Girod, Sie besuchten in den 90er-Jahren in Biel das Gymnasium. Haben Sie sich damals auch schon so engagiert, wie die heutige Generation?
Girod: Ich war zwar naturverbunden und ein kritischer Schüler, wurde aber erst am Ende meiner Gymerzeit politisch aktiv. Ich versuchte dann vergeblich, in Biel die «Jungen Grünen» zu gründen. Das gelang mir dann erst in Zürich.

Sandra Gurtner, Sie waren 20 Jahre alt, als 1992 an der Umweltkonferenz der UNO in Rio de Janeiro die damals 12-jährige Kanadierin Severn Cullis-Suzuki eine Rede hielt, welche «die Welt zum Schweigen brachte». Hat die damalige «Greta» bei Ihnen etwas bewirkt?
Gurtner: Ich war damals bereits «grün» engagiert. DerAuslöser meiner Politisierung war die AKW-Katastrophe in Tschernobyl im Jahr 1986. Ich engagierte mich damals bei Greenpeace und war deutlich radikaler, als ich heute bin. Meine Naturverbundenheit hatte auch mit meinem Grossvater zu tun, der Landwirt war. Die Konferenz von Rio war deshalb für mein Engagement nicht ausschlaggebend.

Seit die jugendlichen Demonstrierenden den Klimawandel zum Thema gemacht haben, rollt gemäss Medien «eine grüne Welle durchs Land»: Ihre Parteien haben in den letzten kantonalen Wahlen fast überall zugelegt. Wie interpretieren sie das?
Girod: Es ist grossartig. Wir dachten, dass wir zulegen, dachten aber in schweizerischen Dimensionen. Dass nun im Kanton Zürich die Grünen und die Grünliberalen zusammen so stark sind wie die SVP, ist schon sehr erstaunlich. Vor einem Jahr hielt das niemand für möglich. Mit den neuen Mehrheitsverhältnissen können wir vorwärtsmachen.

Gurtner: Die Grünliberalen sind als Partei ja jünger als die Grünen, von daher sind unsere kantonalen Resultate mehr als nur ansehnlich. Wir haben schon einmal von einem solchen Effekt profitiert. 2011 nach der AKW-Katastrophe von Fukushima hatten wir einen sehr grossen Zulauf. Die Schwierigkeit wird auch jetzt wieder sein, den Höhenflug zu halten, falls der Zeitgeist wieder wechseln sollte. Wir finden die Resultate super, sind aber nicht so enthusiastisch. Denn wir wissen, dass wir alle Hebel in Bewegung setzen müssen, um grüne Themen weiterzubringen.

Haben Ihre Parteien nun die Ziele für die nationalen Wahlen im Herbst angepasst?
Gurtner: Wir wollen sicher zulegen. Wichtig ist aber auch, dass die Rekrutierung für Kandierende anders geworden ist. Wir haben es dank dem Zulauf beispielsweise geschafft, Listen mit gleichviel Frauen und Männern zu bilden.

Girod: Es ist schon wichtig, zu sehen, dass es nicht reicht, in den Kantonen zuzulegen. Gerade für das Klima ist es wichtig, dass es im Nationalrat zu einem Wandel kommt, wenn man etwas verändern will. Dort werden die wichtigen Fragen entschieden. Bisher wurde bloss viel gesprochen aber wenig gehandelt.

Was halten Sie davon, dass Sie von der FDP Konkurrenz erhalten, die sich stärker im Umweltschutz engagieren will?
Girod: Ich fände das positiv. Es ist richtig, was die FDP-Präsidentin Petra Gössi gemacht hat. Da habe ich Respekt. Und ich denke schon, dass das Auswirkungen haben wird und sich die FDP bewegen wird. Aber am Schluss wird es wohl davon abhängen, ob die grünen Parteien im Herbst zulegen. Bereits jetzt stellen wir fest, dass es grüne Anliegen im nationalen Parlament einfacher haben: Immer wenn wir zulegen, reagieren die Bürgerlichen offener auf unsere Anliegen.

Gurtner: Ich möchte mich grundsätzlich nicht zur FDP äussern. Bemerkenswert ist aber allemal, dass der Druck der Öffentlichkeit nun Wirkung zeigt. Die Jugendlichen, die auf die Strasse gehen, haben ein gesellschaftliches und persönliches Umfeld, das sie beeinflussen. Das merken auch Eltern, die Kinder in diesem Alter haben. Eine Kollegin zum Beispiel hat sich auf Anregung ihrer Tochter dazu entschlossen, zu Hause kein Fleisch mehr zu essen. Das finde ich super.

Girod: Das Geniale dieser Schülerproteste ist ja, das das Thema aus den gesellschaftlichen Blasen, in denen wir uns oft bewegen, hinausgehen. Ein wichtiger Moment für den Klimaschutz ist plötzlich der Familientisch. Nun müssen sich die Eltern nach der Arbeit daheim erklären, was sie eigentlich machen. Ich weiss aus meiner Arbeit in der Privatwirtschaft, dass sich nun CEOs stärker um Nachhaltigkeit kümmern, weil ihre Kinder zu Hause Druck gemacht haben. Da geht ein Ruck durch die Gesellschaft. Das reicht allein noch nicht, aber immerhin.   

Die jungen Klimastreikenden fordern ab 2030 netto keine CO2-Emissionen mehr, sie stellen aber bewusst keine politischen Forderungen. Das sei die Aufgabe der gewählten Politiker. Also: Was muss in der Schweiz passieren?
Gurtner: Die Rezepte sind bekannt. Es braucht etwa in der Mobilität die Kostenwahrheit. Eine Besteuerung der Energie würde uns einen Schritt weiterbringen. Auch bei der Raumpolitik oder der Landwirtschaft haben wir klare Zielsetzungen, die wir nicht ändern müssen. Wir spüren nun einfach Rückenwind für unsere Anliegen. Aber noch haben wir dafür keine Mehrheiten.

Sandra Gurtner, solche Forderungen haben Sie in einer Kolumne im BT beschrieben, Glauben Sie, dass das reicht, um den Klimawandel zu stoppen?
Gurtner: Selbstverständlich. Wir müssen sie nun einfach umsetzen.

Bastien Girod, sind Sie einverstanden?
Girod: Bei den Lösungen müssen wir pragmatisch sein. Ich möchte mich nicht festlegen, ob Steuern oder Vorschriften besser sind. Manchmal werden Vorschriften besser akzeptiert als steuerliche Anreize. In einer Demokratie brauchen wir auch in der Klimapolitik effiziente und populäre Massnahmen. Netto-Null lässt ja noch Fragen offen, zum Beispiel, wie wir das umsetzen. Gerade die Ablehnung des Energiegesetzes im Kanton Bern zeigt, dass wir dafür sorgen müssen, alle ins Boot zu holen.

Gurtner: Das Energiegesetz hat gezeigt, dass es immer schwierig wird, wenn die Massnahmen etwas kosten, wenn es wehtut. Deshalb brauchen wir Massnahmen, die finanziell neutral sind. Das werden die Grünen und Grünliberalen allein nicht richten können, dafür brauchen wir auf nationaler Ebene Mehrheiten.

Über solche Massnahmen wird ja schon lange diskutiert. Bräuchte es nicht mehr, um Netto-Null zu erreichen?
Girod: Bisher haben wir nur diskutiert. Es ist entscheidend, dass nun Massnahmen umgesetzt werden. So wären Netto-Null-Fahrzeuge möglich. Hier müssen wir beispielsweise ansetzen, auch mit finanziellen Anreizen.

Gurtner: Solange wir für grüne Anliegen keine Mehrheit haben, können wir mit unseren Ideen zwar immer wieder kommen, aber wir erreichen nichts. Deshalb brauchen wir Verbündete.

Girod: Es würde schon helfen, wenn wir bei den Wahlen zulegen. Dann könnten wir einige Schritte vorwärtsmachen. Wie das nach Fukushima im Energiebereich möglich war.

Bastien Girod, Sie schrieben einmal, das Wachstum des Glücks der Menschen sei auch mit weniger Ressourcenverbrauch erreichbar. Gilt das auch für die Mehrheit der Menschheit, die unter oder knapp über der Armutsgrenze lebt?
Girod: Klar, wenn man wenig hat, sind materieller Wohlstand und Glück erstmals nahe beieinander. Doch die Entwicklungsländer müssen ja nicht den gleichen fossilen Umweg machen wie wir, sie können direkt auf erneuerbare Energien setzen. Allgemein ist das Wirtschaftswachstum ein schlechter Indikator für das Wohlergehen der Menschen.

Sandra Gurtner, in der Wirtschaftspolitik sind sich die Grünliberalen und die Grünen oft nicht einig. Wie interpretieren Sie die Forderungen nach Klimagerechigkeit und «System Change»?
Gurtner: Hier haben wir tatsächlich Differenzen. Ich bin zwar persönlich der Meinung, dass in vielen Bereichen weniger tatsächlich mehr ist, aber mir geht die Forderung der Streikenden nach «System Change» statt «Climate Change» zu weit. Unser System beinhaltet Wirtschaft und Demokratie. Für mich stimmt es in weiten Bereichen, wie die Wirtschaft unterwegs ist. Es ist auch an uns Konsumenten, die Wirtschaft zu bewegen.

Girod: Natürlich haben wir als Konsumenten eine gewisse Macht, aber wenn es so einfach wäre, bräuchte es keine Politik. Wir haben aktuell ein System, in dem wir den Ast absägen, auf dem wir sitzen. Die Klimagerechtigkeit ist wichtig. Industrieländer müssen auch in Entwicklungsländern beim Aufbau und der Finanzierung einer grünen Infrastruktur helfen. Im Sinn eines «Green New Deal» braucht es eine Art globalen Marshallplan fürs Klima. Da könnten auch schweizerische Firmen viel beitragen.

Gurtner: Wirtschaft ist ja auch nicht gleich Wirtschaft. Schweizer Cleantech-Betriebe arbeiten schon lange an einer Zukunft ohne fossile Energien. Auch in unserer Region gibt es solche Unternehmen. Im Übrigen macht die Schweiz in der Entwicklungshilfe viel, um in ärmeren Ländern vor Ort die Ökologie zu fördern.

In Leserbriefen wird oft gesagt, es bringe nichts, wenn nur die kleine Schweiz Klimaschutz betreibe. Reichen die aktuellen politischen Institutionen, um die USA oder China und die globalen Konzerne in die Pflicht zu nehmen?
Girod: Es gibt einige internationale Unternehmen, die sich der Nachhaltigkeit verschrieben haben, inklusive Netto-Null bis 2030. Natürlich gibt es auch Unternehmen, die noch auf fossile Energien ausgerichtet sind. Aber es gibt auch in namhaften Konzernen Stimmen, die sagen, dass man die Regeln ändern müsse, bis wir auf Kurs sind.   

Gurtner: Es ist unbestritten: Die internationalen Abkommen müssen umgesetzt werden und wir müssen die Staaten in die Pflicht nehmen, ihre Ziele gemäss ihren Strukturen umzusetzen. Aber Wunschdenken, das darüber hinaus geht, liegt mir fern.

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