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Titelgeschichte

Wo die Zeugnisse 
unserer Vorfahren verborgen liegen

Seit zehn Jahren sind die Überreste der Pfahlbauten rund um den Bielersee Teil des Unesco-Welterbes. Trotzdem ist den wenigsten Menschen bekannt, wo die historischen Stätten zu finden sind, geschweige denn, welche Bedeutung sie haben. Das soll sich nun ändern.

Direkt neben dem Vingelzer Hafen standen einst Bauten der Pfahlbauer. Die Überbleibsel der Siedlungen sind unter dem Seegrund verborgen. Bild: Yann Staffelbach

Jana Tálos

Boccia spielen, mit dem Segelboot rausfahren oder am Steinstrand im flachen Wasser plantschen: Während der Sommermonate ist der Hafen von Vingelz ein regelrechter Hotspot, überall tummeln sich Touristen und Einheimische, die das warme Sommerwetter geniessen wollen.

Was den meisten Besucherinnen und Besuchern dabei entgeht: Der Hafen von Vingelz ist nicht nur eine Freizeitanlage, sondern auch eine historische Fundstätte. Unweit der Stelle, an der die besonders waghalsigen Kids von der Mole aus ihre Seemannsköpfler und Rückwärtssaltos üben, liegen die Überreste eines fast 5000 Jahre alten Pfahlbauerndorfes. «Die Siedlung ist nicht nur eine der ältesten, sondern auch eine der am besten erhaltenen hier am Bielersee», sagt Regine Stapfer, stellvertretende Leiterin des archäologischen Dienstes des Kantons Bern. Knapp 100 Pfähle und weitere Hölzer wurden 2008 bei der Sanierung des Hafens identifiziert. Die Funde erstrecken sich über eine Fläche in der Grösse eines Fussballfeldes.

Im Seegrund verborgen

Doch damit nicht genug: Die Fundstelle im Hafen von Vingelz ist auch Teil der «Prähistorischen Pfahlbauten um die Alpen», die 2011 als Unesco-Welterbe aufgenommen worden sind. Eine Auswahl von 111 repräsentativen Fundstellen aus Slowenien, Frankreich, Italien, Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden damals stellvertretend für die über 1000 entdeckten Pfahlbauten aus der Jungsteinzeit und Bronzezeit in die Liste eingetragen. Allein sechs liegen komplett im Kanton Bern (zwei an der Grenze zum Kanton Solothurn), fünf davon am Bielersee (siehe Karte auf Seite 26). Die sechste Fundstelle befindet am Lobsigensee bei Seedorf.

So gesehen hätten die Vingelzerinnen und Vingelzer allen Grund, stolz zu sein, und die Fundstelle im Hafenbecken auch touristisch zu vermarkten – wenn man denn etwas davon sehen würde. Doch die erwähnten Pfähle liegen im Seegrund verborgen.

«Aus wissenschaftlicher Sicht ist das auch gut so», sagt Regine Stapfer. Solange die Pfähle im Seeboden bleiben, seien sie auch vor Mikroorganismen, Pilzen und Pflanzen geschützt, die sie langsam zersetzen könnten. «Wenn es uns gelingt, die Siedlungen vor dem Zerfall zu bewahren, können wir sie auch noch in ein paar Jahrzehnten, wenn man in den wissenschaftlichen Techniken weitere Fortschritte gemacht hat, untersuchen», so Stapfer. Man erhofft sich, dadurch noch mehr über die damaligen Siedler in Erfahrung bringen zu können. Insbesondere auch über ihre Herkunft, über die man bisher nur wenig weiss, da in der Umgebung der Siedlungen keine Friedhöfe aufgespürt werden konnten.

Dass die Siedlungen vom Ufer aus unsichtbar bleiben, trage aber auch dazu bei, dass viele Menschen die Fundstellen am Bielersee gar nicht wahrnähmen, abgesehen vielleicht von der in Sutz beim von Rütte-Gut, wo die Tauchstation des archäologischen Dienstes des Kantons Bern untergebracht ist.

Dabei ist der archäologische Dienst durchaus darauf angewiesen, dass die Bevölkerung über die Pfahlbauten Bescheid weiss: So sei es auch schon vorgekommen, dass Leute, die auf dem Stand-up-Paddle-Brett oder mit dem Boot unterwegs waren, Pfähle entdeckten, die aus dem Seeboden oder gar aus dem Wasser ragen. «Wenn uns diese Funde gemeldet werden, können wir sofort reagieren und falls nötig Massnahmen ergreifen, um die Pfähle zu schützen», sagt Regine Stapfer. Erfährt der archäologische Dienst nichts, kann es sein, dass die freigelegten Pfähle erst ein Jahr später beim regulären Monitoring entdeckt werden. Und dann könnte es unter Umständen schon zu spät sein.

Stelen errichtet

Was also soll man tun, um die Bevölkerung für das Thema Pfahlbauer zu sensibilisieren und gleichzeitig die Bauten bestmöglich zu schützen? Der Kanton Bern hat eine Lösung gefunden: Zum Anlass des Zehn-Jahr-Jubiläums als Unesco-Welterbe liess er in den vergangenen Wochen an allen sechs Fundstellen eine Stele errichten, auf der Informationen und Bilder zu den Pfahlbauten abgebildet sind. «So werden die Menschen schon mal darauf aufmerksam, dass da irgendetwas ist», sagt Regine Stapfer. Gleichzeitig bleiben die Bauten geschützt im Untergrund.

Auf der Vorderseite der Stelen sind dabei jeweils Informationen zur konkreten Fundstelle zu finden, etwa wie alt sie ist, wie oft die Stelle neu besiedelt wurde, welche spektakulären Funde hier gemacht wurden und was man dadurch über das Leben der Menschen damals herausgefunden hat. «In Vingelz beispielsweise haben wir ein komplettes Beil aus Holz mit einer Steinklinge gefunden», sagt Stapfer. Zudem befänden sich hier die Überreste von mindestens drei verschiedenen Siedlungen aus der Steinzeit, die jeweils im Abstand von ein paar hundert Jahren errichtet worden waren.

Auf der Rückseite finden sich wiederum allgemeine Informationen zum Unesco-Welterbe und den Pfahlbauten. So etwa, dass in der Schweiz insgesamt 56 Fundstellen auf der Liste stehen. «Die am Bielersee sind die, die im Kanton Bern am längsten untersucht wurden, da sie bereits im Zuge der ersten Juragewässerkorrektion zum Vorschein kamen», sagt Stapfer (siehe auch Zweittext unten). Die Zeitspanne, aus der man Siedlungen am Bielersee fand, reicht von 4000 bis 800 vor Christus.

Viele Bauten sind bedroht

Läuft es im Sinn der Wissenschaft, könnten die errichteten Stelen in den nächsten Jahrzehnten laufend ergänzt respektive die Informationen darauf überarbeitet werden. Das würde nämlich bedeuten, dass weitere Erkenntnisse über das Leben der Pfahlbauer gewonnen und vielleicht auch noch neue Bauten zutage gefördert werden. «Bis jetzt kennen wir vielleicht zehn Prozent von dem, was da einmal gewesen sein muss», sagt Regine Stapfer.

Vorerst gilt es jedoch, die bestehenden Funde möglichst gut zu schützen, was sich nicht immer als ganz einfach erweist. Gerade an exponierten Stellen werden der Seegrund durch Wind und Wellen immer wieder aufgewirbelt und Pfähle freigelegt. In Sutz mussten die Bauten kürzlich mit einer Kokosmatte und Kies abgedeckt werden, damit sie erhalten bleiben.

Um die Überreste der Siedlung im Vingelzer Hafen macht sich Regine Stapfer derweil keine Sorgen. «Die Mole, die weit in den See hinaus reicht, bietet den Bauten einen perfekten Schutz», sagt sie.

Sehen wird man von den Bauten daher auch in Zukunft nicht viel. Touristinnen und Einheimische dürften von nun an aber besser Bescheid wissen, welcher Schatz da draussen auf dem Grund verborgen liegt. Wer sich direkt neben die Stele stellt und den Blick ein wenig schweifen lässt, kann mit etwas Fantasie zumindest erahnen, wie sich das Leben der Menschen hier einst abgespielt haben mag.

Langsam bricht die frühe Morgensonne durch den Nebel auf dem Bielersee. Von einer Holzplattform aus beobachtet eine Gruppe von Tauchern das kalkhaltige, smaragdgrüne Wasser. «Der Winter ist die beste Zeit zum Tauchen, denn es ist klar, es gibt keine Boote und keine Vegetation», sagt Lukas Schärer, stellvertretender Leiter der Tauchequipe des Archäologischen Dienstes des Kantons Bern.

Heute ist das Seeufer von Strassen, Gebäudekomplexen und Weinbergen durchzogen. Zwischen 5000 und 500 vor Christus gab es in diesem Teil der Schweiz Pfahlbau-Siedlungen, in denen Hunderte von Menschen lebten, die Fischfang und Landwirtschaft betrieben. Die Region gehört nach wie vor zu den landwirtschaftlichen Zentren der Schweiz. Schärer und sein Team sind für die Erforschung der heute versunkenen Pfahlbaudörfer und anderer archäologischer Stätten in der Region verantwortlich. Ihr Stützpunkt ist Sutz-Lattrigen.

Dort entdeckten Archäologen 2007 Spuren des ältesten bekannten Gebäudes der Schweiz, eines Pfahlbaus aus dem Jahr 3863 vor Christus. Aber auch ausserhalb des von den Pfahlbauern einst dicht besiedelten Drei-Seen-Lands werden regelmässig neue Funde gemacht: Erst in diesem Jahr meldeten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen spektakulären Unterwasserfund im rund 100 Kilometer östlich gelegenen Vierwaldstättersee. Dort stiessen sie auf eine Pfahlbau-Siedlung und auf Artefakte, die zeigen, dass die Region bereits 2000 Jahre früher besiedelt war als bisher angenommen.

Harte Arbeit

Die Unterwasser-Archäologie, die sich ab den 1960er-Jahren dank der Erfindung des Atemreglers entwickelt hat, ist heute eine etablierte Technik und ein wesentlicher Bestandteil der Erforschung von Seeufer-Siedlungen. Fortschritte in der Forschungstechnik haben zu weiteren Durchbrüchen geführt, aber die Arbeit kann hart sein.

«Es ist körperlich anstrengend, da man auch beim Tauchen im flachen Wasser viel Gewicht tragen muss», sagt Schärer. «Und wir sind zu jeder Jahreszeit im Einsatz. Das kann manchmal schwierig sein, besonders wenn es im Winter unter Null Grad ist oder den ganzen Tag regnet.»

Auch das Sehen unter Wasser kann eine Herausforderung sein. Um eine gute Sicht zu gewährleisten, verwenden die Taucherinnen und Taucher eine künstliche Strömung. Manchmal werden auch Saugrohre oder Druckluft eingesetzt, um Stellen freizulegen oder auszugraben.

Verborgene Schätze

Die Arbeit variiert von Ort zu Ort. Viel Zeit entfällt darauf, die Fundstellen zu dokumentieren und zu überwachen. Während früher ein Grossteil der Arbeit von Hand erledigt wurde, werden heute Hightech-Geräte wie Seitensicht-Sonare, Fächer-Echolote, Unterwasser-Digitalkameras und Drohnen eingesetzt.

Konserviert unter Wasser, Sand und Schlamm haben unsere prähistorischen Vorfahren unschätzbare Hinweise auf ihr Leben hinterlassen, die dank den aussergewöhnlichen Bedingungen nach all der Zeit manchmal nahezu unversehrt geblieben sind. Immer wieder finden Taucherinnen und Taucher einzigartige Objekte, darunter eines der ältesten Räder der Welt, Steinguttöpfe, Einbäume, Kleidung und sogar uraltes Brot und Kaugummi.

«Wir haben für die Unesco-Stätten einen Managementplan, wir suchen sie nicht komplett ab», sagt Regine Stapfer, Leiterin des Archäologischen Diensts des Kantons Bern. «Das Ziel ist, sie zu belassen und so weit wie möglich zu schützen. Wenn es aber Teile gibt, die stark erodiert sind, ist es am besten, dort eine Suche durchzuführen.»

An einem Standort in der Nähe von Täuffelen ist die Erosion weit fortgeschritten. Schärer und sein Team graben die Stelle systematisch aus, zwei Taucher legen pro Tag etwa 15 Quadratmeter frei. Wenn die Sedimentschichten sehr dick sind, können sie jedoch pro Tag nur etwa einen Quadratmeter freilegen und untersuchen.

Jahrringe messen

Eine zentrale Frage der Archäologinnen und Archäologen dreht sich um das Alter der Siedlungen und der gefundenen Objekte. Das macht das Sammeln von Holzproben zu einer der wichtigsten Aufgaben der Taucher, denn mit der Dendrochronologie – der Datierung mithilfe der Jahrringe von Bäumen – können sie das Alter ziemlich genau einschätzen.

Auf der Seeplattform schneidet einer der Taucher Holzpfähle aus dem See in dicke runde Scheiben. Diese werden zur weiteren Analyse an die Kolleginnen und Kollegen im Dendrochronologie-Labor in Sutz-Lattrigen weitergegeben.

Die Baumring-Datierung hat in den letzten 30 Jahren enorme Fortschritte gemacht. Dank der umfangreichen Sequenzierung von bestimmten Baumarten und detaillierten lokalen Referenzchronologien, die es den Fachleuten ermöglichen, weit in die Vergangenheit zu gehen, ist diese Methode heute extrem genau. So kann zum Beispiel die europäische Eiche 10 000 Jahre zurückverfolgt werden.

Auf den ersten Blick scheint die Datierung von Holz ein recht einfacher Prozess zu sein. Eine Probe wird vorbereitet, indem eine dünne oberste Schicht mit einer Rasierklinge entfernt wird. Danach wird Kreide aufgetragen, um die Ringe unter dem Mikroskop sichtbar zu machen. Erst dann kommt die Technik ins Spiel: Ein Computerprogramm stellt die Ringe grafisch in einem Diagramm dar und vergleicht die Abfolge mit Standardreferenzen.

Puzzleteile zusammensetzen

Dank der Dendrochronologie können Archäologen heute das genaue Jahr bestimmen, in dem ein bestimmter Baum gefällt wurde. Indem sie ihr Material mit Unterwasserfotos von Holzpfählen abgleichen, können sich die Forschenden langsam ein Bild eines Dorfs machen, wie es besiedelt war.

Doch das Zusammensetzen der Pfahlbau-Puzzles ist komplex. Oft existierten Siedlungen nur für relativ kurze Zeiträume, und nachfolgende Generationen siedelten oft Jahre später wieder an der gleichen Stelle am See. «Manchmal hat man am Ende neun Dörfer übereinander», sagt Matthias Bolliger, Leiter des Dendrochronologie-Labors in Sutz-Lattrigen. Auf seinem Bildschirm sind Dutzende verschiedenfarbige Punkte – jeder steht für einen Unterwasserpfahl – in Form einer rechteckigen Siedlung angeordnet, die er untersucht.

Regenfeste Pfeilhüllen

Ausgefeilte Forschungstechniken haben auch viel mehr darüber enthüllt, wie die Menschen in den Pfahlbau-Siedlungen der Schweiz um 4300 vor Christus Ackerbau betrieben und Tiere hielten. Wir wissen auch mehr darüber, wie sie jagten und Wildpflanzen sammelten, wie sie Seen zum Fischen und als Transportwege nutzten und Wälder nachhaltig bewirtschafteten.

Regine Stapfer weist darauf hin, dass diese Zivilisationen viel fortschrittlicher waren, als ihnen allgemein zugestanden wird. «Sie hatten eine wirklich gute Vorstellung davon, wie man verschiedene natürliche Materialien zur Herstellung von Kleidung und anderen Gegenständen verwenden konnte», sagt sie. Neolithische Jäger benutzten Materialien wie Birkenrinde, um regenfeste Pfeilhüllen und andere Materialien herzustellen. Stapfers Team fand in Sutz-Lattrigen einen Schuh aus Bastfasern, der aus dem Jahr 2700 vor Christus stammt.

Immer wieder neue Funde

Noch gibt es aber viele Unbekannte, wenn es um den Alltag der Menschen geht, die in den Pfahlbau-Siedlungen lebten. «Wir finden zwar Materialien, die sie benutzten, und Werkzeuge oder Schalen, aber wir haben sehr wenig Informationen über ihr Leben, wie sie organisiert waren, welche Glaubensvorstellungen sie hatten», sagt Lukas Schärer.

Manchmal stossen die Taucherinnen und Taucher auch auf Fischgräten oder Tierknochen, aber nur selten finden sie menschliche Überreste oder Gegenstände, die mit Bestattungen in Verbindung stehen könnten. «Es ist nicht klar, ob sie ihre Leute an einem anderen speziellen Ort begraben oder sie verbrannt und ihre Asche auf dem See verstreut haben», sagt Regine Stapfer.

Geht man von den spektakulären Pfahlbau-Funden aus, die jüngst im Vierwaldstättersee und vor fünf Jahren auch im Thunersersee gemacht wurden, gibt es unter den Wellen noch viel mehr zu entdecken. «Das sind Orte, die vielleicht vor 10, 20, 30 Jahren schon einmal untersucht wurden», sagt Andreas Mäder, Leiter des Zürcher Dienstes für Unterwasserarchäologie. «Damals haben wir gesagt: ‹Da ist nichts›. Und plötzlich ist da etwas. Das heisst einfach, dass das Seebett erodiert ist und neue Funde zutage gekommen sind.»

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