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Titelgeschichte

Zwischen Dorf und Anstalt

Die Vollzugsanstalt Hindelbank wird 125 Jahre alt. Haben die Menschen in der Gemeinde überhaupt einen Bezug dazu – und wenn ja: welchen?

Die Justizvollzugsanstalt Hindelbank war einst Herrschaftssitz der Familie von Erlach. Bild: zvg/Markus Beyeler, Denkmalpflege des Kantons Bern

Benjamin Lauener

Die Frau schüttelt den Kopf, winkt ab, geht weiter. Es ist nicht einfach, in Hindelbank eine Strassenumfrage durchzuführen.
Dabei ginge es bei den Fragen um das, was die 2000-Seelen-Gemeinde am nordwestlichen Rand des Emmentals schweizweit bekannt macht: das Frauengefängnis. Seit 125 Jahren ist die Justizvollzugsanstalt im Schloss ausserhalb des Dorfes untergebracht.

Dieses Jubiläum soll begangen werden, mit einer Ausstellung, einem Buch und einem feierlichen Akt im November. Doch wie ist das Verhältnis zwischen der Dorfbevölkerung und der berühmten Institution? Merkt man die Nähe der Insassinnen überhaupt oder ist der Strafvollzug weit weg?

Die Polizei klopft
Das Dorf Hindelbank scheint aus einer gewundenen Strasse und mal mehr, mal weniger zufällig hingewürfelten Häusern zu bestehen. Ein Dorfzentrum gibt es nicht, oder es verbirgt sich auf alle Fälle geschickt. Also beginnt die Spurensuche im Restaurant Bahnhöfli. Wirtin Monica Imhof gibt gern Auskunft. «Mir würde etwas fehlen, wäre das Gefängnis nicht mehr da.» Seit Corona habe der Kontakt mit den Insassinnen zwar abgenommen, aber die Anstalt gehöre fest zum Dorf.

Seit 15 Jahren wirtet Imhof am Bahnhof, ganz speziell seien ihr Erlebnisse aus den ersten Jahren geblieben. «Ab und zu klopfte die Polizei an die Fensterscheibe und fragte, ob ich allein sei.» Sie habe jeweils verdutzt bejaht. Die Polizei aber habe insistiert und nachgehakt, ob sie sich sicher sei. «Sie suchten damals Frauen, die aus der Anstalt geflohen waren.» Ein ungutes Gefühl habe sie aber nie gehabt. Jene Insassinnen, die sie getroffen habe, seien alle sehr angenehm gewesen.

Während die Wirtin bedient, fragt sie im Fumoir nach, ob einer der morgendlichen Gäste seine Erfahrungen ebenfalls schildern möchte. Ohne Erfolg. Entweder haben die Männer keinen Bezug zur Anstalt oder wohnen gar nicht in der Gemeinde.

Spaziergänge zum Schloss
Einer, der in Hindelbank aufgewachsen ist, ist Gemeinderatspräsident Daniel Wenger. Er erinnert sich gut daran, wie die Sonntagsspaziergänge in seiner Kindheit immer wieder hinauf zum Schloss führten. «Damals gab es den Zaun noch nicht, und man ging automatisch näher zum Gebäude.» Der angesprochene Zaun entstand vor 25 Jahren im Zuge etlicher baulicher Massnahmen.

Die Autorinnen des Buches «Hindelbank. Das Schloss. Die Anstalt. Das Dorf – 1721 bis heute» (siehe Text auf Seite 22) haben mit verschiedenen anonymen Personen im Dorf gesprochen. Auch sie kommen schnell auf den Zaun zu sprechen. Der Bau dieser sichtbaren Grenze habe zu einer Zäsur zwischen Dorf und Anstalt geführt, vermuten die Autorinnen. Während sich die beiden Gruppen vorher ab und zu über den Weg gelaufen seien, komme das seither nur noch selten vor.

Der Zaun, der Zaun
Wer sich einmal eine amerikanische Gefängnis-Serie zu Gemüte geführt hat, mag vom Zaun etwas enttäuscht sein. Er wirkt kleiner, überwindbarer als angenommen. Obenauf thront gerollter Stacheldraht, in dem einige herbstorange Blätter stecken. Doch der Zaun bleibt unüberwindbar. Auch für die Besucher der Jubiläumsausstellung. Diese findet nämlich in den äussersten Räumen der Schlossanlage statt. Einzig eine Virtual-Reality-Brille erlaubt einen vierminütigen Blick in den Zellenalltag – und damit hinter den Zaun.

Als wirklicher Bezugspunkt zwischen Dorfbevölkerung und Insassinnen bleibt laut Buch innerhalb der Anstalt lediglich der Schlossmärit. Dort sind sowohl Gefangene als auch bürgerliches Publikum unterwegs und kaum auseinanderzuhalten.

Kaum Einfluss auf das Leben
Wie eng das Zusammenleben von Insassinnen und Gemeindevolk vor dem Zaunbau aber wirklich war, sei dahingestellt. Denn im Buch erklären zwar die Hindelbankerinnen und Hindelbanker, dass die Beziehung durchaus eng gewesen sei. Andererseits gaben aber ehemalige Insassinnen zu Protokoll, sie hätten das Dorf Hindelbank gar nicht bewusst wahrgenommen, sondern einfach als einen Teil der Aussenwelt verstanden.

Eine Aussenwelt, die heute kaum mehr von der Innenwelt beeinflusst scheint. Gemeinderatspräsident Daniel Wenger ist sich etwa sicher, dass seine Kinder im Teenageralter beide kaum einen Bezug zum Frauengefängnis haben. Sie wüssten zwar von der Institution, einen direkten Einfluss habe die Anstalt auf ihr Leben aber nicht.

Der Weg zum Bus
Leicht erhoben über Hindelbank liegt die Justizvollzugsanstalt. Kaum etwas deutet darauf hin, dass irgendwo auf dem Gelände Delinquentinnen die verschiedenen Arten des Strafvollzugs durchmachen. Ausser eben vielleicht der Zaun mit dem Stacheldraht, die teils massiven Mauern oder der Mann, der beim Einbiegen mit dem Auto sofort wissen will, was man hier suche, deuten darauf hin, dass es sich um Hochrisikogebiet handeln dürfte.

Wirklich bewusst wird es einem aber erst bei der Suche nach der Bushaltestelle. Der Weg wäre kurz, dürfte man den Gefängnishof kreuzen. Darf man natürlich nicht. Also geht es dem Zaun entlang, um die Anstalt herum und über die Gemeindegrenze nach Hettiswil zur nächsten Haltestelle. Währenddessen ist keine Menschenseele zu sehen.

Kein Kommentar
Zurück im Dorfzentrum, mag sich noch immer niemand dazu äussern, wie er oder sie es mit dem Frauengefängnis hält. Die meisten deuten nur an, es störe nicht, und gehen weiter. Den Eindruck, dass die Justizvollzugsanstalt «nicht stört», teilt auch Bahnhöfli-Wirtin Monica Imhof. Mehr noch: «Wieso sollte es uns peinlich sein, für das Frauengefängnis berühmt zu sein? Leute machen sich immer wieder strafbar und dann braucht es solche Einrichtungen.»

Natürlich gebe es ab und zu einen Spruch zu hören, wenn man sage, woher man komme, aber damit gelte es zu leben. Diese Sprüche kennt auch Daniel Wenger. Für den Gemeinderatspräsidenten ist ebenso klar: «Die Anstalt gehört zur Gemeinde, wir leugnen sie nicht, und das bleibt so.»

Schlimm wäre das Gegenteil, erklärt er. Wenn etwa der Kanton Bern planen würde, die Justizvollzugsanstalt in Hindelbank aufzulösen. Man müsste dann stets mit der latenten Angst leben, plötzlich ein leeres Schloss zu haben. Das wäre schlimm. Doch diese Angst ist unbegründet.

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