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Transgender 

«Manchmal fühle ich mich ausgeliefert»

Eine Genitalprothese fehlt Nico Gaspari, um auch körperlich vollständig zum Mann zu werden. Seine Krankenkasse will die Kosten dafür nicht übernehmen – im Gegensatz zu anderen.

Vor 20 Jahren hat sich Nico Gaspari zum Mann umoperieren lassen. Ein letzter Schritt fehlt aber nach wie vor. Bild: Christian Pfander

Annic Berset

Nico Gaspari fällt auf. Als Mann. Mit dem dichten Bart, den grossen Löchern in den Ohren, den Tattoos, den grossen Oberarmen, die er im Fitnesscenter stählt – Bodybuilding, das ist seine Leidenschaft.

Der heute 44-Jährige sah nicht immer so aus. Die ersten 25 Jahre seines Lebens lebte der ehemalige Worber als Frau und hiess Rahel. Vor knapp 20 Jahren begann für ihn der Weg zum Leben als Mann. Dieser startete mit unzähligen psychologischen Gesprächen, die glaubhaft machen sollten, wie sehr er sich wünschte, einen Männerkörper zu haben. Weiter ging es mit einem psychiatrischen Gutachten, das bezeugte, dass ein Leben als Frau für ihn auf Dauer nicht infrage kommen konnte. Und dann, endlich, stand für Nico Gaspari die lang ersehnte Operation an. «Am 8. Dezember 2000 bin ich sozusagen ein zweites Mal geboren worden – und zwar ohne Brüste, ohne Gebärmutter und ohne Eierstöcke», sagte er vor einem Jahr zu dieser Zeitung. Anlass dafür war eine Dokumentation über Transmenschen im Schweizer Fernsehen, in der Gaspari seine Geschichte erzählte.

Nicht vollkommen
Den letzten Schritt zur Männlichkeit konnte Nico Gaspari aber bis heute nicht vollziehen. Ein Nierenleiden verhinderte die Operation. Und darunter leidet der gebürtige Luzerner nach wie vor. «Erst ein Penis würde mich zu einem vollkommenen Mann machen», sagt er.

Eine operative Geschlechtsanpassung ist indes nicht die einzige Möglichkeit, die der 44-Jährige hat, um diese Hürde zu überwinden. Denn neben einem Eingriff gibt es vor allem in Deutschland ausgebildete Spezialisten, die Penisprothesen – sogenannte Epithesen – herstellen. Gaspari ist nicht der Einzige, der von dieser Methode überzeugt ist. Auch andere Transmenschen in seinem Umfeld haben sich zu diesem Schritt entschieden. Die Epithese kostet mit gut 10 000 Franken nur rund ein Zehntel einer Operation. «Ausserdem bleibt es in der Regel nicht nur bei einer Operation, und diese zieht in vielen Fällen auch noch Komplikationen mit sich», erzählt Nico Gaspari. Die Epithese geht einen Schritt weniger weit als ein operativer Eingriff. «Gerade für junge Menschen, die eine Umwandlung zum Mann durchmachen, ist das sehr wichtig.»

Bis heute aber kann Gaspari, der heute wieder in seiner Heimatstadt lebt, nicht von dieser Penisprothese profitieren. Seine Krankenkasse lehnt die Kostenübernahme auch nach mehreren Gesuchen ab. «Lediglich bei der operativen Geschlechtsangleichung besteht eine Leistungspflicht für die obligatorische Krankenpflegeversicherung», schrieb die Visana letztes Jahr in ihrer Begründung. Nico Gaspari schüttelt den Kopf. «Der Entscheid der Krankenkasse ist absolut willkürlich, sie spart ja sogar Geld, weil ich mich keinem Eingriff unterziehe.» Und er legt ein halbes Dutzend Gesuche von Bekannten vor, bei denen die Krankenkassen die Kosten übernommen haben. «Es ist schon entwürdigend genug, dass wir Unterlagen wie ein Motivationsschreiben beilegen müssen, um zu rechtfertigen, weshalb eine Genitalepithese für uns so wichtig ist.» Ausserdem wird jeweils ein psychiatrisches Gutachten von einem Arzt verlangt, das die psychische Notwendigkeit belegt.

Besonders frustrierend findet Nico Gaspari die Situation, weil er sein Gesuch gleichzeitig mit einem anderen Betroffenen eingereicht hat – bei verschiedenen Krankenkassen. Bei der anderen Kasse wurden die Kosten nach dem ersten Gesuch übernommen. «Weshalb gibt es hier keine einheitlichen Lösungen?», fragt sich der 44-Jährige. Er setzt sich dafür ein, dass sich die Verantwortlichen mit dem Thema auseinandersetzen, auch Politiker. «Denn es wird in unserer Gesellschaft vermehrt Transmenschen geben.»

«Die Hände gebunden»
Die von dieser Zeitung angefragten Krankenkassen reagieren alle mit derselben Antwort auf die Frage nach der Kostenübernahme. «Bei den Angleichungsmassnahmen handelt es sich um komplexe Fälle, die man einzeln und sorgfältig prüfen muss», heisst es unisono. In diesem Bereich sei eine grundsätzliche Leistungsübernahme unmöglich.

«Leistungen werden bezahlt, wenn sie dem Prinzip Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit entsprechen», erklärt Matthias Müller, Sprecher des Krankenkassenverbandes Santésuisse. Die Prüfung eines Gesuchs wird jeweils von Vertrauensärzten vorgenommen, die über gemeinsame Standards verfügen. Allerdings ist die Notwendigkeit eines Eingriffs stark vom Einzelfall abhängig. «Die Experten beurteilen, ob die Leistung für die einzelne Person medizinisch sinnvoll ist», so Müller. «Wenn aber das Anliegen primär ästhetische und keine medizinischen Gründe hat, werden die Kosten nicht übernommen.»

Im Fall von Nico Gaspari werde die Penisepithese im Sinne eines Hilfsmittels verwendet, schreibt die Visana. Die Epithese sei in der Liste der Mittel und Gegenstände nicht enthalten und stelle daher keine Pflichtleistung dar. Ausserdem stützt sich die Visana auf das Bundesamt für Gesundheit (BAG). «Das BAG hat uns bestätigt, dass die Epithese keine Pflichtleistung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung darstellt und nicht darüber vergütet werden darf. Uns sind die Hände gebunden», heisst es in der Antwort auf das Gesuch von Nico Gaspari. Haben also alle anderen Krankenkassen, die die Kosten übernommen haben, falsch gehandelt? «Die Erläuterungen der Visana sind korrekt», bestätigt das BAG. Diese Leistungen dürften nicht in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vergütet werden. Anders sehe es bei Zusatzversicherungen aus.

Andere bestimmen
Auch wenn seine Gesuche bisher abgelehnt wurden, gibt Gaspari nicht auf. Das mit den Rechten sei aber bei Transmenschen sowieso so eine Sache, findet er. «Ich musste mich bei meiner Geschlechtsumwandlung zwangssterilisieren lassen, hat das nicht auch etwas mit Diskriminierung zu tun?», fragt er. Am meisten stört ihn, dass viel zu viele Personen über seinen Körper bestimmen würden. «Dabei kann fast niemand nachvollziehen, wie es ist, in einem Körper wie meinem zu stecken», sagt er:«Manchmal fühle ich mich ausgeliefert.»

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Nach dem Eingriff eins mit dem Körper
Claudia Sabine Meier ist den Weg zum anderen Geschlecht bis zur Operation zu Ende gegangen. Unters Messer gelegt hat sich die heute 50-Jährige, die 1968 als Andreas Heribert Meier zur Welt kam und das Schwefelbergbad jahrelang als Direktor führte, vor sechs Jahren. Als Frau war sie damals schon zwei Jahre unterwegs. In ihrer Position im elterlichen Hotelbetrieb sorgte das für Schlagzeilen. Kurzerhand wurde sie zur Vorzeige-Transfrau der Region Bern.
Wie sie diesen «Schnitt im Schritt» erlebt hat, schildert Claudia Sabine Meier in ihrer Biografie «Oh Mann, Frau Meier». Ausführlich schreibt sie von der letzten Nacht vor dem Eingriff, von ihrem grossen Wunsch, eine Pille schlucken und dann einfach durchschlafen zu können. Der Entscheid sei zwar längst gefällt gewesen und auch durch das letzte, ausführliche Gespräch mit dem behandelnden Arzt nicht ins Wanken geraten, hält sie fest. Aber: «Ich wollte nicht mehr darüber nachgrübeln müssen.»
Als sie nach der Operation aus der Narkose erwachte, konnte sie sich nicht richtig bewegen. Sie hatte auch «das Gefühl einer Riesenerektion, doch dann sah ich an mir runter: Da war nichts mehr.»
Nach all den Jahren im falschen Körper reagierte sie nun, da das offensichtliche Kennzeichen der ungeliebten Männlichkeit verschwunden war, mit sehr starken Emotionen. «Plötzlich liess ich heisse Tränen laufen. Es war ein ganz, ganz, ganz tiefer Friede, der von innen aufgestiegen war, so ein unbeschreiblich endloser Friede, als würde jetzt alles gut. Ich spürte, wie mein Körper mit meiner Seele zu sprechen begann.»
Natürlich hatte sie auch Schmerzen. Wobei es damit ja so eine Sache war, denn anfänglich fühlte sie gar nichts. Der Chirurg sei nicht darum herumgekommen, ihr in den Schritt zu greifen, erzählt sie im Buch weiter – «Aauuuu!», schrie sie, und er erwiderte: «Das ist gut. Wenn es nicht wehgetan hätte, hätten wir ein Problem gehabt. Dann hätten sie kein Gefühl, und das wäre ja nicht gut.»
Ohne Beschwerden
Zwei Monate musste Claudia Sabine Meier Schmerzmittel schlucken. Doch die Zuversicht überwog schon im Spital: «Es wurde gut, es wurde immer besser. Jeden Tag machte ich ein Foto. Ich konnte zusehen, wie es heilte, bis es normal aussah. Ich war glücklich, ich war fröhlich.»
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Der Schmerz ist gänzlich weg und das Gefühl in der chirurgisch aufgebauten Vagina vollständig da. Die Krankenkasse übernahm auch die Kosten für den Eingriff, wenn auch erst auf Druck. Zugute kam ihr die halbprivate Versicherung: «Die Krankenkassen haben dann wohl etwas mehr Luft.» Stephan Künzi

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