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Titelgeschichte

«Alle sind zubetoniert»

Schweizer Jugendliche klauen die Beruhigungsmittel ihrer Mütter, kaufen Antidepressiva im Darknet
und brechen in Apotheken ein: Wer sind diese süchtigen Teenager?

«Wenn du auf Xans bist, nimmst du sie wie Tic Tacs», sagt der 15-jährige Timo*. Bild: Mattia Coda

Renato Beck und Gabriel Brönnimann

Piero* hat die ganze Nacht lang einen Mix aus Beruhigungs- und Aufputschmitteln geschluckt, «Xans und Amphis reingeballert». Jetzt sitzt er benommen in der reformierten Kirche in Reinach, einem kargen Betonbau mit roten Backsteinwänden. Er trauert um Stefan, der eine Woche zuvor an einem ähnlichen Drogencocktail gestorben ist.

Stühle werden hereingetragen, damit die vielen Trauernden Platz finden. Der Abschied wird zur Feier von Stefans kurzem Leben: Fotos und Videos, dazu läuft die Technohymne «Sky and Sand». Es ist ein Rückblick auf wilde Nächte und grosse Gefühle, auf ein glückliches Kind und einen nachdenklichen Teenager. Als ihn seine Freunde am 29. März 2019 in der Wohnung eines Bekannten fanden, klebte eine Zigarette in Stefans Mundwinkel. Als Stefan starb, war er gerade mal 20. Er war beliebt. Und berüchtigt. Er konsumierte alles, kannte jede Wirkung. Er war ein Experte für chemisch verursachte Grenzerfahrungen. Stefans Freunde beschreiben ihn als einfühlsamen, intelligenten Mann, aber auch als einen, der mit seiner Gefühlswelt nicht zurechtkam.

Piero weiss, was Stefan alles genommen hat. Auch viele andere Teenager, die in der Kirche sitzen. An sie ist der Brief von Stefans Eltern gerichtet, den die Pfarrerin unter Tränen vorliest. Die Botschaft lautet: Hört auf mit den Tabletten! Draussen an den Wänden der Basler Agglomerationsgemeinde erinnern Graffiti an die Tragödie: «RIP Stefan» steht auf Schulhauswänden, auf Parkbänken, beim Fussballplatz.

Ist die Geschichte von Stefan und seiner Clique ein Einzelfall? Oder steht hinter ihrem übermässigen Konsum von Beruhigungsmitteln eine neue Drogenwelle, wie manche Experten warnen? Die Baselbieter Jugendanwaltschaft sagt, es gebe in jeder städtischen Gemeinde im Kanton eine Szene, die exzessiv verschreibungspflichtige Medikamente konsumiere. Mal seien es zehn Jugendliche, mal mehr als 50. Besonders viele sind es in den Agglomerationsgemeinden. In Münchenstein, Reinach, Muttenz, Pratteln, Allschwil und Birsfelden.

Ein halbes Jahr ist seit der Beerdigung von Stefan vergangen. Piero, Timo* und Luca* sitzen auf einem Bänkli im Wartehäuschen der Tramhaltestelle Neuewelt in Münchenstein und erzählen von ihrem Leben.

Schulbank drücken, Mofa schrauben, Fifa spielen, Rap hören, Xanax schlucken. Die drei sind alle 15 Jahre alt. Aus ihren Handy-Boxen wummert elektronische Musik. Einer nach dem andern stellt sich schüchtern vor: Piero, ein massiger junger Mann mit weichem, kindlichem Gesicht, die Kapuze über den Kopf gezogen. Timo, schmächtig gebaut, die blasse Haut geht kontrastlos in die weisse Hip-Hop-Kleidung über. Luca, ein gross gewachsener, hübscher Junge mit blauen Augen; in seinem rechten Ohr funkelt ein Stein.

Luca: «Alle Dealer haben aufgehört, nachdem Stefan gestorben war.»

Timo: «Wir haben trotzdem noch genommen. Haben es in der Stadt geholt.»

Piero: «Kolleg sagte, Dicker, Stefan ist gestorben! Ich fing an zu weinen.»

Luca: «Richtig netter Mensch, er hat es nicht realisiert.»

Piero: «Er hat es realisiert, er war auf Entzug.»

Luca: «Hör zu, am Tag, bevor er starb, hat er mir geschrieben: Ich bin ausgebrochen, ich will konsumieren.»

Piero: «Er hat krank viel konsumiert. Ich sah ihn im Coop, er war aufgeschwemmt, sah tot aus.»

Die drei Freunde fanden sich übers Kiffen. Samstags und sonntags hingen sie beim Einkaufszentrum Gartenstadt herum. Sie rauchten Marihuana, erst nur wenig, dann, so erzählen sie, bis zu 18 Joints am Tag. Neue Freunde stiessen dazu, jüngere und ältere, auch ein paar Mädchen. «Jemand hat gesagt, ich hab da was Neues. Da haben wir Xanax probiert.»

Für Timo ist das Beruhigungsmittel Xanax inzwischen so wichtig, dass er es meistens bei sich trägt. «Die Vorstellung, keinen Zugang zu den Tabletten zu haben, ist unerträglich», sagt er. Damit er die angstlösende Wirkung spürt, muss er aber ständig die Dosis erhöhen. Meist fängt er am Samstagabend mit zwei Tabletten und einem Bier an. Im Verlaufe einer Nacht kommen so viele Tabletten dazu, wie er sich zurechtgelegt hat. Manchmal fünf, manchmal acht. Das ist ein Vielfaches der empfohlenen Dosis für Erwachsene, die das Medikament gegen Rezept erhalten, etwa wenn sie unter Angststörungen leiden. «Wenn du auf Xans bist, nimmst du die wie Tic Tacs», sagt Timo. Er beschränke seinen Konsum mehrheitlich aufs Wochenende. Aber das «Ziehen» nehme zu, das Verlangen nach den Pillen. «Ich will immer konsumieren, am Sonntag, am Montag, am Morgen, am Abend.» Zieht es zu fest, schaut Timo die Tabletten an – und legt sie zur Seite. Er sagt: «Mein Wille ist stark genug.»

«Zeugs, das unsere Mütter nahmen»

Die Geschichte der Benzodiazepine beginnt 1963. Damals lancierte der Basler Pharmakonzern Roche das Beruhigungsmittel Valium, 1984 kam Pfizers Angstlöser Xanax auf den Markt. Es sind bis heute zwei der am häufigsten verkauften Benzodiazepine. Die Pillen sind selbst unter Ärzten umstritten, weil sie innert Wochen psychisch und körperlich abhängig machen. Der Entzug ist langwierig und oft von starken Entzugserscheinungen begleitet.

Luca, der Lange, springt von der Bank auf, hüpft hin und her, einen klaren Gedanken zu fassen fällt ihm schwer. In dieser Nacht an der Tramhaltestelle Neuewelt darf er zum ersten Mal wieder abends weg, seit er in einem Heim ausserhalb des Kantons lebt.

Seine Kollegen erzählen, wie sie sich bis vor Kurzem in jeder freien Minute getroffen haben. Im Zimmer von Luca, das sich im Keller befindet, auf einem Bänkchen beim Einkaufszentrum Gartenstadt oder an Partys. Sie schluckten Tabletten, «Oxycodon, Tramadol, Xanax, Hustensaft, manchmal Zeugs, das unsere Mütter nahmen».

Sie führten seltsame Gespräche. Sie kicherten, hörten Musik, filmten sich dabei. Tags darauf schauten sie auf Snapchat nach, was sie in der Nacht erlebt hatten, von dem sie aber nichts mehr wussten, weil die Benzodiazepine das Zeit-, Raum- und Erinnerungsvermögen stören.

Timo der Schmächtige, Piero der Füllige und Luca der Lange, sie alle wohnen an ruhigen Quartierstrassen mit Reihenhäusern und stattlichen Einfamilienhäusern, gepflegten Vor- und verglasten Wintergärten. Doch hinter den schönen Fassaden bröckelt die Idylle. Piero ist ein Scheidungskind, hat wenig Kontakt zum Vater.

Er sagt, seine Mutter kiffe, die Brüder würden Drogen verkaufen. «Meine Mutter hat es vermutlich nicht allzu gut gemacht.» Seine Brüder hätten ihn geschlagen, niedergemacht. «Ich war immer traurig, und ich habe niemandem davon erzählt.» Mit zwölf habe er seinen ersten Joint geraucht, mit 13 Amphetamine genommen, mit 14 die Partydroge MDMA, besser bekannt als Ecstasy. Dann kamen Benzodiazepine und Opiate, die sogenannten Downers, dazu. «Es wurde schnell zu viel», sagt Piero.

Luca hingegen hat lange keinerlei Drogen angefasst, nicht einmal Zigaretten – und dann hat er alles auf einmal probiert. Um sich seinen Konsum zu finanzieren, begann er zu dealen. In der Apotheke kosten zwei Milligramm Xanax lediglich 65 Rappen. Doch weil man das Medikament nur mit einem Rezept erhält, verlangen die Dealer für eine einzige Tablette zehn Franken. Auch das Opioid Tramal kostet auf der Strasse mehr als das Zehnfache. Am lukrativsten aber ist der Verkauf von verschreibungspflichtigem Hustensirup, der im Handel für knapp sieben Franken pro Flasche erhältlich ist. Auf dem Schwarzmarkt kostet sie 150 Franken.

In dieses Geschäft wollten Luca und seine Freunde einsteigen. Sie erzählten, sie hätten Hustensaft, den sie im Darknet kauften, in Flaschen gefüllt und «vertickt». «Aber das gab Stress mit ein paar richtig grossen Dealern. Wir wurden ins Auto gezerrt und mit dem Messer bedroht. Ein Dealer hat gedroht, er werde meine Schwester vergewaltigen und meine Mutter töten, weil ich Schulden hatte», sagt Luca. Die Baselbieter Jugendanwaltschaft bestätigt, dass es immer wieder vorkomme, dass Jugendliche erpresst und körperlich angegangen würden.

Luca landete vor einem Jahr im Heim, brach aus, lebte drei Monate bei Kollegen. Dann drehte sich alles nur noch um den Stoff. Er verkaufte die Stereoanlage und seine Mofas und bestellte im Darknet 300 Pillen Xanax und Valium. Das Paket liess er sich an einen Postdienst im deutschen Grenzgebiet liefern. «Ich wollte das verkaufen, aber dann habe ich alles mit ein paar Freunden an einem Wochenende selber konsumiert», sagt er.

Später hat er an einer Party das Opioid Oxycodon und dann sehr viel Valium genommen. Er schäumte aus dem Mund. Seine Schwester rief die Polizei, und Luca kam das erste Mal in Haft. Ein paar Tage nach der Entlassung konsumierte er mit Freunden eine Packung Clonazepam, ein Antiepileptikum, das seine Mutter nahm.

Eines Morgens wurde Luca, der inzwischen wieder bei der Mutter lebte, daheim von Polizisten geweckt. «Einbruch in Apotheke – drei mutmassliche Einbrecher angehalten», stand am 29. Juli letzten Jahres in der «Basler Zeitung». «Beim Einbruch in der Apotheke an der Stöckackerstrasse in Münchenstein wurde eine grössere Menge an Medikamenten erbeutet.» Luca kam in Untersuchungshaft, danach erneut in ein Heim, diesmal weit weg von daheim. «Ich bin jetzt clean. Seit sechs Wochen. Ich vermisse das Zeugs immer noch. Aber ich habe meine Lektion gelernt», sagt er.

Die «nächste grosse Welle»

Dass Jugendliche sich mit Beruhigungsmitteln berauschen, ist ein neues Phänomen. Es beschränkt sich aber nicht auf das Umland von Basel. Im Oktober hob die Polizei im Kanton Luzern einen Konsumenten- und Dealerring aus, zu dem 50 Jugendliche und junge Erwachsene aus der Luzerner Agglomeration gehörten.

Erstmals kam da an die Oberfläche, was Lukas Baumgartner von der Baselbieter Jugendanwaltschaft als «die nächste grosse Welle» bezeichnet, die derzeit über die Schweizer Jugend hereinbreche. Baumgartners Behörde ist in einem alten Wohnhaus an der lärmigen Rheinstrasse in Liestal untergebracht, abseits des Ortszentrums, abgeschirmt von neugierigen Blicken. Hier nimmt Baumgartner seine «Kunden» in Empfang, wie er die jugendlichen Straftäter nennt.

Baumgartner war früher Staatsanwalt, dann wollte er mehr tun, als Schuldige zu überführen. Heute ist er die harte Hand des Gesetzes, aber auch Kümmerer und zuweilen Ersatzvater. Manchmal sanft und pädagogisch, manchmal mit Zwang will er die Jugendlichen dazu bewegen, einen anderen Weg einzuschlagen. Bei der einen Hälfte gelinge ihm das, bei der anderen nicht.

Kürzlich hat ein Jugendlicher im Medikamentenrausch seine Zelle im Basler Untersuchungsgefängnis Waaghof demoliert. «Sie haben mir die Bilder geschickt», so etwas habe er noch nie gesehen. «Was bei uns abgeht, ist aktuell schwere Kost. Wir sind oft am Anschlag. Das liegt auch an den Benzos und all den anderen Tabletten.»

Laut den Daten des Krankenversicherers Helsana nehmen in der Schweiz pro Jahr 700 000 Personen Benzodiazepine ein. Das Bundesamt für Gesundheit schätzt, dass die Hälfte von ihnen einen «problematischen Gebrauch» mit den Angstlösern aufweist. Die zweite Medikamentengruppe, die bei den Jugendlichen begehrt ist, sind Opioide wie Tramadol, Oxycodon und Codein. In den USA stehen die Schmerzmittel im Verdacht, eine epidemische Drogenkrise mitverursacht zu haben. Die hochwirksamen Medikamente finden sich, ärztlich verschrieben, auch in vielen Schweizer Hausapotheken. Da fängt der Missbrauch oft an, glaubt Jugendanwalt Lukas Baumgartner.

Für ihn begann das neue Schweizer Drogenproblem im Sommer 2018. Die Marihuana-Welle hatte gerade ihren Höhepunkt erreicht. Gedealt wurde auf Pausenhöfen, in Wohnungen, an den Bahnhöfen – in einem Ausmass, wie es der Kanton Basel-Landschaft lange nicht gesehen habe.

Es war so viel Marihuana auf dem Markt, dass die Dealer ihr Angebot erweiterten. Die Ermittler fanden auf Handys von jungen Kiffern Filmchen, in denen die Jugendlichen Styroporbecher in Händen hielten, gefüllt mit Lean, einem Cocktail aus codeinhaltigem Hustensaft und Sprite. Andere nippten Narkosemittel aus Bechern, als ob es sich um guten Wein handeln würde. Oder sie schütteten ein Krebsmedikament in sich rein, «von dem erschöpfte Krebspatienten sagen, sie würden lieber sterben, als es einzunehmen», sagt der Jugendanwalt Baumgartner.

Werden die Jugendlichen beim illegalen Konsum oder beim Dealen erwischt, werden sie vorgeladen und sitzen ihm gegenüber. Immer öfter solche mit Medikamentenproblemen. Im Gespräch begännen die Jugendlichen manchmal aus dem Nichts zu schreien, auf simple Fragen könnten sie nicht antworten, hätten Aussetzer. «System-Overflow» nennt Baumgartner dieses Phänomen. «Diese Substanzen sind ein direkter Angriff auf das Kleinhirn.» Gerade diese Jugendlichen würden dann oft Hilfe annehmen – und in ruhigen Momenten sogar explizit darum bitten.

«Ich wollte das genau so»

Was belastet diese Jugendlichen? Wovor fürchten sie sich derart, dass sie sich mit Angsthemmern zudröhnen?

Timo spaziert manchmal allein durch die Gartenstadt. Er macht den C-Walk, den Tanz der US-Strassengang Crips. In der Hand hält er eine Flasche Lean. In seinen Kopfhörern läuft der Rap von Shoreline Mafia.

 

«I been sippin drippin bust prescriptions for the fuckin juice / I been popping xanax popping addys who the fuck is you»

 

Timo sagt über Pfizers Angstlöser: «Xanax hat mein Leben verändert.» Er meint das positiv. Timo geht in die Sekundarschule und ist Klassenbester. Die Konflikte mit den Lehrern hätten aufgehört, seit er die Medikamente nehme. Er hinterfrage jetzt nicht mehr alles. Sogar die Streitereien zuhause mit dem Vater halte er aus.

Schon in der Primarschule hatte Timo ständig Konflikte mit den Lehrern. Gaben sie ihm Hausaufgaben, fragte er: «Warum? Was bringt mir das?» In den Elterngesprächen sagten die Lehrer, Timo habe den Kopf für die Schule, aber nicht die richtige Einstellung. Später eskalierte die Situation. «Die Lehrer interessierten sich nicht für uns. Es war ihnen egal, ob wir dem Unterricht folgten oder nicht», erzählt er.

Seine Noten seien schnell gesunken, aus dem gescheiten Schüler wurde ein Problemkind. Die Eltern hätten ihn unter Druck gesetzt, ständig gefragt, was aus ihm werden, wie es mit ihm weitergehen solle. Sie stritten, und Timo reagierte, wie Teenager in solchen Fällen oft reagieren: Er fühlte sich schuldig und kapselte sich ab.

Sein Leben verlagerte sich nach draussen. Mit seinen Kollegen, der Mofa-Gang, wie die Gruppe von Polizei und Nachbarn genannt wurde, begann er zu kiffen, die Gruppe wuchs, und mit den neuen Freunden kamen neue Drogen. Timo sagt: «Ich bin da nicht irgendwie reingerutscht. Ich wollte das genau so.»

Timo könnte ein typischer Patient von Astrid Steinmann sein. Sie ist eine auf Suchtprobleme spezialisierte Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Psychiatrie Baselland. «Die Jugendlichen, die zu uns kommen, berichten, dass sie anfangs meist aus Neugierde und Gruppendruck konsumieren und Grenzen ausloten wollen», sagt Steinmann. «Sie finden es anfangs lustig, konsumieren meist in ihrer Gruppe, wollen herausfinden, was für Wirkungen die verschiedenen Suchtmittel entfalten.» Die Folgeschäden kämen oft erst später, sagt die Ärztin. Meistens fange es mit Stimmungsschwankungen an, später können Angstzustände, Depressionen, Verhaltensauffälligkeiten und Konzentrationsschwierigkeiten hinzukommen. Ein Gefühl der Leere stelle sich ein, das Leben sei nur noch spannend und erfüllend mit den Medikamenten.

Die Jugendlichen bekämen Probleme mit den Eltern, in der Schule, sie brächen ihre Ausbildungen ab und hätten Mühe, eine Perspektive und eine eigene Identität zu finden. Erst später werde ihnen klar, dass sie wichtige Chancen im Leben nicht genutzt haben, sagt die Psychiaterin.

Timo ist noch nicht so weit, dass er seine Probleme erkannt hat. Im Gegenteil: «Es gibt nichts Besseres, als mit seinen Freunden zu sein, und alle sind zubetoniert.» An den Wochenenden trifft er sich noch immer mit seiner Clique. «Wir reden über unseren Alltag, unsere Gefühle. Nach ein paar Tabletten leert sich der Kopf, alle Gedanken sind weg. Dann bist du komplett verwirrt, begreifst nichts mehr.»

Pause vom Leistungsdruck

Jugendanwalt Baumgartner hat eine Erklärung für den jugendlichen Wunsch, sich aus allem rauszunehmen: «Der Leistungsdruck, dem wir Jugendliche in unserer Gesellschaft unterwerfen, ist enorm. Also geben sie sich eine Pause.» Kommen zusätzliche Probleme hinzu – zum Beispiel im Elternhaus oder in der Schule –, dann werde der Drang immer grösser, «einfach mal durchzuschnaufen, für ein paar Stunden oder Tage». Abschalten bis zum möglichen Herzstillstand. «Ich sage den Jugendlichen dann: Ein Schluck mehr, und du wärst vielleicht tot.» Die Antwort ist nicht selten: «Und wenn schon?» – «Lebensmüde wirkende Jugendliche – da läuft es mir jedes Mal kalt den Rücken hinunter», sagt Baumgartner.

Timo hat mit Xanax seine Ängste vertrieben. Die Angst, die Eltern zu enttäuschen und sich die Zukunft mit schlechten Noten zu verbauen. Die Angst, stecken zu bleiben in seinem Leben hinter der Gartenstadt. Die Angst davor, sich nie zu verlieben. «Auf Xanax vergisst du alles, was vorher war, und alles, was nachher kommt», sagt Timo. «Du fühlst nur den Moment.»

Im Wartehäuschen der Tramhaltestelle Neuewelt ist es spät geworden. Ein paar Freunde von Piero, Timo und Luca sind aufgetaucht und fordern die drei auf, sie sollen zurück zur Party kommen. Die drei wollen aufbrechen, verabschieden sich hastig. Eine letzte Frage noch. Was habt ihr für Ziele im Leben?

Timo: «Eine WG mit den besten Freunden.»

Piero: «Automechaniker.»

Luca: «Ich habe einen Sohn. Ich bin 15 und habe einen Sohn. Aber ich fühle nichts. Es ist mir egal.»

 

* Namen geändert

Info: Der Artikel ist in «Die Zeit» Nr. 52/2019 erschienen.

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