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Jugend

Auch Kinder leiden unter Corona

Volle Sprechstunden bei der Erziehungsberatung Biel, steigende Beratungszahlen bei Pro Juventute und Jugendliche, die sich ihrer Jugend beraubt fühlen: Die Pandemie wirkt sich auch auf die ganz Jungen in unserer Gesellschaft aus.

170 Prozent mehr Chatberatungen bei Pro Juventute: Die Pandemie hat auch Auswirkungen auf das seelische Befinden von Kindern und Jugendlichen (Symbolbild). copyright: keystone

 

Sarah Zurbuchen


Der achtjährige Alexander* kommt im Sommer 2019 mit seinen Eltern in die Schweiz. Er ist ein ruhiger, schüchterner Bub. Doch nach ein paar Monaten in der Schule beginnt er, sich gegenüber seinen Kameraden zu öffnen und macht im sozialen Bereich grosse Fortschritte. Dann kommt der Lockdown. Die Familie lebt isoliert und zurückgezogen, Alexander hat wochenlang kaum Kontakt mehr zur Aussenwelt. Als die Schulen wieder öffnen, fällt er in alte Muster zurück. Er entwickelt soziale Ängste und Trennungsängste, hat jeden Morgen Bauch- oder Kopfweh und will nicht zur Schule. Schliesslich sind die Eltern so verzweifelt, dass sie sich an die Erziehungsberatung in Biel wenden.
«Der Lockdown mit Fernunterricht hat für manche Kinder und Jugendliche einen Rückschritt bedeutet», sagt Daniela Bleisch Papini, Co-Leiterin der Erziehungsberatung in Biel. Gerade in Familien, die vielleicht schon vorher belastet waren, habe sich die Situation oft noch verschärft.
 So verschlimmert sich auch bei der 17-jährigen Anna* die Gemütslage zusätzlich. Sie leidet unter einem geringen Selbstwertgefühl, ist der Meinung, sie werde ausgelacht und sei sozial nicht akzeptiert. Im Lockdown zieht sie sich immer mehr zurück und verschliesst sich. Auch ihre Eltern finden keinen Zugang mehr zu ihr. Nach dem Lockdown gestaltet sich die Rückkehr in die Schule sehr schwierig. Im Kontakt mit der Erziehungsberatung zeigt sich, dass die junge Frau eine depressive Symptomatik entwickelt hat und Suizidgedanken hegt.


Schule gibt Halt


«Solche und andere Beispiele verdeutlichen, wie ausserordentlich wichtig die Rolle der Schule ist», sagt die Kinder- und Jugendpsychologin. Schule gebe den Kindern Struktur, Orientierung und sozialen Halt. Sie hofft deshalb auch, dass es nicht zu einer zweiten Schliessung der Bildungsstätten kommt.
Für viele Eltern und ihre Kinder, die auf der Erziehungsberatung Hilfe suchten, sei der Wechsel vom Fernunterricht zurück in die Normalität steinig gewesen, so Bleisch. «Unsere Sprechstunden waren und sind bis heute gut besucht.» Ungesunde Verhaltensmuster hätten sich im Lockdown noch verstärkt, und gewisse Kinder oder auch Elternteile seien geschwächt aus dieser Phase herausgekommen. «Zusätzlich warteten nach dem Lockdown wieder Herausforderungen des Alltags, gespickt mit Sorgen um Zukunft,  Finanzen oder Gesundheit», sagt Daniela Bleisch Papini.


Dass die Schulen unbedingt offenbleiben müssen, dafür setzt sich auch die Pro Juventute ein. Die Stiftung hat eine Petition lanciert mit der Forderung, dass «alle Einrichtungen der Kinderbetreuung sowie die obligatorischen Schulen so lange wie möglich offenbleiben». Die Jugendorganisation bietet Beratungen auf verschiedenen Kanälen wie etwa via Telefon oder Chat an und hat dadurch einen vertieften Einblick in die Gemütslage der jungen Generation.
Lulzana Musliu von Pro Juventute betont die Bedeutung der Schule als ein Ort des sozialen Austauschs. Und: «Schulen übernehmen die Aufgabe eines Frühwarnsystems und spielen deshalb eine wichtige Rolle, wenn es um die seelische Befindlichkeit eines Kindes geht.» Es habe sich gezeigt, dass Kinder in Folge der Schulschliessungen öfter unter häuslicher Gewalt litten. Auch auf die Lernerfolge habe Fernunterricht einen negativen Einfluss. Sie führten gerade bei Kindern, die zuhause wenig Unterstützung erhalten, zu Bildungslücken.


Kein Geld für die Jungen


Auf den verschiedenen Beratungskanälen der Stiftung widerspiegeln sich die Themen, die Kinder und Jugendliche derzeit beschäftigen. Frappant: Die Chatberatungen haben dieses Jahr zwischen März und August um 170 Prozent zugenommen (im Vergleich zur Vorjahresperiode). Anfragen zum Themenkomplex Freunde verlieren haben sich um 153 Prozent gesteigert, und auch das Selbstwertgefühl, Konflikte in der Familie und Gewalt daheim beschäftigen die Kinder stark (siehe Infobox).
Angesichts der grossen Nachfrage an Hilfestellungen und Beratungen – es sind täglich rund 600 junge Menschen, die sich schweizweit melden – sei sie enttäuscht über einen kürzlichen Entscheid des Ständerats, sagt die Pro-Juventute-Mitarbeiterin. So hat dessen Finanzkommission letzte Woche den Kredit für den Kinder- und Jugendschutz nicht erhöht, wie ursprünglich vom Nationalrat vorgeschlagen. Es ging um eine Aufstockung des Budgets von 1,1 auf 1,5 Millionen Franken. Laut Lulzana Musliu sind die meisten Jugendlichen solidarisch und halten sich an die Verhaltensregeln der Regierung. «Die Politik ist aber nicht solidarisch mit ihnen.» Dass man bei Kenntnis der Faktenlage und angesichts der grossen Hilfsgelder, die aktuell für andere Bereiche gesprochen werden, bei den Schwächsten spare, findet sie störend.  


Drang nach Freiheit


Eine weitere Auswirkung des Lockdowns betraf das Bedürfnis von Kindern, sich mit anderen physisch zu treffen, wie die Jugendarbeiterin Andrea Wampfler berichtet. Sie arbeitet bei der Kinder- und Jugendfachstelle Brügg und Umgebung und leitet den Jugendtreff in Orpund. Die Kinder hätten nach dem Lockdown eine grosse Lust auf Interaktion gehabt. «Freundschaften und Kontakte hatten plötzlich einen höheren Stellenwert.» Sie und ihre Teamkolleginnen haben auch beobachtet, dass Kinder und Jugendliche im Lockdown das Gamen und die Nutzung von Socialmedia bald mal zur Genüge praktiziert hatten. «Danach freuten sie sich umso mehr auf reelle Kontakte.» Doch noch würden sich die Nachmittage im Jugendtreff stark von früher unterscheiden. «Die Kinder müssen sich vorher anmelden, und Körperkontakt ist untersagt.» Dass man sich zur Begrüssung oder zum Abschied nicht die Hand geben dürfe, führe zu einem flüchtigeren Kontakt. Das Händeschütteln habe einen Moment bewusster Begegnung eingefordert, eine gewisse Achtsamkeit dem anderen gegenüber.  


Jugendliche tun sich besonders schwer mit den sozialen Einschränkungen durch die Pandemie, wie die Jugendarbeiterin ausführt: Ihnen fehle eine gewisse Unbeschwertheit, sich frei mit anderen zu treffen, Partys zu feiern und über Räume zu verfügen, wo sie unkompliziert zusammensein können. Wampfler: «Es gibt Jugendliche, die uns sagen, ihnen werde die Jugend geraubt.» Das beobachtet auch die Erziehungsberaterin: «Jugendliche wollen alles andere, als mit den Eltern zuhause rumhocken», so Bleisch. Entwicklungsbedingt seien diese im Prozess der Ablösung, nach aussen orientiert und daran, die Weichen für die berufliche Zukunft zu stellen.  
*Namen von der Redaktion geändert.

 

Hilfe für Eltern, Jugendliche und Kinder

  • Mütter- und Väterberatung Kanton Bern (für Kinder bis 5 Jahre): www.mvb-be.ch.
  • Schulkinder und ihre Eltern können sich an die Schulsozialarbeit an der betreffenden Schule wenden.
  • Erziehungsberatung Biel: www.erz.be.ch; 031 636 15 20 (Sprechstunden werden rasch, innerhalb von 1-2 Wochen vermittelt).
  • In Notfällen: Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Biel. www.upd.ch; 032 328 66 99.
  • Für Kinder und Jugendliche: www.147.ch: Angebot der Pro Juventute. Beratungen via Telefon, E-Mail, Chat oder SMS. Jugendliche dürfen sich auch selbst bei der Erziehungsberatung Biel (siehe oben) anmelden oder über www.frageinfach.ch mit einer beratenden Person in Kontakt treten.
  • Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Nummer 143. sz

 

Freunde, Selbstwert, Konflikte und Gewalt
Beratungen und Themen bei Pro Juventute: Zeitraum März bis August im Vergleich zur Vorjahresperiode.
+153 %: Freunde verlieren
+81 %: Freunde finden
+70 %: Selbstwert
+47 %: Konflikte mit Eltern
+44 %: Gewalt in der Familie
+41 %: Einsamkeit
+23 %: Krisen/Hilfe
+16 %: Angst
+14 %: Psychische Erkrankung
+8,5 %: Suizidgedanken
+7 %: Sich Sorgen machen um Familienmitglieder
+5 %: Streit mit Freunden
-46 %: Mobbing
Zunahme von Beratungen via Chat um 170 %.

 

Und so geht es den Eltern mit der Pandemie

Eltern haben den Lockdown im Frühling unterschiedlich erlebt. Es kam zu Überforderungen, aber auch zu Aha-Erlebnissen.

Während des Lockdowns im Frühling, als Schülerinnen, Eltern und Lehrer innerhalb weniger Tage auf Fernunterricht umstellen mussten, haben sich zwei Seiten der Medaille gezeigt. «Die einen haben den Fernunterricht positiv erlebt, andere waren überfordert», sagt Daniela Bleisch Papini, Co-Leiterin der Erziehungsberatung in Biel. So haben die Mitarbeitenden der Erziehungsberatung festgestellt, dass gerade Alleinerziehende oder auch Eltern, die bereits vorher stark in Anspruch genommen waren, unter der Situation litten. «Wer vielleicht kleine Kinder hatte, berufstätig war und den Grösseren noch beim Fernunterricht helfen musste, kam definitiv an seine Grenzen», sagt Bleisch. Denn im Lockdown seien auch entlastende Tagesstrukturen weggefallen, hilfeleistende Fachstellen hätten ihr Angebot reduziert. Das Resultat sei teilweise eine gereizte Stimmung gewesen, die in psychischen Krisen, Suchtverhalten bei den Eltern oder Konflikten auf Paarebene eskaliert sei.


Daniela Bleisch schickt voraus,  dass die Erziehungsberatung diesbezüglich ein verzerrtes Bild habe, weil sie meistens mit Menschen mit Belastungen konfrontiert sei. Sie weiss aber auch von Situationen, in welchen der Lockdown zu positiven Erfahrungen geführt hat. So hätten sich einige Eltern entlastet gefühlt: «Sie mussten nicht mehr pendeln, Termine fielen weg, es gab keinen Freizeitdruck mehr.» Viele fühlten sich entschleunigt. Und sie hätten ihre Kinder besser kennengelernt. «Mütter und Väter erhielten einen unmittelbaren Einblick in ihr Lernverhalten, sahen vielleicht auch, wo es Konzentrations- oder Verständnisprobleme gibt», so die Erziehungsberaterin. Die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrerschaft sei dadurch gestärkt worden.


Die Kinder- und Jugendpsychologin rät Eltern in der momentan angespannten Zeit, ihre Kinder auf Verhaltensänderungen zu beobachten. Geht es dem Kind gut? Oder ist es plötzlich oft traurig, ängstlich oder wütend? In einem solchen Fall gibt es verschiedene Stellen, die Unterstützung anbieten (siehe Auflistung weiter oben).
Kleinen Kindern gäben Rituale starken Halt und Sicherheit, sagt sie. Und: «Die Kinder sollten auch weiterhin ihre sozialen Kontakte zu älteren Familienmitgliedern pflegen dürfen.» Hier sei Kreativität gefragt, so könnten Grosseltern und Kinder einen gemeinsamen Spaziergang unternehmen, sich am Fenster oder Gartenzaun treffen oder via Videochat miteinander kommunizieren.


Auch gelte es, mit den Kindern Lösungen zu erörtern bezüglich der Corona-Verhaltensregeln. Kinder bräuchten natürlich soziale Kontakte und Spielkameraden. Aber man könne den Kreis etwas einschränken, sodass sich immer dieselben treffen. Eltern und Kinder sollen auch besprechen, wo diese Treffen stattfinden, zum Beispiel im Wald oder auf dem Spielplatz, auf dem Dorfplatz oder im Stadtzentrum. Kinder, die normalerweise einen Sportverein besuchen, könnten sich auch regelmässig zum Fussballspielen treffen, so Bleisch. «Wichtig ist, solche Sachen zusammen mit den Kindern zu diskutieren und auszuhandeln, um schliesslich verbindliche Regeln aufzustellen.» Bei Jugendlichen spielten ausserdem die Sozialen Medien eine grosse Rolle, denn auch über das Handy würden viele Kontakte gepflegt. «Dies grundsätzlich zu verteufeln, ist gerade in der aktuellen Situation falsch.»

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