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Gesundheitswesen

Carrel plaudert aus dem Nähkästchen

Der bekannte Herzchirurg Thierry Carrel sieht bei der Digitalisierung noch Luft nach oben. Etwa wenn er nach einer OP 18 Blätter ausfüllen muss, wie er an einer Fachtagung in Lyss ausführte.

Thierry Carrel hat mit der Benutzerfreundlichkeit der IT manchmal seine liebe Mühe. copyright: Raphael Schaefer

Sarah Zurbuchen

«Entschuldigen Sie meine Aufmachung, aber wegen fehlender Busverbindungen musste ich das E-Bike nehmen, um von der Insel hierhin zu fahren. Falls es Sie interessiert, Herr Gemeindepräsident: Die Fahrt dauert 35 Minuten.» Der Herzchirurg Thierry Carrel steht im T-Shirt auf der Bühne des Berufs- und Weiterbildungszentrums Lyss BWZ. Unerwartet leger und ungezwungen sind auch seine Worte anlässlich der Fachtagung «Digitalisierung im Gesundheitswesen».

Seinen ersten Computer, einen Mac, hat Carrel 1984 gekauft. Seit damals hat sich viel verändert. Patientenakten auf Papier zum Beispiel gehören der Vergangenheit an. Heute kann der Arzt die Daten während der Operation auf seinen Bildschirm holen und auch andere wichtige Informationen wie Angaben über Implantate auf dem Monitor einblenden lassen.

Anlässlich der Fachtagung dürfen Interessierte eine weitere digitale Errungenschaft ausprobieren: Auf einem Bildschirm erkennt man, ob während einer Herzmassage an einer Puppe der Druck genügend stark ist.

Der Herzchirurg erzählt aus seinem Berufsalltag: Heute ist es möglich, eine künstliche Aortenklappe zuerst digital zu erstellen, um dann ebenfalls digital auszumessen, ob sie dem Patienten auch wirklich passt. Auch für die minimal-invasive Knopfloch-chirurgie gibt es spezielle Programme, mit denen Auszubildende üben können. «Dabei geht es um die Simulation der visuellen und haptischen Modalitäten, das braucht sehr viel Training», so Thierry Carrel.

 

Datenvolumen überschritten
Aber, betont der Arzt, Digitalisierung bringe nur etwas, wenn sie die Arbeit erleichtere. Benutzerfreundlichkeit sei eine Kernanforderung. Es gehe nicht an, dass er irgendwo in der Schweiz einen Vortrag vorbereiten wolle und dann mit der Meldung «Datenvolumen von 10 GB überschritten» abgeklemmt werde. Zwei Tage habe er warten müssen, bis der Anbieter ihm 20 GB gab, die er natürlich bezahlen musste. Oder dass er sich im Portal seines Arbeitgebers, der Insel Bern, einloggen will, und die Meldung erhalte: «Zugriff Inselportal verweigert».

Die IT müsse das liefern, was der Nutzer brauche. Und dabei äussert er gleich noch seine Wünsche an IT-Supporter: Gesprächsbereitschaft und Benutzerfreundlichkeit, Planungsunterstützung und ganz dringend: eine Lösung in Sachen Passwörter, zum Beispiel durch Gesichtserkennung. «Ich kann mir die vielen Passwörter gar nicht mehr alle merken.»

 

Manueller Operationsplan
Dass in der heutigen Zeit auch Unternehmen wie das Inselspital noch nicht auf dem aktuellsten Stand sind, demonstriert der Herzchirurg anhand einer Fotografie, die gross an die Wand projiziert wird: Darauf zu sehen ist ein Blatt Papier mit von Hand gezogenen Linien, Klebern und Einträgen. «Das ist unser Operationsplan», sagt er und switcht zum nächsten Bild. Dieses zeigt diverse Formulare in allen Farben: 18 Blätter muss der Arzt nach jeder Operation ausfüllen. «Wie ist das möglich im Jahr 2018?», fragt er.

Der ebenfalls anwesende Uwe Jocham, Direktionspräsident der Inselgruppe, bestätigt, dass es in diesem Bereich noch viel zu tun gibt. «Wir müssen Digital Natives und Digital Immigrants zusammenbringen, das erfordert Zeit.» Die Insel beherberge 500 verschiedene IT-Systeme. «Das ist nicht einheitlich, weil es historisch gewachsen ist», erklärt er. Jocham bezeugt seinen Willen, Verbesserungen herbeizuführen. «Mit weniger Outsourcing und mehr Kernkompetenzen im eigenen Haus.»

 

Und der Patient?
Auch die Arzt-Patienten-Beziehung wird im Zuge eines immer digitalisierteren Gesundheitswesens ein Thema sein. «Ist der Patient Nutzniesser oder Opfer?», fragt Carrel. Ein Gerät brauche immer auch eine gewisse Aufmerksamkeit, was eine Barriere zwischen Arzt und Patient schaffen könne.

Die Zukunft hat also noch viel Potenzial, was die Digitalisierung betrifft. Ein Blick nach vorne wirft denn auch Thierry Carrel: Entwickler seien bereits daran, ein Handy zu entwickeln, das den Blutzucker bestimmen kann. Die Entwicklungen gingen immer mehr in Richtung intelligente Computer. So sei es durchaus möglich, dass in Zukunft ein Gerät den Gesundheitszustand einer Person analysieren könne und dieser mitteile, ob sie «in den Notfall muss oder sich zuhause gemütlich einen Whisky gönnen kann». Letzteres kann Thierry Carrel auch bald. Doch zuerst muss er noch 35 Minuten E-Bike fahren, ganz analog und ohne Simulation.

 

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Die Fachtagung

«Digitalisierung im Gesundheitswesen»: Unter diesem Titel lud das BWZ Lyss zu einem gut besuchten Fachanlass. Die Besucher hatten die Möglichkeit, selber in eine digitale Erlebniswelt einzutauchen. So schwärmten viele vom virtuellen Flug über New York und mancher Gast stieg fasziniert aus dem Elektromobil von Enuu. Prominente Gäste waren Herzchirurg Thierry Carrel, Gemeindepräsident Andreas Hegg (FDP), Rudolf Eicher vom HIV Lyss-Aarberg, BWZ-Rektor Bernhard Beutler, Regierungsrätin Beatrice Simon (SVP), Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (SVP), Uwe Jocham, Direktionspräsident der Insel Gruppe und Martin Kathriner (Samsung Schweiz). sz/mt

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