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Samstagsinterview

«Das Image als ‹Göttin in Weiss› stört schon jetzt»

Angehende Ärztinnen und Ärzte werden schon früh mit einem speziellen Status, mit langen und ungünstig gelegenen Arbeitszeiten oder mit Trauer und Tod konfrontiert. Für Carolyn Graber aus Pieterlen ist das Studium, das sie nach langer Sommerpause eben erst wieder aufgenommen hat, dennoch der Weg zum Traumberuf.

Medizinstudentin Carolyn Graber aus Pieterlen. Foto: Peter Samuel Jaggi

Interview: Bernhard Rentsch

Carolyn Graber: Wie oft wurden Sie schon als Frau Dr. Graber angesprochen?
Carolyn Graber: Tatsächlich schon einige Male, in der Regel aber aus Spass, vor allem in der Familie.


Wie wirkt das bei Ihnen?
Es kommt darauf an, wer sich diesen Spass erlaubt. Innerhalb der Familie ist es mir egal. Es gibt aber andere, die das mit einem unangenehmen Unterton aussprechen. Das habe ich nicht so gerne.


Ist es Neid oder ist es Misstrauen gegen Ihren künftigen Beruf?
Angesprochen wird wohl am ehesten das Image.


Sie meinen die landläufige Bezeichnung als «Götter in Weiss»?
Ja genau, das stört mich. Ich bin ja erst am Anfang, da bin ich noch weit weg von irgendwelchen Bildern oder Images.


Vor zwei Wochen nahmen Sie nach erstmaliger langer Semesterpause das Studium wieder in Angriff. Haben Sie sich gefreut oder war der Wechsel nach der Pause schwierig?
Ich habe mich sehr gefreut. Ich habe den ganzen Sommer gearbeitet. Die Tätigkeit im Service auf den Bielerseeschiffen machte Spass und die regelmässige Entlöhnung für die Arbeit ist für Studenten ungewöhnlich. Es wurde aber dennoch Zeit, mich wieder meiner Ausbildung widmen zu können.


Was erwartet Sie an Neuem/Speziellem im zweiten Studienjahr?
Soeben haben wir mit dem Präparierkurs angefangen. Das aktive Arbeiten an menschlichen Körpern ist neu und speziell. Ich finde das sehr interessant. Im ersten Studienjahr war vorerst Vieles «nur» Theorie.


Die Tatsache, dass Sie dabei an Leichen hantieren, belastet Sie also nicht
Ich kann gut abgrenzen, dass es sich um verstorbene Menschen handelt. Wir bekommen die Menschen als Ganzes oder insbesondere deren Gesichter nicht zu sehen. Damit steht das Handwerkliche im Vordergrund.


Sie haben den grossen Anteil an Theorie in Ihrem Studium erwähnt. Ist es schwierig, sich so viel Wissen anzueignen, vorerst ohne dies in der Praxis anwenden zu können?
Grundsätzlich finde ich die Theorie sehr interessant, auch wenn man mit dem Auswendig-Lernen schon an die Grenzen kommt. Auf die praktische Arbeit freue ich mich aber sehr.


Sie wissen schon heute, dass Sie in Ihrem beruflichen Alltag nicht alles wissen und beherrschen können. Die Erwartungen an eine Ärztin sind dennoch sehr hoch. Wie gehen Sie mit dieser Erwartungshaltung um?
Damit befasse ich mich noch nicht. Ich versuche, in den kommenden fünf Studienjahren so viel wie möglich mitzunehmen. Ich profitiere von der breiten Grundausbildung. Ich muss mich nun noch sehr lange nicht konkret für eine Berufsrichtung oder Spezialisierung entscheiden.


Das Medizinstudium dauert sehr lange. Nach der sechsjährigen Grundausbildung folgt eine mehrjährige Assistenzzeit. Sie sind über 30 Jahre alt, wenn Sie in die Berufstätigkeit einsteigen. Macht Ihnen diese Zeitdauer keine Angst?
Ich habe mir aus diesem Grund lange überlegt, ob ich überhaupt Medizin studieren will. Die Gedanken an Vereinbarkeit mit Familie und Freizeit waren bei der Entscheidfindung schon sehr präsent. Lange und unbequem liegende Arbeitszeiten sind ein Argument, das gut abgewogen werden muss.


Dennoch haben Sie sich für das Medizinstudium entschieden. Wie kam es dazu?
Während der Gymerzeit war ich lange unentschlossen. Ich habe mich über verschiedene Studienrichtungen informiert, konnte mich aber für nichts entscheiden, das während vielen Jahren mein Leben prägt. Dabei hatte ich keine fixe Vorstellung vom Arztberuf. In meiner Familie oder in meinem persönlichen Umfeld gibt es keine Ärzte. Schliesslich konnte ich mir dennoch nichts anderes mehr vorstellen.


Es war also nicht der nicht wegzubringende Kindheitstraum, Ärztin zu werden?
So stark wie bei andern nicht. Er war viel mehr eine Entscheidung während der Gymerzeit. Als Kind wollte ich ursprünglich Tierärztin werden. Da war die heutige Berufswahl also doch schon im Hinterkopf.


Dann der Numerus clausus, die Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium: Von jährlich über 6000 Interessenten werden gesamtschweizerisch nur etwas über 2000 Studierende zugelassen. Eine hohe Hürde, an der viele scheitern.
Ja, das gilt auch für mich. Nach der Matur versuchte ich es erstmals, bestand aber die Prüfung nicht. Ich war dann in einem Zwischenjahr in verschiedenen Jobs tätig und machte eine kurze Auslandreise. Beim zweiten Mal klappte es schliesslich.


Finden Sie es sinnvoll, eine so hohe Eintrittshürde aufzubauen?
Angesichts der teuren und betreuungsintensiven Ausbildungsplätze verstehe ich die Zulassungsbeschränkung. Die Art der Prüfung finde ich aber nicht so gut. Im Test wird die Eignung für das Studium gar nicht geprüft. Die menschliche Komponente spielt gar keine Rolle.


Erinnern Sie sich an den Moment, als Sie nach der zweiten Prüfung den positiven Entscheid erfahren haben?
Ja, sehr genau. Ich hatte mich auf eine negative Antwort eingestellt. Eine Einschätzung nach dieser Prüfung ist nicht möglich – man kann unmöglich alle Aufgaben lösen und hat keine Ahnung, ob man richtig liegt. Ich schützte mich vor einer allzu grossen Enttäuschung. Umso grösser war dann natürlich die Freude.


Durch diese strenge Auswahl gehört man zu einer selektionierten Elite. Merken Sie im Alltag, dass ein Medizinstudium nach wie vor als etwas Spezielles gilt?
Bei einzelnen Begegnungen ist es schon so. Es gibt Menschen, die sehen in einem bereits die zukünftige Ärztin. Ich habe das gar nicht gerne. Was würden diese Menschen von mir denken, wenn ich nicht Medizinstudentin wäre?


Der Druck im Studium, sich halbjährlich bestätigen zu müssen, um weiterfahren zu können, ist bei Ihnen nach der strengen Selektion zu Beginn nicht extrem hoch. Merken Sie das?
Ich finde das so tatsächlich ideal. Ausruhen kann man sich zwar nie, die Prüfungsanforderungen während dem Studium sind aber klar definiert und man kann sich darauf vorbereiten.


Irgendeinmal kommen Sie mit Patientinnen und Patienten in Kontakt, die hohe Erwartungen an Sie als Ärztin haben. Wie gehen Sie mit diesem Druck um?
Die hohen Erwartungen machen mich schon ein wenig nervös. Bei Spitalbesuchen bei Verwandten habe ich gesehen, was vom medizinischen Personal verlangt wird. Ein Nichtwissen wird einer Ärztin nicht verziehen. Eine Garantie auf Gesundung gibt es aber für niemanden.


Sie müssen dabei auch mit schwierigen Situationen und mit in dieser Situation schwierigen Menschen umgehen. Haben Sie damit bereits Erfahrung gemacht?
Soeben habe ich einen Monat als Praktikantin im Spital absolviert. Ich kenne also die Realitäten. Weil ich aber für die Situation der Patienten Verständnis habe, kann ich mit diesen kritischen Haltungen umgehen. Da habe ich viel Geduld. Mehr Mühe habe ich, wenn Kunden während ihren Freizeitaktivitäten auf dem Schiff gegenüber dem Servicepersonal motzen.


Sie werden auch mit dem Scheitern und mit dem Tod konfrontiert. Wie gehen Sie damit um?
Momentan ist dieses Thema noch sehr theoretisch. Ich gehe sehr rational damit um: Es gibt Situationen, in welchen es keinen Sinn macht, das Leben zu erhalten. Ich weiss aber, dass mir dies in der direkten Konfrontation damit nicht mehr so leicht fallen wird. Das wird mich wohl ziemlich beschäftigen, das muss ich zuerst lernen.


Sie haben das lange Studium und die Arbeitszeiten angesprochen. Man kennt die Präsenzzeiten der Assistenzärzte in Spitälern. Hat sie dies nicht abgeschreckt?
Nein, die Assistenzarzt-Zeit nicht, das ist eine absehbare Phase von fünf Jahren. Da ist mir klar, dass dies praktisch mein ganzes Leben ausfüllen wird. Ich habe mehr Respekt von der danach nach wie vor erwarteten Verfügbarkeit fast rund um die Uhr. Das ist vor allem in den Spitälern so. Deshalb tendiere ich heute eher auf eine Tätigkeit mit geregelten Arbeitszeiten, zum Beispiel in einer Gruppenpraxis. Da gibt es auch Möglichkeiten der Teilzeitarbeit.


Gerade das ist aber heute ein Problem: Die Beschränkung durch den strengen Numerus clausus ist bereits eine strenge Rationierung künftiger Ärztinnen und Ärzte. Wenn dann viele «nur» Teilzeit arbeiten, gibt es noch weniger Fachpersonal. Im Hausarztbereich spricht man gar von einem Ärztemangel. Ihre Planung hilft dabei nicht weiter, dessen sind Sie sich bewusst?
Ja, das Problem ist mir bekannt. Ein Dozent hat uns aufgezeigt, dass es in der Schweiz mit den zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätzen sehr wohl genug Ärztinnen und Ärzte gäbe, dass aber die Verteilung der Arbeitsplätze und Pensen nicht stimme.


Und?
Ich möchte Ärztin werden und daneben ein «normales» Leben führen. Ich werde also sicher auch verschiedene Möglichkeiten prüfen.


Meldet sich da mit Blick auf den erwähnten Ärztemangel so etwas wie schlechtes Gewissen?
Noch nicht – momentan überwiegt noch das privilegierte Denken, dass ich mir nie Sorgen um einen Arbeitsplatz machen muss.


Als Studentin verzichten Sie auf ein regelmässiges Einkommen. Fällt Ihnen das schwer?
Nein, zumal mein engstes Umfeld fast nur aus Studentinnen und Studenten besteht. Wir haben alle nicht viel Geld. Wenn ich aber früheren Schulkolleginnen und Schulkollegen begegne, die nach abgeschlossener Lehre bereits mitten im Berufsleben stehen und zum Teil schon Familien habe, ist das schon krass.


Dafür haben Sie Aussichten auf einen höheren Verdienst? War dies mitentscheidend für Ihre Berufswahl?
Natürlich ist das ein Faktor, in meinem Fall aber nicht der entscheidende.


Sie erwähnten, dass Ihnen noch alle Fachrichtungen offenstehen. Trotzdem haben Sie sicher bereits erste Entscheide gefällt. Wohin geht Ihre medizinische Zukunft?
Am ehesten möchte ich momentan Kinderärztin werden. Da wir aber noch gar nicht alle möglichen Fachrichtungen kennen, bin ich offen. Ich bin gespannt auf Praktika in Onkologie oder Chirurgie. Es ist gut denkbar, dass ich mich noch umentscheide.


Welches sind die grössten Herausforderungen der nächsten Jahre?
Ich merke, dass ich beim vielen Theorielernen rasch an meine Grenzen komme. Ich bin jetzt schon nach zwei Wochen im zweiten Studienjahr beim Lernstoff im Rückstand. Das tägliche Lernen belastet. Ich muss mir den Alltag sehr gut einteilen. Ich lerne bewusst nicht zu Hause, sondern in Bibliotheken. So kann ich mir beim Heimkommen etwas Freizeit ohne schlechtes Gewissen leisten.


Ein aktuelles Thema ist die Kostenexplosion im Gesundheitswesen mit immer steigenden Krankenkassenprämien. Beschäftigt Sie diese Entwicklung?
Nach einer einfachen Zeckenentfernung beim Arzt habe ich selber über die Höhe der Arztrechnung gestaut und mir Gedanken gemacht. Im Detail weiss ich aber über die Kostenverteilung noch zu wenig.


Worauf freuen Sie sich mit Blick auf Ihren künftigen Beruf besonders?
Auf die Zusammenarbeit mit den Patienten und so das Gefühl haben, etwas bewirken zu können.

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