Sie sind hier

Abo

Lyss

Eine Jugend ohne Meitschi

Wie war das früher mit dem Kennenlernen des anderen Geschlechts und dem Sex? Die Reihe Lysser «Gestern – heute» widmete dem Thema Sexualität einen Diskussionsabend.

Fred Wiedmer und Nikolas Egloff diskutieren mit Thomas Bickel (von links). Bild: Tanja Lander

von Andrea Butorin


Ungefähr in der zweiten Klasse habe er mit einem Meitschi darüber diskutiert, wo die Kinder wohl herkommen. Sie hätten sich darauf geeinigt, dass diese zum Bauchnabel rauskommen. Das Thema Sexualität wurde in Fred Wiedmers Kindheit nie offen diskutiert. Es gab höchstens Ahnungen oder diffuse Begierden, dem anderen Geschlecht nahe zu sein. Das gelang vielleicht das eine oder andere Mal im Spiel oder beim Schlitteln.
Der bald 72-jährige Wiedmer hat sich neben dem 24-jährigen Nikolas Egloff zur Verfügung gestellt, über das Thema Sexualität zu referieren. Seit drei Jahren existiert die Gesprächsreihe «Gestern – heute», die vom Seniorenrat Lyss und von der Kinder- und Jugendfachstelle Lyss und Umgebung organisiert wird (siehe Infobox).
Bisher wurden Themen wie Reisen, Freizeit, Kommunikation, Berufswahl und Ernährung generationenübergreifend diskutiert. Am Mittwochabend war es im intimen Rahmen der Kufa-Lounge und vor einem spärlichen Publikum der Sex.

Der erste Busen mit 17
Nikolas Egloff sagt, es stelle für ihn kein Problem dar, in der Öffentlichkeit über Sex zu sprechen, schliesslich lebten wir heute in einer übersexualisierten Gesellschaft.
Fred Wiedmers Jugend, die er in der Stadt Bern verbrachte, war dagegen alles andere als übersexualisiert. Beim Übertritt in die Sekundarschule sei es noch schlimmer geworden, denn da seien die Knaben und Mädchen nicht nur in verschiedenen Klassen, sondern gar in verschiedenen Schulhäusern untergebracht worden. «Dazu hatte ich noch das Pech, in einem Quartier zu wohnen, in dem es nur wenige Mädchen gab.» Das Pech zog sich bis in die Lehre, denn als Lithograf begegnete er ebenfalls kaum Frauen. Ausser während der Sommerferien, als ältere Schülerinnen in der Druckerei arbeiteten. «Das war wie Weihnachten», sagt Wiedmer.
 Als ein Schulkamerad ein amerikanisches Buch mitbrachte, das Sex und Beziehungen offen thematisierte, machte dieses in der ganzen Klasse die Runde. Wiedmer erinnert sich auch an «den ersten Busen», den er mit 17 im Kino gesehen hatte, und welch Ereignis Ingmar Bergmans freizügige Filme in der ganzen Gesellschaft waren.

Oben-ohne-Zwang im Marzili
«Wahnsinn, wie unterschiedlich unsere Jugendzeiten waren», sagt ein Mann aus dem Publikum. Er ist zwölf Jahre jünger als Wiedmer und ebenfalls in Bern aufgewachsen. 1968 zeigte seine volle Wirkung: «Wollte eine Frau damals im Marzili nicht oben ohne sünnele, so kam sie regelrecht unter Druck.» Die Zeit der Pille, der Hippies und der freien Liebe hat später auch Fred Widmer miterlebt, der ab Anfang 20 für einige Jahre auf verschiedenen Kontinenten lebte.
Thomas Bickel, Sozialpädagoge und Moderator des Anlasses, gehört neben einigen Zuhörern der Generation «Stopp Aids» an. Viele Vertreter nennen die Zeitschrift «Bravo» als wichtigste Aufklärungsquelle.
Zwar kannte auch Nikolas Egloff die «Bravo» noch. Er holte sich die nötigen Infos allerdings woanders:«Ich gehöre zur ersten Generation Internet.» Mit ein paar Klicks wurden alle Fragen beantwortet. Bei Egloff kamen die beiden älteren Brüder dazu, die Aufklärungsarbeit geleistet haben. Im selben Alter, in dem Wiedmer über die menschliche Herkunft sinnierte, wurde es bei Egloff beim «Dökterle» schon konkret. In der Oberstufe sei das Thema dann sehr ausgeprägt gewesen:«Die Jugendfachstelle war fast wöchentlich bei uns in der Klasse.» Dies allerdings nicht nur wegen der Sexualität, sondern auch wegen Drogen oder Mobbing.

«Wie hiess sie noch gleich?»
«Das erste Mal» war für Fred Wiedmer langersehnt und deshalb auch sehr besonders. Seine damalige Freundin und spätere Frau ist ihm nach Südamerika nachgereist, und für deren Eltern stand ausser Frage, dass Sex nur im Rahmen einer Ehe passieren darf. Anfang 20 heirateten die beiden. «Ab da fühlte ich mich als Mann», sagt Wiedmer.
Egloff war beim ersten Mal deutlich jünger. «Wie hiess sie noch gleich?Da müsste ich rasch auf Facebook nachschauen.» Kennengelernt hätten sie sich im «Knuddels Chat», und beim zweiten Treffen sei es dann passiert. Das erhabene Gefühl, nun ein Mann zu sein, habe sich danach nicht eingestellt.
Nahtlos geht das moderierte Gespräch in eine offene Runde weiter. Die jüngeren Anwesenden interessieren sich etwa dafür, welche Stellung Paare früher gehabt haben, die unverheiratet zusammenlebten, oder wie schwierig es für unverheiratete Frauen war, die schwanger wurden.
Auch das Thema Verhütung vor der Erfindung der Pille kommt zur Sprache. Wiedmer erinnert sich, dass es in einem einschlägigen Lokal in der Altstadt einen Automaten mit Präservativen gab und sagt lachend: «Im Fall der Fälle hätte ich den Weg in die Altstadt gern unter die Beine genommen.»

*****

Die Organisatoren
Der Seniorenrat Lyss plant kulturelle und gesellschaftliche Anlässe sowie Projekte. Er ist als Fachgruppe der Abteilung Soziales organisiert.
Die Kinder-und Jugendfachstelle Lyss und Umgebung ist eine neutrale Begleit- und Beratungsstelle, die auch Präventionsarbeit leistet. Sie ist auf jugendspezifische Themen wie Geldfragen, Beziehungen, Liebe, Sexualität, Gewalt, Drogen, Sucht, Schul- und Ausbildungsprobleme sowie Familienkonflikte spezialisiert.

Nachrichten zu Seeland »