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Serie Mein Montag

Er malt Bilder, die aus dem Herzen kommen

Durch einen bewaffneten Raubüberfall hat der Orpunder Marco Turro alles verloren. Nach Jahren am Rand des Abgrunds hat er wieder zurück ins Leben und zu sich selber gefunden. Dank Therapien und dem Glauben.

Marco Turro inmitten seiner Bilder. Heute ist die Kreativität ein wichtiger Bestandteil seines Lebens geworden, das zuvor die Arbeit dominiert hatte. Nico Kobel
  • Dossier

Aufgezeichnet: Brigitte Jeckelmann


«Als ich nicht mehr weiter wusste, habe ich mich selber in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Ich war am Ende: Arbeit verloren, Ehe zerbrochen und gesundheitlich angeschlagen. Mein Selbstwertgefühl war zerstört und ich hatte keinen Boden mehr unter den Füssen. Ich fühlte mich, als ob ich zwei verschiedene Personen wäre: Es gab einen Marco vor dem Ereignis und einen danach. Ich wollte aber wieder der sein, der ich einst war. Damals, vor dem Raubüberfall vor elf Jahren.


Ich war als Verkaufsleiter einer grossen Uhrenfirma zu einem Kundenbesuch in Genf. Die Täter passten den Moment ab, als man mir die Tür des Geschäfts öffnete, das teure Uhren verkaufte. Plötzlich waren mehrere bewaffnete Männer mit mir im Laden. Einer richtete seine Pistole direkt auf mich. Man schleifte uns, die Verkäuferinnen und mich, in einen hinteren Raum. Wir mussten uns bäuchlings auf den Boden legen.


In Todesangst, mit dem Gesicht nach unten, die Täter mit der Waffe im Rücken, verliess die Seele meinen Körper. Ich sah auf mich hinunter, sah mich auf dem Boden liegen und verabschiedete mich. Das war dann später das Problem: Körper und Seele wieder zu vereinen. Nach einer Viertelstunde rückte die Polizei mit Sirenengeheul an. Einen der Banditen erwischten die Polizisten, die anderen konnten mit der Beute entkommen.


Ich stand unter Schock. Doch das war mir damals nicht bewusst. Noch am selben Tag besuchte ich den nächsten Kunden. Ich machte weiter, als ob nichts geschehen wäre. Dabei war nichts mehr wie zuvor. Ich verdrängte die Todesangst, die sich in den 15 Minuten auf dem Boden des Genfer Geschäfts tief in mir festgesetzt hatte. Mein Unterbewusstsein verdrängte diese Angst und dadurch veränderte sich mein Verhalten. Ich fühlte mich bedroht und reagierte in bestimmten Situationen mit Aggressivität. Im Geschäft vertrug ich mich nicht mehr mit meiner neuen Vorgesetzten und zuhause scheiterte die Ehe dann vollends, obwohl sie schon zuvor gekriselt hatte. Von einem Tag auf den andern war ich meinen Job los. Dann folgte die Scheidung. Das Schlimmste war, dass ich meine beiden Töchter während Monaten nicht mehr sehen durfte. Doch es sollte noch übler kommen. Zunächst diagnostizierten die Ärzte in der psychiatrischen Klinik eine posttraumatische Belastungsstörung, ausgelöst durch den Raubüberfall. Mit der lösungsorientierten Maltherapie musste ich mich so lange mit der Todesangst auseinandersetzen, bis ich aufhörte, sie zu verdrängen. Alle aufgestauten Gefühle kamen wie ein Wasserfall aus mir heraus, auch jene aus den Jahren der Ehekrise. Die Therapie öffnete das Ventil. Nach dreieinhalb Monaten konnte ich die Klinik verlassen. Aber danach wurde mir so richtig bewusst, dass ich vor dem Nichts stand: Ohne Job, ohne Familie. Ich fiel in eine Depression, die mich oft tagelang ans Bett fesselte. Eines Tages fand ich mich in einer Wohnung in einem schäbigen Bieler Quartier wieder mit nichts als einer Matratze und lebte unter dem Existenzminimum. Die Ärzte gaben mir Medikamente, die nicht halfen.


Die Wende kam, als ich wütend wurde – auf mich selbst. Ich war Opfer eines Raubüberfalls. Aber ich hatte endgültig genug von der Opferrolle, wollte mein Leben wieder selber in die Hand nehmen und setzte die Medikamente ab. Durch die IV kam ich zur Gewa. Die Zollikofer Stiftung unterstützt Menschen mit psychischen Schwierigkeiten, in der Arbeitswelt Fuss zu fassen. Die Gewa vermittelte mir ein Praktikum bei einem Motorradhändler. Dieser liess mich ein Projekt auf die Beine stellen. Der Kundenkontakt hat mich aufleben lassen und dass ich für mein Projekt kämpfen musste, hat mir gutgetan. Obwohl man mir dann dort eine Stelle anbot, lehnte ich ab. Der geringe Lohn kam mir nach den goldenen Zeiten in der Uhrenbranche vor wie ein Almosen. So blieb nichts anderes übrig, als zu stempeln. Doch dann erinnerte ich mich an eine Therapie in der Klinik, die mich gelehrt hatte, mein Herz zu öffnen. Ich begann Bilder mit offenem Herzen zu malen ohne zu wissen, weshalb ich gerade diese Sujets wählte. Ich malte Frauenfiguren mit langen Haaren. Haare haben für mich eine spezielle Bedeutung. Als Bub nestelte ich vor dem Einschlafen immer in den Haaren meiner Mutter. Meine Bilder kommen alle aus meinem Innern, sie müssen mich berühren, sonst male ich sie nicht. Das Stelleninserat einer Haarkosmetikfirma in der Zeitung sah ich als Wink. Ich bewarb mich - und arbeite nun seit acht Jahren im Aussendienst in der Coiffeurbranche, die mir gut gefällt. Mein Leben habe ich wieder aufgebaut.


Für mich gelten heute aber andere Werte als zuvor. Der Job hat nicht mehr denselben Stellenwert. Es gibt ebenso wichtige Dinge, Freunde, Familie, Hobbys. Das Haus in Orpund, mit dem ich zusammen mit meiner Partnerin und ihrer Tochter lebe, habe ich selber umgebaut und eingerichtet. Ich arbeite gerne mit den Händen, liebe es, kreativ zu sein. Mein Traum ist, einmal davon leben zu können, obwohl ich keine Kunstschule besucht habe und kein Diplom in Innenarchitektur vorweisen kann. Ich lasse jeden Tag auf mich zukommen. Ob Montag oder Sonntag spielt für mich daher keine Rolle. Ich öffne mich für alles, was die Tage bringen, freue mich am Leben im Wissen darum, dass Gott für mich einen Plan hat und Jesus mir hilft, was immer auch kommen mag. Der Glaube hat mich auch in den schwersten Zeiten nie ganz verlassen und er hat dafür gesorgt, dass ich das Urvertrauen Stück für Stück wieder zurückgewinnen konnte.»

Stichwörter: Psyche, Therapie, Orpund

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