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Witzwil

Gold für zwölffache Mutter

Die Strafanstalt Witzwil bei Ins betreibt ihre Rindfleischproduktion seit den 70er-Jahren in naturnaher Haltung. 
Für die Simmentaler Kuh Karla hat sie nun einen Preis der Vereinigung Mutterkuh Schweiz erhalten.

Kuh Karla kann ihre Freude über Gold weniger gut zeigen, Ueli 
Röthlisberger, 
der Teamleiter Arbeitstiere bei der JVA Witzwil, etwas besser.
 Bild: Peter Samuel Jaggi

Von Beat Kuhn

Unter den Gewinnern des Herdbook-Awards 2018 für weibliche und männliche «Fleischrinder mit starker Lebensleistung» in der Mutterkuhhaltung ist auch eine Kuh aus dem Landwirtschaftsbetrieb der Justiz- und Vollzugsanstalt (JVA) Witzwil bei Ins. Die feierliche Verleihung durch die Vereinigung Mutterkuh Schweiz (siehe Infobox) ist kürzlich im aargauischen Brunegg über die Bühne gegangen, einen Tag vor dem dortigen Stierenmarkt.

Innert sieben Jahren viermal Gold
Der Award wird für Tiere vergeben, die «eine besondere Dauerleistung» erzielen und darum im Fleischrinderherdebuch eingetragen sind: Kühe müssen jedes Jahr abkalben, ihre Kälber «sehr gute Zuwachsleistungen» haben, sprich zügig an Masse zunehmen. Zudem müssen die Kühe punkto Exterieur – die äussere Erscheinung – «die Anforderungen an eine Stierenmutter erfüllen», also auch männliche Tiere gebären können, die grösser und schwerer sind als weibliche. Stiere müssen Anforderungen bezüglich ihres Exterieurs sowie der Fleischqualität ihrer Nachkommen erfüllen.

Karla ist eine von 115 Kühen und 25 Stieren aus der ganzen Schweiz, die im «Herdebuchjahr 2018» die Kriterien für den Award erfüllt haben. Eine Plakette in Gold gabs indes bloss für die beste Kuh und den besten Stier jeder Rasse – die übrigen mussten sich mit Silber begnügen. Bei den Kühen waren 13 Rassen vertreten, bei den Stieren neun, wobei die Rassen so schöne Namen hatten wie Highland Cattle, Limousin oder Piemonteser. Karla gewann in der Kategorie Simmental. Laut Ueli Röthlisberger, dem Teamleiter Arbeitstiere bei der JVA, ist dies schon das vierte Mal, dass Witzwil bei den Awards Gold geholt hat – dabei war dies erst die siebte Verleihung.

Das Fehlen des Kalbes macht nervös
Ein menschlicher Goldmedaillengewinner zeigt sich voller Stolz. Karla scheint dagegen alles andere als darauf erpicht zu sein, im «Bieler Tagblatt» zu erscheinen: Mit aller Kraft sträubt sie sich, als sie aus dem Stall gezogen wird. Auch beim Fototermin bockt sie immer wieder. Röthlisberger hat grösste Mühe, sie mit dem Strick ruhig zu halten. Dabei ist er, der am Samstag 48 wird, ein stämmiger Bauernsohn aus dem Emmental.

Ihm zufolge hat der Temperamentsausbruch von Karla mit der Haltungsmethode zu tun. Bei der Mutterkuhhaltung wolle das Muttertier ständig bei seinem Kälbchen sein, sei es auf dieses fixiert. «Wenn sie es fünf Minuten nicht gesehen hat, geht sie es suchen.» Eine Kuh sei ja ursprünglich dafür gemacht, ihr Kalb aufzuziehen. «Dass man eine Kuh melkt und die Milch verkauft, ist eigentlich nicht natürlich.»

Aktuell hat Karla zwar gar kein Kalb bei sich, denn das letzte, ihr zwölftes, hat man ihr vor drei Wochen weggenommen. Trotzdem zieht ihr Trieb sie zurück in den Stall. Auf den Einwand, dass eine solche Wegnahme doch nicht natürlich sei, entgegnet Röthlisberger: «In der Natur stösst das Muttertier das Kalb aber irgendwann von sich.» Die 13 Jahre alte Kuh ist bereits wieder im siebten Monat trächtig, wird in zwei Monaten ihr 13. Kalb werfen.

Grösster Bauernhof der Schweiz
Als die Mutterkuhhaltung in der Schweiz in den 70er-Jahren wieder aufgekommen ist, hat auch der landwirtschaftliche Betrieb der JVA umgestellt. Er gehört also zu den Pionieren. Der Kanton Bern, dem die Witzwiler Anlagen gehören, wollte eben mit gutem Beispiel vorangehen. Die JVA Witzwil hat den grössten Bauernhof der Schweiz: Insgesamt gehören rund 700 Hektaren Felder, Weiden und Wälder sowie 1000 Schweine, 500 Hausrinder – Kühe und Stiere – und 70 Pferde dazu.

Eine Witzwiler Spezialität ist es ausserdem, dass man früh Simmentaler für die Mutterkuhhaltung zu züchten begonnen hat. Bekannt war diese Rasse zwar immer schon, aber in der Milchproduktion. Wobei auch jene Tiere irgendwann geschlachtet werden, wie Röthlisberger klarmacht: «Auch alte Kühe können noch bekömmliches Fleisch hergeben – sogar Bündnerfleisch.»

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Naturnahe Produktion von Rindfleisch
- Die Mutterkuhhaltung ist eine naturnahe Alternative zur industriellen 
Produktion von Rindfleisch. Ihren Namen hat sie daher, dass das Muttertier ihr jeweiliges Kalb bei sich hat. Wenn sie nicht bloss ihr eigenes Kälbchen säugt, sondern auch noch ein weiteres, spricht man von Ammenkuhhaltung.
- Nach etwa zehn Monaten an der Zitze wird das Kalb abgesetzt. Aber 
die Tiere bleiben von der Geburt bis zur Schlachtung auf dem selben Hof. Die Kühe leben mit ihren Kälbern und gewöhnlich einem Stier im Familienverbund zusammen auf der Weide und im Stall.
- Mutterkuhhaltung wird primär in Gebieten mit geringen Erträgen, schlechten Böden oder mit viel Trockenheit betrieben, wo Milchproduktion nicht so ergiebig ist. In der Schweiz ist diese althergebrachte Haltungsmethode in den frühen 70er-Jahren wieder aufgekommen.
- 1977 wurde von 42 Personen die Schweizerische Vereinigung der 
Ammen- und Mutterkuhhalter (SVAMH) gegründet. Die JVA Witzwil war bei deren Gründung der erste 
Betrieb aus dem Kanton Bern. Seit 2008 heisst die Vereinigung Mutterkuh Schweiz.
- 1987 zählte die Organisation erstmals mehr als 500 Mitglieder, 1991 mehr als 1000, 2010 mehr als 5000 und 2017 mehr als 5600, die zusammen über 100 000 Mutterkühe halten.
- Trotz stetem Mitgliederzuwachs hat die Mutterkuhhaltung in der Schweiz mit 14 Prozent erst einen kleinen 
Anteil am Rindviehbestand. bk

 

Stichwörter: Witzwil, JVA, Karla, Kuh

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