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Unwetter

Grenzen des Systems überschritten

Bernhard Wehren ist der Mann, der bestimmt, wie viel Wasser beim Wehr in Port die Aare hinunterfliessen darf. Sein Fazit: Trotz Verbesserungen hat das diesjährige Hochwasser das Regulierungssystem überfordert.

Grafik des BAFU von 2009. Bild: zvg

Brigitte Jeckelmann

Es scheint, als gebe es dieses Jahr doch noch zumindest ein ganz klein wenig Sommer. Der Dauerregen ist vorbei, hier und da gehen Gewitter nieder. Und das Hochwasser ist Geschichte. Wirklich? «Nein, noch lange nicht», sagt Bernhard Wehren. Er ist als Leiter des Regulierdienstes beim Amt für Wasser und Abfall des Kantons Bern verantwortlich für die Pegelstände von Thuner-, Brienzer-, und Bielersee und musste in den vergangenen Wochen zahlreiche Anfragen von verärgerten Seeländerinnen und Seeländern entgegennehmen. Viele hatten den Eindruck, der Kanton habe den Bielersee gezielt über die Ufer treten lassen, während Thuner- und Brienzersee geschont worden sein sollen. Das sei natürlich mitnichten der Fall gewesen, winkt Wehren ab. Die Wasserregulierung der Jurarandseen ist vielschichtig.

Eins gleich vorweg: Der Kanton Bern hat dieser Tage eine erste positive Bilanz des Hochwassers gezogen: Trotz teilweise hohen Sachschäden habe das Ereignis keine Menschenleben 
gekostet. Zudem gab die Gebäudeversicherung Bern kürzlich bekannt, dass die Schadenssumme im Kanton mit 110 Millionen Franken tiefer ausgefallen ist als erwartet. Dies dank den Massnahmen zum Hochwasserschutz, die man nach den Ereignissen 2005 und 2007 umgesetzt hat und den «gemeinsamen Anstrengungen von Polizei, Zivilschutz und Feuerwehr und der Solidarität der Bevölkerung konnte das Ereignis bewältigt werden», schreibt der Kanton in seiner Mitteilung.

Inzwischen ist der Bielersee unter die Hochwassergrenze von 430,35 Meter über Meer gesunken. Seinen normalen Stand wird er aber voraussichtlich erst Mitte nächster Woche erreicht haben – falls das Wetter mitspielt. Und das, obschon seit dem 17. Juli beim Wehr in Port bis zu 750 Kubikmeter Wasser pro Sekunde aus dem Bielersee in die Aare fliessen. Das sind 100 Kubikmeter mehr als die erlaubte Höchstmenge von 650 Kubikmeter pro Sekunde.

Eine hydraulische Einheit

Bis sich Wassermengen wie jene im Bielersee sichtbar senken, dauert es eine Weile. Bei Port etwas mehr aufdrehen und dafür in Thun drosseln – und schon sinkt der Bielersee: So einfach ist es nicht. Die Regulierung der Berner Seen ist hochkomplex. Im Zentrum steht das Wehr in Port. Die Wassermengen, die dort Aare abwärts fliessen oder zurückgehalten werden, beeinflussen ebenso die Pegelstände von Neuenburger- und Murtensee. Sie bilden zusammen mit dem Bielersee seit der Juragewässerkorrektion eine hydraulische Einheit, weil sie mit Kanälen verbunden sind. Auch das Wasser der Aare fliesst durch den Hagneckkanal in den Bielersee hinein und durch den Nidau-Büren-Kanal wieder hinaus.

Das Besondere beim Hochwasserereignis in diesem Jahr sind die lange andauernden und grossen Niederschlagsmengen. Im Vergleich zu den Hochwassern 2007 und 2015 waren überdies nicht nur einzelne Regionen, sondern die ganze Schweiz betroffen. Es hatte also überall sehr viel Wasser und es würde gemäss Bernhard Wehren nur ganz kurzfristig helfen, für wenige Stunden mehr Wasser bei Port abzulassen oder bei den Regulierwehren in Thun und Interlaken zurückzuhalten, um den Bielerseepegel schneller zu senken.

Der Grund: Der See wäre durch den Dauerregen und die anderen hohen Zuflüsse rasch wieder aufgefüllt worden. Denn auch diese Zuflüsse in den Brienzer- und den Thunersee führten aussergewöhnlich viel Wasser, das in die Aare und somit auch in den Bielersee fliesst. Übrigens kann der Berner Regulierdienst nicht eigenmächtig Entscheidungen über die Abflussmengen treffen. Denn seit den 1980er-Jahren besteht ein Regulierreglement, das die Kantone Bern, Freiburg, Neuenburg, Waadt und Solothurn zusammen mit dem Bund erarbeitet haben. Sie alle sind davon betroffen, wie viel Wasser in Port durchs Wehr die Aare hinunterfliesst.

Eine wichtige Rolle im Hochwassergeschehen spielt auch die Emme, die unterhalb von Solothurn in die Aare mündet. Schwellt sie an, steigt die Überschwemmungsgefahr in den Kantonen Solothurn und Aargau. Um dies zu überwachen, gibt es bei Murgenthal, wo alle drei Kantone zusammenkommen, eine Messstelle. Dort darf der Abfluss der Aare 850 Kubikmeter pro Sekunde nicht überschreiten. Dieser Wert wird in der sogenannten Murgenthaler Bedingung festgehalten. Auch dies muss beim Wehr in Port berücksichtigt werden. Das hat sich gerade Anfang Woche gezeigt, als sich im Emmental ein heftiges Gewitter in die Emme entleerte. «Wir mussten kurzzeitig die Abflussmenge in Port drosseln, weil sonst die Aare zu viel Wasser geführt hätte», sagt Bernhard Wehren.

Einfach ausgedrückt: Je nachdem, wo wie viel Regen fällt, gehen in Port die Klappen auf oder zu. Wie sich dies auf die Seepegel auswirkt, ist auf der Website des Bundes www.hydrodaten.admin.ch zu verfolgen. Dabei fiel die letzten Tage auf: Während Thuner- und Brienzersee in der vergangenen Woche rasch sanken, stagnierte der Bielersee auf hohem Niveau. Weshalb? Das hat verschiedene Gründe, wie Bernhard Wehren erklärt: Einerseits sanken die Wassermengen der wichtigsten Zuflüsse zum Thunersee wie Kander und Simme rasch. Andererseits führten Aare und Saane unterhalb Thun wiederum viel Wasser in den Bielersee.

Zudem kam es zu einem grossen Rückfluss aus dem Neuenburgersee, dessen Pegel ebenfalls einen ungewöhnlich hohen Stand erreichte. Ungewöhnlich deshalb, weil der Neuenburgersee mit seiner Fläche, die mehr als fünfmal grösser ist als jene des Bielersees, eigentlich riesige Wassermengen schlucken könnte – wenn eben nicht auch dessen Zuflüsse einen Wasserhöchststand herbeigeführt hätten. Auf der einen Seite drängte Wasser vom Neuenburger- in den Bielersee. Auf der anderen Seite musste in Port zeitweise gedrosselt werden.

Grenzwerte einhalten

All dies hat dazu geführt, dass das System der Wasserregulierung an seine Grenzen stiess, sie sogar überschritt und sich die Situation verschärfte. «Aus Rücksicht auf die unterliegenden Kantone konnten wir in Port nicht einfach endlos Wasser abgeben», sagt Bernhard Wehren. Denn es galt auch, die Grenzwerte des Reglements einzuhalten. Mehr lag also nicht drin.

Wehren verweist auf die zweite Juragewässerkorrektion, die für das Reguliersystem der Jurarandseen ab den 1970-er Jahren eine wesentliche Verbesserung darstellte. Diese baulichen Massnahmen ermöglichten es, die Hochwasserstände in den Jurarandseen um rund einen Meter zu reduzieren. Aber wenn wie dieses Jahr so viel Wasser von allen Seiten den Seen zuströmt, ist es laut Wehren auch mit dem bestehenden System nicht möglich, alle Schäden zu verhindern. Noch fehlten Bilanz und Analyse des Ereignisses. Deshalb kann Wehren auch noch nicht sagen, welche Lehren sich aus dem Hochwasser 2021 für die Zukunft ziehen lassen.

Klar ist: Aus den vorhergehenden Ereignissen des Ausnahmehochwassers 2007 wurde eine detaillierte, mehrere hundert Seiten umfassende Analyse erarbeitet – die diverse Optimierungen zur Folge hatte. Eine davon ist die sogenannte Prognoseregulierung: Reagieren, bevor das Hochwasser eintritt. Und das geht so: Wehren und sein Team verfolgen in der Schaltzentrale in Bern am Computer die Wetterprognosen, sowie die Prognosen zu Wasserständen und zu den Zu- und Abflüssen.

All diese Daten werden teilweise auch automatisch ausgewertet. Zeichnet sich in den kommenden Tagen ein Hochwasser an den Jurarandseen ab, besteht die Möglichkeit, die Seen vor dem Ereignis leicht abzusenken und so Rückhaltevolumen für das erwartete Hochwasser zu schaffen. Diese vorausschauende Regulierung habe sich bewährt, sagt Wehren. Beim aktuellen Ereignis sei das jedoch schwieriger gewesen, weil diese Art Regulierung einige Zeit benötigt, bis sich eine Wirkung zeigt, sprich: Wenn sich die Klappen in Port weiter öffnen, dauert es mehrere Stunden bis Tage, bis sich dies im Senken des Bielerseepegels bemerkbar macht.

Wehren gibt ein weiteres Beispiel: Um den Neuenburgersee um 20 Zentimeter zu senken braucht es eine Woche Vorlaufzeit. So lange dürfte es keine grösseren Niederschlagsmengen über dem See oder einem der Zuflüsse geben. Doch beim aktuellen Ereignis regnete es praktisch nonstop, alle paar Tage gab es weitere heftige Niederschläge: Wehren: «Es fehlten schlicht die längeren trockenen Phasen zwischen den Niederschlägen, dass vorbeugende Massnahmen ihre Wirkung hätten entfalten können.»

Folgen wären drastisch

Neben der Prognoseregulierung gibt es eine weitere Verbesserung. Die Grenzwerte im Regulierreglement sind nicht mehr jederzeit sakrosankt. Nach 2007 hat man erkannt: Man muss diese in Ausnahmelagen auch situativ und rasch verhandeln können – im Einvernehmen mit allen Beteiligten. Diese Situation ist Mitte Juli eingetreten, als der Regulierdienst des Kantons Bern bei den beteiligten Kantonen und dem Bund eine Erhöhung der festgelegten 650 Kubikmeter pro Sekunde in Port auf 750 beantragte.

Noch gleichentags fand eine Telefonkonferenz statt mit Vertretern der beteiligten Kantone und dem Bund. Alle waren damit einverstanden. Dies habe dann die Senkung des Bielerseepegels so weit wie möglich beschleunigt, sagt Wehren. Welchen Unterschied macht es denn, ob man jetzt in Port 750 oder 1000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde ablässt? Die Folgen wären drastisch. Laut Wehren bewirken schon 50 bis 100 zusätzliche Kubikmeter Wasser ein Ansteigen der Aare um bis zu einem halben Meter. Es würde bedeuten, «an der Aare zwischen Biel und Solothurn wären weitere Gebiete unter Wasser geraten». Die Regulierbehörde, die Wehren als Leiter der Seeregulierung vertritt, ist in regelmässigem Austausch mit den beteiligten Kantonen und Gemeinden. Wichtig sei, dass auch in Ausnahmesituationen eine Lösung angestrebt wird, die für alle möglichst verträglich ist. Diese Diskussionskultur habe sich bewährt.

Derzeit zeigen die Wetterprognosen mal Sonne, mal Gewitter. Noch ist also beim siebenköpfigen Team um Wehren keine Entspannung angesagt. Man überwache das Abflussgeschehen zwischen Port und Solothurn weiterhin eng, um sofort reagieren zu können. Denn die Aare führt weiterhin gerade so viel Wasser, wie es die Ufer bewältigen können. Und die Lage kann schnell wieder kippen. Ein heftiges Gewitter kann schon reichen.

Stichwörter: Unwetter, Wehr, Port, Hochwasser

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