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Beziehung

«Grosi sein ist die Luxusvariante 
von Mami sein»

Wenn es sie braucht, hütet die Vinelzerin Lotti Studer ihre sechs Enkel jederzeit. Die Coronakrise hat die Beziehung umgedreht: Plötzlich beschützten die Kleinen ihr Grosi.

Copyright: Peter Samuel Jaggi / Bieler Tagblatt
  • Dossier

Rachel Hämmerli

Lotti Studers Gesicht ist schön braun. Kaum zu glauben, dass sie die letzten Wochen zuhause verbracht hat. Doch sie musste. Weil es der Bundesrat empfahl und ihr die Enkel befahlen. Lotti Studer und ihr Mann Franz haben sechs Grosskinder. Als «ein ganz normales Grosi», beschreibt sich Lotti Studer. Der blaue Eyeliner, die kecke Kurzhaarfrisur und der prominente Schwiegersohn Christian Stucki lassen zwar widersprechen – doch für ihre Enkelkinder ist sie einfach «das Grosi». Allerdings nicht während der Coronakrise. Da entwickelten sich Lotti und Franz Studer zu einem Schatz, beschützt von ihren Enkelkindern.

Lotti Studer und ihr Mann weilten im Schwarzwald, als das Coronavirus in die Schweiz drang. Eigentlich wären die beiden gerne noch zwei Tage geblieben, aber ihre Enkelkinder hatten erfahren, dass das Coronavirus für ältere Menschen besonders gefährlich ist, und ihre Grosseltern sind beide 75 Jahre alt. Lotti Studer hat ihnen anhand eines Meterstabs einmal erklärt, dass Lebenszeit endet, je näher ein Mensch dem letzten Meter kommt. Die Kleinen wissen also über den Tod Bescheid und haben erkannt, dass das Virus den sinnbildlichen Meterstab ihrer Grosseltern verkürzen kann. «Sie hatten unheimliche Angst um uns», sagt Lotti Studer. Ihre Enkel pochten darauf, die Grosseltern nach Hause zu holen. Die beiden gaben nach und fuhren heim. Der Lockdown kam kurze Zeit danach.

 

Bitte bleibt zuhause

Den Enkeln zuliebe hielten sich Lotti und Franz Studer strikt an die Vorgaben. Nur für den morgendlichen Waldspaziergang verliess Lotti Studer das Haus. Den Einkauf erledigte ihr Sohn Simon. Die vollen Einkaufstaschen legte er dann vor die Haustür. Jede Nähe zur Familie war eingestellt. Aber Funkstille herrschte nicht. Die fünfjährige Giulia und der zehnjährige Livio wohnen gleich gegenüber. Übers Fenster haben sie «Dodo» zugewunken. Livio konnte anfangs nicht «Grosi» sagen, deshalb ist Lotti Studer bis heute «Dodo».

Die Enkel sendeten Zeichnungen, immer mit der Bitte «bleibt zuhause» unterzeichnet. Acht Wochen dauerte das Besuchsverbot. «Das tat schon weh», sagt Lotti Studer. Als der Corona-Beauftragte Daniel Koch Ende April grünes Licht für die Umarmung von Grosseltern gab, durfte Lotti Studer ihre Enkel wieder drücken – und wurde fast erdrückt. «Die Kinder spürten sich nicht mehr vor Freude», sagt sie.

Noch ist nicht alles beim Alten. Hüten darf Lotti Studer ihre Enkelkinder noch nicht. Normalerweise sind die Kleinen regelmässig bei ihr zu Gast. Lotti Studer betrachtet das Grosi sein als Privileg – die Luxusvariante von Mami sein. «Ein Grosi erlebt alle schönen Momente, hat aber keine Verantwortung mehr», sagt Studer. Sie geniesst, dass sie für Schulprobleme oder das Schlichten von Streit nicht mehr zuständig ist. Zudem bleibt Zeit, um sich selbst auszuleben. Zeit für Reisen und ihre Arbeit als freie Mitarbeiterin des «Bieler Tagblatt».

Seit mindestens 20 Jahren schreibt sie aus der Region für die Region. Sie ist in Gerolfingen aufgewachsen. Mit 26 Jahren heiratete sie ihren Mann Franz Studer und zog mit ihm nach Erlach, wo sie mit 29 Jahren das erste Kind Simon bekam, der als einziger kinderlos blieb. Es folgte Florian. Er ist der Papi von der fünfjährigen Marla und des ältesten Enkels, des zehnjährigen Matteo. Mit 36 wurde Lotti Studer erneut Mutter, diesmal der Zwillinge Severin und Cécile. Der zehnjährige Livio und die fünfjährige Giulia sind die Kinder von Severin. Ihre einzige Tochter hat mit Christian Stucki zwei Söhne – den siebenjährigen Xavier und den vierjährigen Elia. Heute lebt Lotti Studer mit ihrem Mann in Vinelz.

 

Berühmte Verwandtschaft

Der kleine Elia Stucki hat die Statur seines Vaters. «Gross und kräftig», sagt Lotti Studer, «ä Stucki haut». Der ältere, Xavier, sei sehr sportlich und werde entsprechend gefördert. Doch wenn sein Vater schwingt, mag er selbst nicht hinsehen. Als Christian Stucki am Eidgenössisches Schwing- und Älplerfest 2019 in Zug im Schlussgang mit Joel Wicki um den Siegermuni kämpfte, sassen Xavier und Elia beim Grosi in der Stube. Xavier konnte nicht hinschauen und lenkte sich mit Spielen ab. «Er hatte Angst um den Papi», sagt Lotti Studer. «Als sein Vater gewann, war die Freude jedoch gross».

Xavier wisse, dass sein Vater berühmt ist. «Er schaut zu ihm auf», sagt Studer. Er bilde sich aber nichts darauf ein und sei unter Altersgenossen deswegen nicht beliebter. Im Moment leide Xavier sogar unter einem Streit mit einem Gspändli. So sehr, dass er nicht in die Schule wollte. «Als Grosi fühlt man immer mit», sagt Studer, wisse aber auch aus Erfahrung, dass meist alles gut wird.

Lotti Studer ist stolz auf die beiden Stucki-Buben – aber nicht mehr als auf die anderen vier Enkelkinder. Sie sieht in jedem eine Besonderheit. Matteo zum Beispiel habe mit zehn Jahren einen Geschmackssinn, «das ist unheimlich», so Studer. Er erkenne, wenn in einem Gericht von «Dodo» zu viel Paprika drin sei. Aber auch Kleinigkeiten sind für Lotti Studer erwähnenswert. Etwa, dass Giulia und Matteo sich trauen, in zwölf Grad kaltes Wasser zu springen.

Bei aller Liebe: Die Grosseltern Studer sehen sich nicht als Unterhalter ihrer Enkel. «Wir sind keine Grosseltern, die mit ihnen in den Europapark oder ins Legoland rasen», so Studer. Und der Fernseher laufe nur in Ausnahmefällen. Lotti Studer hält nichts davon, den Kindern immer alles bieten zu müssen. Im Schaltenrain bei Vinelz haben Lotti und Franz Studer eine Waldhütte gemietet. Dort verbringen sie viel Zeit mit ihren Enkeln. In der Hütte herrscht Handyverbot. In den ersten Tagen im Wald wussten die Kinder nichts mit der freien Natur anzufangen. So baute Franz Studer mit ihnen eine kleine Waldhütte, und bald benötigten die Kinder keine Anleitung mehr. Heute toben sie ohne Aufforderung im Wald herum, spielen Fussball oder Boccia – das Handy würden sie gar nicht klingeln hören.

Stichwörter: Beziehung, Grosi, Eltern, Kinder, Familie

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