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Randnotiz

Herbst der Kindheit

Es war Dante Alighieri, der seine Divina Commedia mit den Worten einleitete: «Es war in unseres Lebensweges Mitte, als ich mich fand in einem dunklen Walde.»

Symbolbild: Pixabay

Theresia Mühlemann

Die Worte schwirrten mir im Kopf herum, als ich letzthin in meinem überwucherten Garten stand, zwischen mannshohen Goldruten und schlingernden Brombeerranken, und verzweifelt versuchte, den Garten in einen ansehnlichen Zustand zu bringen. Sie müssen wissen, dass ich lieber dem Schreiben als der Gartenarbeit fröne, und dementsprechend konnte die letzten Monate fröhlich gedeihen, was der Zufall gesät hat. Ich hackte planlos mit der Handsense auf trockenen Stängeln herum und fragte mich, ob ich je fertig werden und es je nach etwas aussehen würde. Doch die Arbeit eignete sich wunderbar, um den Frust über die Ausflüchte meiner grossen Kinder zu kanalisieren, die sich lieber mit Freunden trafen, als bei der Gartenarbeit zu helfen.

Ich weiss nicht, ob Dante Teenager zu Hause hatte, als er die Göttliche Komödie geschrieben hat. Aber ich kenne dieses Gefühl, verloren im Wald zu stehen, aus der Erziehung meiner Kinder. Immer dann, wenn ich das Gefühl habe, ich habe den Dreh raus, kommt eine bislang unbekannte Phase, und man fühlt sich wie der Esel am Berge, oder eben als hätte man sich im Wald verlaufen. Meist ist das bei meinem Ältesten der Fall. Der Ärmste kann nicht einmal etwas dafür, dass er mir all diese Premieren verschafft. Zeitweise fühle ich mich, als erwachte ich in einem fremden Land, ohne Landkarte und Sprachkenntnisse. Als die Kinder kleiner waren, habe ich stapelweise Erziehungsratgeber verschlungen, nur um zu merken, dass es kein narrensicheres Rezept gibt, erst recht nicht für die Pubertät. Was hilft, ist im Dialog zu bleiben, authentisch zu sein und sich die wichtigsten Werte als grobe Orientierung zu vergegenwärtigen.

Und es kommt mir mit meinen Kindern so vor wie mit den Pflanzen im Vorgarten, kaum schaut man eine Weile weg, schon sind sie aufgeschossen, ihrer ursprünglichen Form entwachsen. Es ist ihre Natur, aus unseren Vorstellungen auszuwachsen. Sie sind nicht dafür bestimmt, ewig in unser Gartenschema zu passen.

Das Grossziehen von Kindern ist mitunter nicht weniger abwechslungsreich als Dantes Reise durch Himmel und Hölle in seinem Werk. So viel Liebe und Nähe, so viel Sorge und Schmerz, und immer wieder neu herausfinden, wann es Zeit ist, loszulassen und zu vertrauen. Und ich bin überzeugt, während wir uns mit den kratzenden, struppigen Auswüchsen der Abnabelung und des Erwachsenwerdens unserer Sprösslinge abmühen, wächst genau so wie im Garten auf einer tiefer gelegenen Ebene still und leise ein neues Grün, eine neue Art von Beziehung, die starke Wurzeln hat und jede Jahreszeit überdauert.

Info: Theresia Mühlemann ist 38, verheiratet und Mutter von vier Kindern zwischen 5 und 13 Jahren. Hier teilt sie Geschichten und Gedanken aus dem Familienalltag.

 

Stichwörter: Familie, Pubertät, Kinder

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