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Abenteuer

«Ich gebe zu – es gibt Leute, die besser malen als ich»

Bei der Überfahrt nach Südamerika ist Jérôme Tschudi nicht nur mit der «Hundewache» beschäftigt. Immer wieder sind seine handwerklichen Fähigkeiten gefragt. Sonne und frische Luft helfen mit, dass er abends todmüde ist. Zur Belohnung gibts ein Feierabendbier.

So kennt man Greenpeace. Dies ist allerdings keine Protestaktion, sondern die Testfahrt eines Esperanza-Bootes. Copyright zvg
  • Dossier

Tagebuch: Jérôme Tschudi

Mittwoch, 21. März
Der Wind hat aufgefrischt, seit Tagen ist uns kein Schiff mehr begegnet. Um 1 Uhr muss ich alle Uhren der Esperanza um eine Stunde zurücksetzen, schon zum zweiten Mal. Zum Schutz vor Schäden sind die Uhren unter der Schiffsdecke befestigt, Kletterkünste sind angesagt. Generell sind die Stahlkappenschuhe ein Segen: Bei den vielen Kanten und Ecken bin ich optimal geschützt.

Nachmittags leiden wir unter ohrenbetäubendem Lärm. Es wird Rost geklopft, maschinell und von Hand. Um 17 Uhr ist «Bier-Zeit», man trifft sich auf dem Achterdeck. Die Stimmung ist heiter, selbst die Brasilianerin, deren Freundin, eine Umweltaktivistin, kürzlich auf offener Strasse erschossen wurde, vergisst für einen Moment ihre Trauer.

Donnerstag: Unbequem
Nach Tagen mit Wachrunden im Schiff spüre ich meine Knie.Auf den schmalen Treppenstufen stosse ich oft meine Achillessehne an. Wegen der schmerzenden rechten Schulter ziehe ich mit dem linken Arm hoch. Hoffentlich stellt sich bald ein Trainingseffekt ein.

Im Logbuch der Esperanza fallen starke Schwankungen im Dieselverbrauch auf. Fährt das Schiff elektrisch, wird nur ein Drittel so viel Diesel verbrannt wie beim Einsatz der Hauptmotoren. Ein Dieselgenerator liefert den Strom für die Elektromotoren und das Schiff.

Den Nachmittag verbringen wir mit Streicharbeiten in allen möglichen und meist unbequemen Stellungen, weil der Rost typischerweise dort entsteht, wo Meerwasser liegen bleibt. Die starke Dünung zwingt uns, in den Gängen schräg zu gehen, die Füsse an der einen Seite des Gangs, der Kopf auf der anderen, wie Motorradfahrer in der Kurve. Das ist gewöhnungsbedürftig.

Freitag: Der Wert der Arbeit
Endlich ein Schiff, allerdings ist es nur auf dem Radar sichtbar. Dank Koppelung des Radars mit dem «Automatic Identification System» wissen wir alles darüber: Name, Heimathafen, Tonnage, Kurs, Geschwindigkeit, Zeitpunkt der Kreuzung unserer Routen und Minimaldistanz zur Esperanza.
Die Amerikanerin erkundigt sich besorgt, ob ich das Putzen und Streichen als erniedrigend empfinde. Jede Arbeit hat ihren Wert, aber ich gebe zu, dass es Leute gibt, die besser malen als ich. Der Unterhalt eines so grossen Schiffes gibt unglaublich viel zu tun und beschäftigt acht Stunden täglich drei Ingenieure, fünf Techniker, einen Bootsmann mit seinen vier Matrosen und mich als angelernten Matrosen und Bordarzt, dazu den Koch.
Kapitän und Offiziere sorgen rund um die Uhr dafür, dass das Schiff die Auflagen erfüllt und rechtzeitig in Brasilien eintrifft. Der Kapitän warnt uns wegen der hohen Kriminalität vor einem Landgang in Belem. Einer der Mechaniker bestätigt: Er wurde beim letzten Besuch Belems an einem Tag gleich zweimal ausgeraubt.

Samstag: Barbecue
Die Kapverden liegen hinter uns und es wird immer heisser. Am Nachmittag findet ein Barbecue auf dem Achterdeck statt, an dem alle teilnehmen. Lockere Stimmung beim Ausklingen der Woche, ganz wie zuhause im Garten, nur schaukelnd. Wer dann noch mag, kann sich in der Lounge einen Film anschauen. Ich gehe im Hinblick auf die Wache um Mitternacht schlafen.

Sonntag: Fischerboote
Um Mitternacht zeigt das Thermometer 24 Grad an, die Luftfeuchtigkeit liegt bei über 90 Prozent. Auf dem Radar ist nur ein Fischerboot zu erkennen. Mit der Zusatzantenne der Esperanza und dem «Automatic Identification System» ist aber plötzlich eine ganze Armada von Fischerbooten bis zur senegalesischen Küste zu erkennen. Erstaunlich, dass es überhaupt noch Fische im Ozean gibt.

Beim Mittagessen erzählt mir der Ausrüster, dass er adipös war. Seit drei Jahren macht er 1000 Liegestützen täglich und besucht auch täglich den Fitnessraum der Esperanza. So verlor er 28 Kilogramm Gewicht. Angesichts seines durchtrainierten, athletischen Körpers kann man ihn sich gar nicht übergewichtig vorstellen.

Dann fragt mich der Erste Offizier, wie ich mich in diesen zwei Wochen eingelebt habe. Gut, ich bin erstaunt, wie reibungs- und spannungslos das Zusammenleben mit der Crew ist. Allerdings bringen alle eine gehörige Portion Empathie mit und die sonst so häufigen, ausgeprägten Narzissten fehlen. Eine Wohltat.

Montag: Kondome
Diese Nacht haben wir der brasilianischen Behörde unsere Route und voraussichtliche Ankunftszeit übermittelt. Im Gespräch erfahre ich, wie die Profis an Bord angestellt sind. Sie haben zeitlich befristete Verträge. Sie erhalten nach Abschluss der Expedition bezahlten Urlaub für die gleiche Zeit, wie sie auf See waren. Anschliessend wird ein neuer Vertrag aufgesetzt. Eine Garantie für weitere Beschäftigung gibt es nicht, schon gar nicht für das Einsatzgebiet.

Die Medikamente für das «Spital» sind für die niederländischen Handelsschiffe vorgeschrieben und fein säuberlich inventarisiert. Ich bin überrascht, darin auch Kondome und sogar eine «Pille danach» vorzufinden. An Bord sind fünf attraktive junge Frauen und mindestens ebensoviele attraktive junge Männer. Es wird zwar viel palavert und gelacht, geflirtet wird aber nicht: Der Umgang ist kameradschaftlich «asexuell». Und sehr  respektvoll, was zur angenehmen Atmosphäre an Bord beiträgt.

Nun werden die Unterhaltsarbeiten forciert. Für mich heisst das: putzen und streichen. Den halben Tag an der frischen Luft, die Hitze, die Sonne und die Arbeit, was braucht es mehr, um abends todmüde zu sein.

Dienstag: Kein Murren
Um 3 Uhr morgens immer noch 26 Grad. Tagsüber schnappt mich der Bootsmann in meiner Ruhezeit. Er will den Zeitverlust im Unterhalt zu Beginn der Reise aufgrund des Wetters und der Seekrankheit aufholen. Unter sengender Sonne streichen wir, was das Zeug hält. Immer wieder fallen Tropfen genau dorthin, wo ich streichen will, was ich auf Reinigungsarbeiten zurückführe, bis ich merke, dass die Tropfen von mir stammen ... Auf dem heissen Metalldeck könnte man Spiegeleier braten.

Alle arbeiten unter Volllast. Leid tun mir vor allem die Mechaniker: Im Maschinenraum ist es über 50 Grad heiss. Kein Murren, gute Stimmung, «chillen» beim Feierabendbier: Was will man mehr?

Hier muss ich den bisherigen Crews der Esperanza ein Kränzchen winden. Sie haben die 34-jährige alte Dame perfekt in Schuss gehalten. Wenn man weiss, dass ein Handelsschiff nach 25 Jahren abgeschrieben ist, ist das doch bemerkenswert.

Mittwoch, 28. März
Frühmorgens lassen wir zwei Schlauchboote zum Fahrtest zu Wasser. Beim einen ist es der erste Einsatz nach der Revision. Während der Fahrt platzt der Kühlschlauch. Die zweite Testfahrt verläuft ohne Überraschungen. Da schon Schlauchboote im Wasser sind und die Esperanza ihre Geschwindigkeit gedrosselt hat, wird die neue Lotsenleiter getestet. Der Fitter montiert bei dieser Gelegenheit am Aussenrumpf eine Vorrichtung, die das Andocken des Lotsenbootes erleichtern soll. Schweissarbeiten ausserhalb des Schiffs auf hoher See, alle Achtung.
Zum «Mann-über-Bord-Drill» reicht es zeitlich nicht mehr. Dafür steht auf Deck ein spezielles leichtes Schlauchboot, das schnell gewassert werden kann. Geplant war auch ein Badestopp, der ebenfalls ausfällt. Stattdessen räumen wir das Achterdeck auf und bereiten die sortierten Abfälle zum Abtransport in Belem vor. Es ist wieder ein anstrengender Arbeitstag und allen sieht man die Müdigkeit an. Noch gut 300 Meilen bis zum ersten Etappenziel. Bearbeitung: pst

Bisherige Beiträge finden Sie unter www.bielertagblatt.ch/amazonas

 

Stichwörter: Greenpeace

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