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Sozialdienst

Seeländer Angriff auf Bern

Zu einem unerwarteten Zeitpunkt greifen Seeländer Gemeinden die kantonalen Stellen des Kinder- und Erwachsenenschutzes an. Sie seien zu teuer und zu kompliziert.

Andreas Hegg, Gemeindepräsident von Lyss, initiierte einen offenen Brief an Regierungsrat Christoph Neuhaus.

Andrea Butorin

Der Lysser Gemeindepräsident Andreas Hegg (FDP) ist mit der neuen Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) nicht zufrieden: «Sie ist teurer, komplizierter, aufwendiger und weiter vom Bürger entfernt als das alte System.» Seit dem 1. Januar 2013 werden die Sozialdienste nicht mehr autonom von den Gemeinden koordiniert, sondern vom Kanton – mittels ebenjener Kesb (siehe Infobox).
Seine Kritikpunkte trug Hegg am Mittwochabend an der Mitgliederversammlung des Vereins seeland.biel/bienne vor. Dort fand er Zustimmung: Die rund 45 anwesenden von insgesamt 63 Gemeindevertretern beschlossen, dem Antrag des Lysser Gemeindepräsidenten sowie Vorstandsmitglieds von seeland.biel/bienne zu folgen. Der Verein wird nun einen offenen Brief an Regierungsrat Christoph Neuhaus (SVP) verfassen mit der Aufforderung, das System Kesb zu vereinfachen.

Mehraufwand statt Entlastung
Er wolle die Kesb nicht abschaffen, sagt Hegg, und doch ist seine Kritik von grundsätzlicher Natur. Der Kanton schuf vor einem Jahr 130 neue Stellen, deshalb erhoffte sich Hegg eine Entlastung der kommunalen Sozialdienste. «Doch das Gegenteil ist eingetroffen. Aufgrund des administrativen Mehraufwands kam es zu einer Zusatzbelastung», sagt Hegg.
So seien einige Arbeiten, etwa vormundschaftliche Abklärungen, aufgrund der hohen Auslastung der Kesb-Stelle wieder an die Gemeinde zurückverschoben worden. Berichte würden nun viel umfangreicher verfasst als bisher und seien teilweise in einer juristischen Sprache verfasst, welche die Bürger gar nicht verstünden, weshalb sie wiederum auf der Gemeinde nachfragten, was das Geschriebene bedeute.
Seit der Einführung der Kesb müssten nun auch private Mandatsträger (sogenannte Prima) jede Menge Formulare ausfüllen. «Dabei machen sie diese Arbeit freiwillig. Ich fürchte, die werden uns abspringen», sagt Hegg. Sein Hauptvorwurf und auch der Auslöser für die Mobilisierung des Vereins seeland.biel/bienne liege jedoch darin, dass die Lysser Sozialbehörde anstelle des erhofften Stellenabbaus zusätzliche Stellen schaffen musste.
Dieses Jahr seien in der Lysser Abteilung Soziales und Jugend 50 Stellenprozente neu geschaffen worden, bestätigt Abteilungsleiter Heinz Lüthi. Tatsächlich seien mit dem neuen Gesetz rund 100 Zusatzaufgaben dazugekommen, was für die Gemeinden zu markanten Mehrbelastungen führte. Die Hoffnung, dass der sozialjuristische Dienst nun viel selber erledigen würde, hat sich laut Lüthi nicht bewahrheitet. Für ihn steht fest, dass der geplante Brief die politische Gefühlslage der Kommunalpolitiker ausdrückt. «Ich denke nicht, dass man immer dem Kanton die Schuld zuschieben kann», sagt Lüthi abschliessend, denn der Mehraufwand sei vom Kanton durch das umfassendere neue Recht gewollt gewesen. Dieser Meinung sind alle vom BT befragten Sozialdienstleiter. Andreas Hegg gehe von der falschen Annahme aus, die Kesb sei als Sparübung geschaffen worden. Das sei nicht der Fall.  

«Die Kesb entlastet uns»
Jean-Claude Ryser, Leiter des regionalen Sozialdienstes Büren (welcher zehn Gemeinden aus dem ehemaligen Amt Büren betreut), erlebt die Zusammenarbeit mit der Kesb als sehr positiv. Zwar sei der Aufwand durchaus grösser geworden, dafür würden die einzelnen Fälle auch sorgfältiger und professioneller abgeklärt. Auf dringende Anliegen werde auch sofort eingegangen.
Auch aus Biel sind positive Signale zu vernehmen. Bruno Bianchet, Leiter der Abteilung Erwachsenen- und Kindesschutz, sprach letzten Juli im BT noch von ungewohnt langen Wartezeiten. Heute sagt er: «Die Kesb entlastet uns.» Konkret habe seine Stelle 2013 15 Prozent weniger Fälle als noch im Jahr zuvor bearbeitet, weshalb Bianchet Heggs Vorwurf bezüglich Mehraufwand nicht teilen kann. Er teilt Rysers Meinung: «Heute haben wir ein professionelles System. Zuvor lagen die Entscheidungen bei Laien, die in kleinen Gemeinden oft eine ungesunde Nähe zu den Betroffenen sowie mangelnde rechtliche Kenntnisse aufwiesen.» Jetzt seien die Entscheide dank der interdisziplinär zusammengestellten Behörden besser abgestützt. Obwohl Bianchet anderer Meinung ist als Andreas Hegg, stimmte Biels Vertreter, Gemeinderat Beat Feurer (SVP), Heggs Anliegen zu.

Ein Treffen unter sechs Augen
Regierungsrat Christoph Neuhaus wird in Kürze also Post vom Verein seeland.biel/bienne erhalten. Er ist bereits gewappnet. «Ich bin überrascht über Heggs Attacken, die teilweise jeglicher Grundlage entbehren», sagt er. Man habe das geltende Recht ausgebaut, weshalb nie die Rede von einer Entlastung der lokalen Fachstellen gewesen sei.  
Die Bilanz der kantonalen Fachstellen sieht gemäss Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion folgendermassen aus: 17 500 Dossiers ins neue Recht überführte, 9800 neu eröffnete und 4500 abgeschlossene Fälle. Das Budget von rund 166 Millionen Franken sei eingehalten worden. In den meisten Kesb-Fachstellen seien die Pendenzen inzwischen abgebaut worden. «Die Kesb ist nicht überfordert», sagt Neuhaus. Zwei bis drei Jahre dauere die komplette Umstellung auf das neue System, sagte Christoph Neuhaus bereits bei der Einführung. Das System vereinfachen könne man jederzeit. Eine Revision sei bereits geplant. Die Präsidien sollen grössere Kompetenzen erhalten, ausserdem sollen Verbesserungen beim Informationsaustausch sowie bei der fürsorgerischen Unterbringung geprüft werden. Noch in diesem Jahr startet eine bis Ende 2016 dauernde, umfassende Evaluation.
Heggs Angriff will Neuhaus mit dem Lysser Gemeindepräsidenten persönlich klären: Nächste Woche sind Hegg und der Lysser Sozialdienstleiter Heinz Lüthi nach Bern ins Rathaus geladen.

 

Das ist die Kesb:
• Das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (KES) ist seit 1. Januar 2013 als Teil des Zivilgesetzbuches schweizweit in Kraft. Mit seiner praktischen Ausführung befassen sich die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb).
• Die Kesb Seeland betreut 45 Gemeinden, die Kesb Biel deren 19. Im Kanton Bern gibt es zwölf Kesb-Fachstellen.
• Unter die Aufgaben fallen Kindesschutzmassnahmen, elterliche Sorge, Unterhalt und Besuchsrechte, Vorsorgeaufträge, Heimaufenthalte, Beistandschaften und Zwangsmassnahmen (fürsorgerische Unterbringung).
• Für die Ausführung von Massnahmen arbeiten die Kesb mit lokalen Fachstellen zusammen.

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