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Bergfrühling

Über Bonsais, Existenzgrenzen und einen überraschten Luchs

Auf 1800 Meter über Meer beginnt die natürliche Waldgrenze. Gibt es somit am 1600 Meter hohen Chasseral keine? Doch, es gibt sie, die Zone, in der die Bäume erst um das Überleben kämpfen, und den Kampf gegen 
die Widrigkeiten schliesslich verlieren. Von den harten Bedingungen zeugt auch die Tatsache, dass der Bergfrühling dort erst begonnen hat.

Felsen, Geröll, Trockenheit, Steilheit und Exponiertheit schaffen im Bereich von Les Roches eine natürliche Waldgrenze. Bilder: Matthias Käser
  • Dossier

Lotti Teuscher

Im Seeland tragen jetzt alle Bäume Blätter. Doch je höher sie im Jura wachsen, desto zarter wird ihr Frühlingsgrün; auf 1500 Meter über Meer trägt der Bergahorn lediglich Knospen – hier beginnt der Frühling erst jetzt, einen Monat später als im Seeland. «100 Höhenmeter entsprechen klimatisch einer Reise von 1000 Kilometern in Richtung Norden», erklärt Eduard Reusser, freischaffender Forstingenieur (siehe Zweittext). Das Klima an der Waldgrenze auf der Südseite des Chasseral ist so rau wie in Mittelskandinavien.

Obwohl die Waldgrenze auf der Südseite deutlich sichtbar scheint, befindet sich dort, wo sie das Auge vermutet, keine echte Grenze: Unterhalb der Weiden entlang der Krete zwischen Hotel und Sendeturm ist sie künstlich. Der Wald wurde vor Jahrhunderten gerodet, um Platz für Weiden zu schaffen; die Rinder verhindern, dass Bäume nachwachsen. Eduard Reusser fahndet nach der echten Waldgrenze – also jener Zone, wo Bäume nicht mehr überleben können.

In den Alpen liegt diese Zone zwischen 1800 und 2300 Meter über Meer; am höchsten ist sie in der Schweiz im Baltschiedertal im Wallis. Auf dem Chasseral müsste sich die Waldgrenze somit in der Luft oberhalb des Sendetrums auf dem Chasseral befinden – mit anderen Worten: Eine natürliche Waldgrenze scheint nicht zu existieren. Dennoch macht sich Fachmann Reusser auf die Suche.

Orchideen und tote Fichten

Direkt unterhalb des Sendeturms befindet sich eine Wytweide: Auf der von Felsbrocken durchsetzten Weide stehen Fichten in malerischen Gruppen; teils ausgemergelte, zerrupfte Bäume, die von einer Existenz mit Wind und Wetter zeugen. Etlichen hat ein Sturm den Wipfel abgerissen, ein besonders grosser Baum liegt am Boden.

Eduard Reusser inspiziert die Wytweide mit Interesse, er entdeckt Knabenkraut, eine pinkfarbene Orchidee, die hier im Dutzend wächst – diese Art des Knabenkrauts liebt trockene Standorte, wie an diesem Hang. Das Knabenkraut wurde früher auch Liebeswurz genannt, weil es angeblich die Zeugungskraft stärkt. Hier, am Chasseral, legt die streng geschützte Orchidee Zeugnis ab vom ökologischen Wert der Wytweiden.

Ein Zaun grenzt die Weide zum östlich gelegenen Steilhang ab – zu steil ist dieser Hang für Rinder, zu fragil die Grasnarbe für die Hufe schwerer Tiere. Kaum wahrnehmbare Trittspuren lassen vermuten, dass hier bis von 30 oder 40 Jahren Ziegen oder Schafe im Hang geweidet hatten. Danach wurde der Hang sich selbst überlassen, es bildete sich – Urwald.

Begegnung mit scheuem Raubtier

Der Forstingenieur entdeckt «Stockausschläge» eines Bergahorns. Der Wurzelstock des Baumes ist vermodert, doch zuvor hat er ein paar Mal ausgetrieben. Der grösste Trieb ist gut zwei Meter lang, Äste hat er indes nur ein paar wenige gebildet. Dies, obwohl der Trieb bereits 20 Jahre alt ist.

Der BT-Fotograf ist vorausgeeilt, auch er ist neugierig auf diesen Urwald. Plötzlich bleibt er wie angewurzelt stehen, fuchtelt mit den Armen und ruft etwas unverständliches – er ist beinahe über einen Luchs gestolpert, der auf einer kleinen Lichtung ein Nickerchen gemacht hat. Der Luchs ergriff blitzartig die Flucht, für ein Bild fehlte die Zeit. Die Gämsen, die meist in diesem Hang weiden, sind ebenfalls verschwunden. Sie haben die Anwesenheit der grössten Raubkatze der Schweiz bemerkt.

Wohltäter Borkenkäfer

Auffallend viele Fichten ragen als silberne Skelette zum Himmel: Die Trockenheit im Hang setzt sie unter Stress; sie werden zur leichten Beute für den Borkenkäfer. Der Borkenkäfer, in der Waldwirtschaft ein gefürchteter Schädling, hat in der Natur eine wichtige Funktion: Weil die Bäume absterben, entstehen Lichtungen, die anderen Pflanzen Lebensraum bieten. Die vermodernden Bäume geben Feuchtigkeit ab, was die Keimlinge gedeihen lässt. Kurz – der Borkenkäfer verjüngt den Wald.

In der Übergangszone zwischen dem geschlossenen Wald und dem V-förmigen, baumlosen Steilhang, sind die Fichten 20 bis 50 Zentimeter hoch. «Krüppelfichten» mag Forstingenieur diese Überlebenskünstler nicht nennen, er spricht lieber von Bonsais. Das Alter einer Fichte, nur einen halben Meter lang, aber in stark die Breite gewachsen, schätzt Eduard Reusser auf ganze 60 Jahre. Der Jahrestrieb (oberster Trieb), ist nur knappe fünf Zentimeter lang. Zum Vergleich: An Bäumen im Seeland kann dieser Trieb innerhalb eines Jahres bis 60 Zentimeter wachsen. Bonsai-Format haben ebenfalls die sehr kurzen, dafür umso dichter wachsenden Nadeln. Diese Fichte wird nie zu einem hohen Baum heranwachsen. Auch in 20 Jahren wird sie ein Zwerg sein.

Wie aus Bäumen Alphörner werden

Auffallend ist, dass der Stamm vieler Bonsais wie ein Alphorn geformt ist: Im Winter drückt der Schnee die Bäumchen talwärts zu Boden. Sobald der Schnee schmilzt, richten sie sich mühsam wieder auf. Etwas über dem Boden verformt sich dadurch der Stamm, Eduard Reusser spricht von «Säbelwuchs».

Dass die Fichten hier in Gruppen wachsen, ist kein Zufall: Sie bilden kleine Kollektive und beschützen sich gegenseitig.

Wie die Waldgrenze entsteht

Es sind mehrere Faktoren, die im Steilhang das Wachstum der Bäume hemmen: Das Wasser ist knapp, weil es im Kalkboden versickert. Die Felsen an der Krete erodieren, deshalb ist der Hang mit Geröll übersäht. Zu schaffen macht den Bäumen weiter die Höhe. Und schliesslich bildet der Hang eine Kuhle: Der Schnee, getrieben vom Westwind, wird von sogenannten «Leewirbeln» in der Mulde abgeladen – während in der Mulde die Schneedecke eine beachtliche Dicke erreicht, liegen dort, wo der Wind den Schnee verbläst, meist nur wenige Zentimeter.

Zuoberst wird der Hang durch eine bis 50 Grad steile, mit Felsen durchsetzte Schrofe begrenzt. Hier haben Bäume überhaupt keine Chance mehr. All diese Widrigkeiten setzen dem Wald eine Grenze – eine echte Waldgrenze auf nur 1500 Meter über Meer.

Eduard Reusser setzt sich auf einen Stein, um den Steilhang in Ruhe zu geniessen – obwohl es in diesem Urwald an der Waldgrenze keine Arbeit für einen Forstingenieur gibt, nimmt ihn dieser urtümliche Ort gefangen.

Gleicher Wald und doch ein anderer

Reusser schweift in seinen Gedanken in eine unfassbar weit entfernte Vergangenheit zurück. Vor 400 Millionen Jahren entwickelten sich die ersten Schachtelhalmgewächse, sie dominierten während 300 Millionen Jahren. Vor 100 Millionen Jahren entstanden die «Bedecktsamen», Samen in einer Hülle – Blütenpflanzen wie Ulmen und Buchen übernahmen das Zepter.

In den tieferen Lagen wurde die Buche immer dominanter, an den trockenen Standorten bereitete sich die Eiche aus, Nadelbäume besetzten die höheren Lagen – es wuchs ein Wald, wie wir ihn bis heute kennen. Dennoch ist es nicht mehr derselbe. Vor 2,5 Millionen Jahren, erzählt der Forstingenieur, setzte eine Eiszeit ein, das Leben nördlich der Alpen erlosch. Die Eiszeit ging erst vor 12 000 Jahren zu Ende; Tiere und Pflanzen hatten in weit entfernten Nischen überlebt und eroberten das Terrain erneut. Erst Bäume wie die Weide, die Pappel und die Hasel, die Flugsamen produzieren. Später folgten schwersamige Bäume wie Tannen und Fichten.

Eine seltsame Gemeinschaft

Eduard Reusser lässt seinen Blick wandern, begeistert ob der wechselnden Landschaften: In der Ferne die Alpen, davor das Mittelland, das Plâteau de Diesse und auf kleinstem Raum eine Wytweide, ein Urwald und eine Waldgrenze.

Obwohl er lediglich einen knappen Quadratkilometer erforscht, entdeckt Reusser weitere ökologische Nischen. Dies sei eine erstaunliche Vielfalt, sagt er angesichts einer kleinen Heidelbeer-Fichtengemeinschaft: Die Heidelbeeren bilden ein dickes Polster unter der Fichte. Nebenan beginnt die etwa 500 Meter lange Geröllhalde unterhalb der Felsen von Les Roches. Das Geröll ist durchzogen von Wildwechseln, angelegt von Gämsen. Eine lebensfeindliche Zone, und dennoch haben es zwei Bergahorn-Bäume geschafft, sich darauf zu entfalten. Blätter tragen sie noch keine. Im Herbst hingegen, wenn die Vegetationsphase sich dem Ende zuneigt, werden ihr oranges und roten Laub auf der weisslichen Geröllhalde leuchten wie Feuer.

Walddossier unter:
 www.bielertagblatt.ch/wald

Stichwörter: Seeland, Wald, Chasseral

Kommentare

Biennensis

Die gute Frau Teuscher und der schöne Chasseral mit seinem etwas "rauhen" Charakter gehören ganz einfach zusammen!


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