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Ausgewandert

Über Zeitanarchisten und Albträumer

Kennen Sie den Albtraum, in dem Sie zu einem wichtigen Ereignis zu spät kommen, weil Sie den Wecker überhört, den Weg nicht gefunden oder sich in der Uhrzeit vertan haben?

Dana BurkhardSängerin 
in London
  • Dossier

Vor jedem neuen Schulstart, jedem Bewerbungsgespräch und jeder frühmorgendlichen Reise sind das die Träume, die mich – bis zu meinem Wecker, der natürlich pünktlich klingelt – wachhalten.

Als ich bemerkte, dass dieses Phänomen, diese schreckliche Angst vor Unpünktlichkeit, keineswegs universell ist, sah ich mich quasi dazu verpflichtet, jenem grundlegenden Unterschied in der allgemeinen Albträumerei nachzugehen. In Form einer definitiv amateurhaften, aber erstaunlich umfassenden Studie interviewte ich zahlreiche Menschen in meinem Londoner Umfeld. Sie alle kannten den Traum, in dem sie mitten in der Öffentlichkeit realisieren, dass sie vergessen haben, sich zu kleiden. Interessanterweise konnten sie aber meine Schilderung des schweizweit bekannten Zuspätkomm-Traumes komplett nicht nachvollziehen.

Ich bin mir bewusst, dass ich weder im Bereich der empirischen Studien noch der Traumdeutung genug Erfahrung habe, um an dieser Stelle ein finales Statement über das unterschiedliche Empfinden der Zeit bei Schweizern und Briten abzugeben. Dennoch fühle ich mich dazu verpflichtet, Ihnen, für den Fall, dass Sie jemals den Schritt auf die Insel rüberwagen, Folgendes mit auf den Weg zu geben: Die Briten sind Zeitanarchisten. Sie beugen sich keinen vorgegebenen Abmachungen. Niemals.

Wenn Sie sich mit Ihren Schweizer Freunden verabreden, dann bestimmen Sie doch Zeit, Ort und dann kreuzen beide einfach dann dort auf, oder? Dieser Gedanke ist hier drüben unvorstellbar. Hier geht jedes potenzielle Treffen durch mindestens fünf Phasen der beidseitigen Spezifizierung und Bestätigung. Die erste Euphorie von «Komm wir machen mal was», die mögliche darauf folgende Konkretisierung des Datums eine Woche zuvor, dann die Festlegung von Zeit und Ort am Tag zuvor, die «Also-heute-Abend-gell?»-Absicherung einige Stunden zuvor und dann die «Ich-bin-auf-dem-Weg-und-du?»-Bestätigung. Wenn all diese mühseligen Schritte erfolgreich beidseitig über die Bühne gegangen sind, findet das Treffen höchstwahrscheinlich statt. Aber auch dann mindestens 15 Minuten zu spät.

Falls Sie also jemals hier rüber kommen; lassen Sie Ihre Schweizer Uhr zuhause und treffen Sie Leute nur spontan. Trust me.

Angenommen Sie haben in London dafür mal ein Vorstellungsgespräch, dann können Sie zumindest den Zuspätkomm-Traum getrost unterlassen. Denn sogar wenn Sie wirklich verschlafen sollten, der Chef wird vermutlich immer noch nach Ihnen im Büro aufkreuzen ...

 

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