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Fahrende

«Viele Vorurteile haben einen rassistischen Hintergrund»

Der Historiker Thomas Huonker untersucht seit 30 Jahren die Geschichte der Fahrenden. Er erklärt, wie Sinti, Roma und Jenische ihren Lebensunterhalt bestreiten und zeigt, wie den Roma in Witzwil Unrecht widerfuhr.

Der promovierte Historiker Thomas Huonker plädiert dafür, Vorurteile zu überwinden und den Fahrenden das Recht zuzugestehen, ihre nomadische Kultur zu leben. Copyright / Peter Staub / Bieler Tagblatt

Interview: Peter Staub

Thomas Huonker, Albert Einstein hat gesagt, dass es einfacher sei, einen Atomkern zu spalten, als Vorurteile zu widerlegen. Wie sehen Sie das als Forscher über die Fahrenden?
Thomas Huonker: Leider trifft dieser Satz des grossen Physikers Einstein tatsächlich zu. Das zeigt sich daran, das uralte Muster über Jahrhunderte hängen bleiben. Eines dieser uralten Muster ist, wie in der Schweiz mit Roma, mit Fahrenden umgegangen wird. Dieses müsste endlich zerstört werden.

Sie haben in einem Forschungsprojekt gearbeitet, das für mehr Anerkennung der Fahrenden in der Schweiz sorgen sollte. Es sah lange so aus, als sei dies gelungen. In letzter Zeit kriegten aber wieder vermehrt Vorurteile die Oberhand. Oder täuscht dieser Eindruck?
Es gibt verschiedene Ebenen. Auf Bundesebene sind Bestrebungen im Gang, all die verschiedenen Gruppen der Jenischen, Sinti und Roma als nationale Minderheiten zu anerkennen. Das entspricht unserem Staatsmodell, das stolz darauf ist, Minderheiten so zu anerkennen, dass diese ihre Rechte haben und ihre Kultur so leben können, wie es ihnen entspricht. Ich hoffe, dass demnächst in der Verfassung stehen wird, dass Roma, Sinti und Jenische anerkannte Minderheiten sind, die seit Jahrhunderten in der Schweiz leben und damit auch die entsprechenden Rechte haben.

Wie sieht es auf den anderen Ebenen aus?
Bei den Gemeinden ist das Bild sehr unterschiedlich. Einige pflegen vorbildlichen Umgang mit diesen Gruppen und sind auch stolz darauf, dass sie ihnen einen schönen Platz anbieten.

Zum Beispiel?
In Graubünden gibt es diverse solcher Gemeinden. In Domat/Ems etwa gibt es einen Transitplatz, in anderen Gemeinden Plätze für Jenische. Seit diese eingerichtet wurden, funktionieren sie reibungslos. Oder zumindest nur mit normalen Reibungen, die überall entstehen, wo sich Menschen treffen. Wenn man die Grundhaltung hat, dass die Fahrenden Leute sind, wie wir auch, die ein Recht darauf haben, ihre Kultur zu leben, findet man immer Lösungen.

Obwohl die Jenischen als nationale Minderheit anerkannt sind, fehlen schweizweit etwa 30 Standplätze für sie. Haben auch ausländische Fahrende ein Recht auf Transitplätze?
Die Anerkennung der Roma muss sich auch auf die zahlreichen Roma in der Schweiz erstrecken. Zirka 100 000 von ihnen leben hier sesshaft. Sie kamen aus dem damaligen Jugoslawien als Gastarbeiter oder später als Flüchtlinge. Diese Roma leben und arbeiten seit Jahrzehnten unauffällig in verschiedenen Berufen. Das ist den meisten Schweizern nicht bewusst. Auch weil sie ihre Identität verstecken. Denn sobald sie sagen, dass sie Roma sind, heisst es: ‹Aha, ihr gehört zu diesen schrecklichen Menschen.› Dann müssen sie damit rechnen, im Beruf ernsthafte Schwierigkeiten zu kriegen. Es ist wichtig, dass dieRoma in der Schweiz zu ihrer Identität stehen können.

Warum organisieren sie sich nicht?
Genau aus diesem Grund: Wenn einer hinsteht, und sagt, er sei Roma, kriegt er Probleme. Es ist unglaublich, dass eine so grosse Gruppe ihre Identität verstecken muss, nur weil es das Vorurteil gibt, Roma seien andersartig und passten nicht hierher.

Wie sieht es mit ausländischen Fahrenden aus?
Ähnlich, wenn auch rechtlich nicht genau gleich. Die Schweiz hat als Land schon immer von Fremden profitiert. Kulturell hat uns die Offenheit gegenüber dem Ausland weitergebracht. Obwohl die ausländischen Fahrenden hier einkaufen und arbeiten, haben sie einen anderen Status als Touristen. Dabei sollten wir sie würdig empfangen und ihnen gegen Bezahlung Plätze zur Verfügung stellen, die so eingerichtet sind, dass sie sich dort aufhalten können.

Der Bedarf nach solchen Plätzen ist unbestritten. Aber bei konkreten Plänen gibt es Widerstand. Nächste Woche entscheidet der Grosse Rat über einen Kredit für einen Transitplatz der 10 Millionen Franken kosten soll.
Das ist tatsächlich ein Problem. In der Schweiz neigen wir im Baugewerbe zum Perfektionismus. Das macht Projekte auch für Transitplätze sehr teuer. Für die Fahrenden ist das doppelt negativ. Erstens ist es schwieriger, einen Platz zu realisieren. Und zweitens müssen sie dann sehr hohe Gebühren zahlen. Dahinter versteckt sich oft auch eine Abschreckung: Indem man die Plätze so teuer plant, provoziert man bewusst Widerstand. Fakt ist, dass die Fahrenden mit einem simplen Kiesplatz mit den nötigen sanitären Anschlüssen sehr zufrieden wären. Das muss nicht alle Welt kosten.

Während der Bedarf an Plätzen an sich unbestritten ist, versuchen gleichzeitig immer mehr Gemeinden, Fahrende fernzuhalten.
Es ist eine durchschaubare Taktik, theoretisch «Ja» zu sagen, konkrete Projekte aber zu verhindern. Das gibt es auch bei anderen Themen. Aber bei den Fahrenden ist es tatsächlich so, dass die grundsätzliche Akzeptanz eben doch fehlt. Viele mögen sogenannte Zigeunermusik oder lieben die entsprechende Opern-Romantik, insofern ist es nicht eine generelle Ablehnung, aber oft werden die Fahrenden nicht als normale Mitmenschen anerkannt. Dahinter steht, man muss es leider sagen, eine rassistische Abwehrhaltung, die auf uralten Vorurteilen gründet. Die Schweiz nimmt hier eine üble Sonderstellung ein. In anderen Ländern ist es längst akzeptiert, dass auch Roma zur Bevölkerung gehören, allerdings werden sie in manchen Ländern trotzdem diskriminiert.

Sie haben den Rassismus erwähnt. Ulrich Wille Junior, einer der Gründer des als Hilfswerk getarnten Programms der Pro Juventute «Kinder der Landstrasse» war ein Nazisympathisant. Wird die rassistische Tradition des Antiziganismus zuwenig hinterfragt?
Die Opfer dieses Rassismus’ und Forscher wie ich haben das immer wieder thematisiert. Wille war tatsächlich ein Förderer der Nazis und Freund von Adolf Hitler. Die Nationalsozialisten hatten zum Beispiel in Person von Robert Ritter einen Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, diesen Rassismus im Holocaust, der auch Roma, Sinti und Jenische betraf, tödlich umzusetzen. Ritter berief sich dabei auch auf den Schweizer Psychiater Josef Jörger.

Die Ablehnung der Fahrenden wird bei uns selten offen rassistisch begründet. Man sagt eher, das Nomadentum sei nicht mehr zeitgemäss.
Dieses Argument ist völlig unhaltbar. Im Gegenteil, die moderne Gesellschaft bringt neue Gruppen von Nomaden hervor. Zum Beispiel die Ex-Pats, die professionellen Nomaden, die auf der ganzen Welt arbeiten. Oder die Geriatric Gypsies, wie sich australische Rentner nennen, die mit ihren Wohnmobilen unterwegs sind. Dieses Phänomen gibt es auch in Europa oder  in den USA. Heute ist das nomadische Leben dank der Technik sehr konfortabel. Das ist relativ neu. Es ist also eine flexible, moderne Lebensweise.

Zu den kolportierten Vorurteilen gehört, dass Fahrende überdurchschnittlich kriminell seien.
So etwas einzelnen Völkern oder Volksgruppen zuzuordnen, ist rassistischesDenken. Dieses wird von Statistiken widerlegt. Wenn man solche beiziehen will, dann muss man sagen, dass Roma bezüglich Gewaltverbrechen oder schweren Verbrechen sogar deutlich weniger kriminell sind als derDurchschnitt der Bevölkerung.

Ein anderes wiederkehrendes Thema ist, dass Roma keine Toiletten benützen würden.
Der Umgang mit der Natur und dem Kreislauf der Natur ist in vielen Kulturen verbesserungsfähig. Ob unsere Gewohnheit, Fäkalien in Gewässern zu entsorgen, die beste ist, sei dahingestellt. Es ist tatsächlich so, dass es bei einigen Gruppen von fahrenden Roma das Tabu gibt, dass Toiletten geschlechtergetrennt und von anderen unbenutzt sein müssen. Diese Roma sind sehr reinlich. Deshalb suchen sie sich manchmal im Wald oder in einem Maisfeld einen Platz, um ihr Geschäft zu verrichten. Es gibt aber sehr viele Roma, die Toiletten benutzen.

Eine andere Frage, die immer wieder auftaucht: Wie verdienen die Fahrenden ihr Geld?
Die Fahrenden arbeiten relativ hart, kreativ und findig, um mit ihrer Lebensweise auf selbstständige Art ihre Familien durchbringen können.

Früher betrieben sie Altmetallhandel oder haben Scheren geschliffen. Und heute?
Der Altmetallhandel oder die Entsorgung im Allgemeinen findet weiterhin statt. Sinti, Roma und Jenische sind im Recycling sehr wichtig, das schont die Umwelt. Und da machen sie sich auch die Hände dreckig, das ist kein bequemer Bürojob. Das Schleifen von spezialisierten Werkzeugen oder der Handel, das Hausieren, sind ebenfalls beliebt. Übrigens auch bei der sesshaften Kundschaft. Neu sind handwerkliche Angebote im Renovationsbereich dazugekommen, wie Fensterläden streichen oder kleinere Dachdeckerarbeiten. Also diese eher lästigen Reparaturen, welche die grossen Bauunternehmen lieber nicht mehr machen wollen, über die man als Hausbesitzer aber froh ist, wenn jemand sie macht.  

Französische Fahrende haben kürzlich in Gampelen auf einem Gelände der Anstalten Witzwil Halt gemacht. Sie haben die Geschichte Witzwils mit ausländischen Fahrenden studiert.
Der Anstaltenkomplex Witzwil, St. Johannsen und Bellechasse entstand mit der Gewässerkorrektion im 19. Jahrhundert, um das Grosse Moos zwischen den drei Seen urbar zu machen. Dafür brauchte es Arbeiter. Diese beschaffte man sich durch das System der administrativen Versorgung, mit dem Menschen zur Zwangsarbeit verdammt wurden. Ab 1911 waren ein Teil dieser Häftlinge sogenannte Zigeuner, wie sie damals bezeichnet wurden. Das waren ausländische Sinti, Roma und Jenische, die erkannt wurden, weil sie mit Ross und Wagen unterwegs waren.

Das heisst, die Leute wurden in Witzwil ins Gefängnis gesteckt, bloss weil sie Fahrende waren?
Ja, das war die offizielle Devise. Seit 1888 bestand für Fahrende ein Einreiseverbot in die Schweiz. Deshalb kamen sie über die grüne Grenze. Und wenn sie der Polizei auffielen, wurden die Männer der Fahrenden zwecks Identifizierung in Witzwil eingesperrt, wo sie dann monatelang oder jahrelang Zwangsarbeit leisten mussten. Die Frauen und Kinder wurden in Heime gesteckt. Die Identifizierung wurde damit begründet, so habe man das polizeiliche Zigeunerregister genau nachführen können. Das Manöver wurde vor allem inszeniert, um die Fahrenden davor abzuschrecken, in die Schweiz einzureisen.

Das heisst, es gab gar kein Gerichtsverfahren?
Das war auch bei den administrativ versorgten Schweizern der Fall, auch diese wurden ohne Gerichtsverfahren versorgt. Bei den Roma, Sinti und Jenischen sprach man von einer ‹Identifikationshaft›. Dazu brauchte es nicht einmal eine Verfügung, die sie hätten anfechten können. Für die Fahrenden war besonders schlimm, dass so ihre Familien auseinandergerissen wurden, die teilweise nie mehr zusammenfanden.

Was müsste aus Ihrer Sicht passieren, dass es für Schweizer und ausländische Fahrende endlich mehr Stand- und Transitplätze gibt?
Wir müssen damit aufhören, dass diese Menschen zwar theoretisch respektiert werden, diese Haltung dann aber von Gemeinden oder Kantonen sabotiert wird.  Fahrende haben wie alle Menschen ein Lebens- und Existenzrecht. Alles andere ist Ausgrenzung, Vertreibung und Rassismus. Und es braucht Lösungen, die kostengünstig und pragmatisch sind. Die Fahrenden sind nicht anspruchsvoll und nutzen auch Plätze an wenig idyllischer Lage.

Zur Person
Geboren 1954 in Zürich, lebt und arbeitet als unabhängiger Historiker in Zürich.
Studierte Geschichte, Germanistik und Ethnologie an den Universitäten Zürich und Genf, promovierte 1982 an der Universität Zürich zum Dr. phil.
Verheiratet mit der Pfarrerin Renata Huonker, drei erwachsene Kinder.
Publikationen u.a.: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt, Limmat, 1987. Mit Regula Ludi Roma, Sinti, Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus, Chronos 2001.
War unter anderem Mitglied des Runden Tischs für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Projektleiter Historische Aufarbeitung der Kinderheime in der Schweiz.

Kommentare

wernerwalter

...diä glismete Socke und Heilandsandale sprechen für sich!!!


Georges

Bevor über Vorurteile und rassistischen Hintergründen geredet wird, ist es angebracht über Tatsachen und Fakten zu reden. Was ich immer und immer in den Zeitungsberichten lese, wenn Fahrende in unserer Gegend sich niederlassen, sind Berichte über die Schäden und den Dreck den sie hinterlassen. Ich glaube, wenn die Fahrenden, besonders die vom Ausland, sich korrekt und respektvoll benehmen würden, wäre der grösste Teil vom Unbehagen, den sie verursachen vom Tisch. Reine Sache des Goodwills der Fahrenden.


urskau

Die Ausführungen des Historikers klingen wie ein Märchen. Für Leute mit Wohnwagen gibt es überall Campingplätze. Der Rest ist ihr Problem.


Biennensis

Sind Realisten Rassisten? Der Historiker versucht alles schön zu reden und zu bagatellisieren, bzw. die Schuld bei Dritten zu suchen. Der Mann auf dem Foto ist mehr Schein als Sein. (Meine Meinung zum Thema)


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